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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.08.1995
Aktenzeichen: C-16/94
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 9
EWG-Vertrag Art. 12
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 9 und 12 des Vertrages, die die Erhebung von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung im innergemeinschaftlichen Handel verbieten, sind dahin auszulegen, daß sie auf eine "Durchfahrtsgebühr" anwendbar sind, die dem Ausgleich der Übernahme von Kosten, die sich aus der Erfuellung öffentlicher Aufgaben durch die Zoll- und veterinärmedizinischen Dienststellen ergeben, durch ein Privatunternehmen dient, auch wenn die Gebühr nicht vom Staat eingeführt wurde, sondern auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen diesem Privatunternehmen und seinen Kunden beruht.

Diese Artikel verpflichten nämlich die Mitgliedstaaten, die Kosten der Kontrollen und Förmlichkeiten zu übernehmen, die wegen des Überschreitens der Grenzen vorgenommen werden, und verbieten es daher, daß anläßlich des innergemeinschaftlichen Handels die Kosten der von den Zollstellen vorgenommenen Kontrollen und Verwaltungsformalitäten aufgrund einer einseitigen Handlung der Behörde oder über eine Reihe privatrechtlicher Vereinbarungen den Wirtschaftsteilnehmern auferlegt werden, da nur die Erhebungen erlaubt sind, die das Entgelt für einen dem Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich und individuell geleisteten Dienst darstellen. Dies ist jedoch bei einer Abgabe nicht der Fall, die allgemein alle Fahrzeuge im internationalen Transitverkehr erfasst, deren Ladung auf dem Gelände eines Umschlagplatzes zollamtlich abgefertigt wird, und die den Wirtschaftsteilnehmern im Rahmen der Durchführung der Zollverfahren keine anderen Vorteile verschafft als die, die sich aus der mit den Verordnungen Nrn. 542/69 und 222/77 im Interesse des Gemeinsamen Marktes eingeführten Regelung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens selbst ergeben.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 11. AUGUST 1995. - EDOUARD DUBOIS ET FILS SA UND GENERAL CARGO SERVICES SA GEGEN GARONOR EXPLOITATION SA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - FRANKREICH. - IN EINER PRIVATRECHTLICHEN VEREINBARUNG VORGESEHENE DURCHFAHRTSGEBUEHR - ABGABE GLEICHER WIRKUNG. - RECHTSSACHE C-16/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die französische Cour de cassation hat mit Urteil vom 4. Januar 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Januar 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 9, 12, 13 und 16 EWG-Vertrag, nunmehr EG-Vertrag, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Garonor exploitation SA (im folgenden: Garonor), der Betreiberin eines internationalen Umschlagplatzes für den Güterkraftverkehr, einerseits und der Édouard Dubois et fils SA und der Général cargo services SA (im folgenden: Dubois und Cargo), zwei Benutzern dieses Umschlagplatzes, andererseits wegen der Nichtzahlung einer vertraglich vereinbarten sogenannten "Durchfahrtsgebühr" durch Dubois und Cargo.

3 Garonor ist eine Privatgesellschaft, die in Aulnay-sous-Bois, am Stadtrand von Paris, einen internationalen Umschlagplatz für den Güterkraftverkehr betreibt, an dem sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche Dienstleistungen, die für den Güterkraftverkehr erforderlich sind, erbracht werden. Dort sind u. a. Zolldienststellen untergebracht, bei denen alle die Zollabfertigungsvorgänge durchgeführt werden können, die gewöhnlich an den Staatsgrenzen vorgenommen werden.

4 Dubois und Cargo sind zollamtlich zugelassene Speditionsunternehmen. Sie besorgen den Transport der Waren auf eigene Verantwortung und in eigenem Namen für Rechnung ihrer Kunden und übernehmen u. a. die Erfuellung der Zollförmlichkeiten. Zur Ausübung dieser Tätigkeiten haben sie von Garonor Büroräume und sanitäre Anlagen gemietet und benutzen die Laderampen des Umschlagplatzes für den Strassen- und Schienentransport.

5 Von Anfang an haben Dubois und Cargo an Garonor neben einer Miete eine pauschale "Durchfahrtsgebühr" ("taxe de passage") für jedes Fahrzeug im internationalen Transitverkehr gezahlt, das in ihre Gebäude einfährt oder sie verlässt und Zollabfertigungsvorgänge am Umschlagplatz durchführt. Diese "Durchfahrtsgebühr", deren Berechnung auf der Grundlage der monatlichen Angaben der Spediteure erfolgt, ist in den Allgemeinen Bedingungen von Garonor vorgesehen.

6 1984 verweigerten Dubois und Cargo die Zahlung dieser Gebühr unter Hinweis darauf, daß damit die Kosten gedeckt würden, die Garonor durch den Bau und die Unterhaltung eines von den Zolldienststellen benutzten TIR-Parkplatzes entstuenden. Da diese Dienststellen seit Anfang 1981 bereit seien, die Abfertigungsvorgänge in den alleingenutzten Räumen der Speditionsunternehmen vorzunehmen, habe die "Durchfahrtsgebühr" ihre Berechtigung verloren.

7 Am 10. Mai 1988 erhob Garonor vor dem Tribunal de commerce Paris Klage gegen Dubois und Cargo. Dieses Gericht bestellte einen Sachverständigen, insbesondere um die Allgemeinen Bedingungen von Garonor für die "Durchfahrtsgebühr" im Hinblick auf die bei anderen Umschlagplätzen für den Güterkraftverkehr festgestellten Bräuche zu überprüfen. Der Sachverständige stellte fest, daß derartige Gebühren von allen vor der Gründung von Garonor errichteten Umschlagplätzen eingeführt worden seien und daß sie eine übliche Art der Finanzierung der anderweitig nicht gedeckten Unkosten und Auslagen darstellten. Mit Urteil vom 12. Juni 1990 entschied das Tribunal de commerce Paris, daß Dubois und Cargo die "Durchfahrtsgebühr" schuldeten, und verurteilte sie zur Zahlung der Gebührenrückstände sowie zum Schadensersatz.

8 Mit Urteil vom 27. Juni 1991 bestätigte die Cour d' appel Paris dieses Urteil und erhöhte noch die Urteilsbeträge. Daraufhin legten Dubois und Cargo Kassationsbeschwerde ein, für die sie sich nur auf Gründe, die dem nationalen Recht entnommen waren, stützten.

9 Die französische Cour de cassation erwägt, einen Beschwerdegrund von Amts wegen zu berücksichtigen, der auf einen Verstoß gegen die Artikel 9, 12, 13 und 16 EG-Vertrag gestützt ist. Sie führt aus, daß "mit Ausnahme der Kosten für die Unterhaltung eines Parkplatzes... die streitige 'Gebühr' dem Ausgleich der von der SA Garonor exploitation übernommenen Kosten [dient], die sich aus der Erfuellung öffentlicher Aufgaben durch die Zoll- und veterinärmedizinischen Dienststellen ergeben", und fragt sich, ob diese "Gebühr" eine Abgabe gleicher Wirkung im Sinne dieser Bestimmungen darstellt.

10 Unter Hinweis darauf, daß sich der Gerichtshof bisher noch nicht zu dem Fall geäussert habe, daß die finanzielle Belastung nicht vom Staat oder von einer staatlichen Stelle auferlegt worden sei, sondern sich aus einer Vereinbarung zwischen Privatleuten ergebe, hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

Sind die Artikel 9, 12, 13 und 16 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf eine "Durchfahrtsgebühr" anwendbar, die dem Ausgleich der Übernahme von Kosten, die sich aus der Erfuellung öffentlicher Aufgaben durch die Zoll- und veterinärmedizinischen Dienststellen ergeben, durch ein Privatunternehmen dient und die nicht vom Staat eingeführt wurde, sondern auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen diesem Privatunternehmen und seinen Kunden beruht?

11 Zunächst ist zum einen festzustellen, daß die vom vorlegenden Gericht genannten Bestimmungen nur aus den Mitgliedstaaten stammende Waren und solche Waren aus dritten Ländern betreffen, die sich bereits im freien Verkehr befinden.

12 Da zum anderen die Ereignisse des Ausgangsrechtsstreits nach dem Ablauf der Übergangszeit stattgefunden haben, braucht die Frage des vorlegenden Gerichts nur unter dem Gesichtspunkt der Artikel 9 und 12 des Vertrages geprüft zu werden.

13 Aus dem Vorlageurteil geht hervor, daß ein beträchtlicher Teil der streitigen Gebühr der Deckung von Kosten dient, die sich aus der Erfuellung öffentlicher Aufgaben durch die Zoll- und veterinärmedizinischen Dienststellen ergeben.

14 Nach den Artikeln 9 und 12 des Vertrages sind jedoch die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Kosten der Kontrollen und Förmlichkeiten zu übernehmen, die wegen des Überschreitens der Grenzen vorgenommen werden. So hat der Gerichtshof entschieden, daß die durch gesundheitspolizeiliche Kontrollen entstehenden Kosten von der Allgemeinheit zu tragen sind, da diese insgesamt vom freien Warenverkehr in der Gemeinschaft profitiert (Urteil vom 5. Februar 1976 in der Rechtssache 87/75, Bresciani, Slg. 1976, 129, Randnr. 10).

15 Zwar fällt nach ständiger Rechtsprechung eine Belastung, die den Waren wegen des Überschreitens der Grenze auferlegt wird, dann nicht unter die Artikel 9 und 12 des Vertrages, wenn sie das dem Betrag nach angemessene Entgelt für einen dem Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich und individuell geleisteten Dienst darstellt (vgl. Urteil vom 26. Februar 1975 in der Rechtssache 63/74, Cadsky, Slg. 1975, 281).

16 Nichts lässt jedoch die Annahme zu, daß die streitige Gebühr diese Bedingungen erfuellt.

17 Sie erfasst nämlich allgemein alle Fahrzeuge im internationalen Transitverkehr, deren Ladung auf dem Gelände des Umschlagplatzes zollamtlich abgefertigt wird.

18 Ausserdem hängen, selbst wenn die Durchführung der Zollverfahren im Landesinneren den Wirtschaftsteilnehmern gewisse Vorteile verschafft, diese Vorteile mit den Zollförmlichkeiten zusammen, die unabhängig vom Ort ihrer Vornahme stets obligatorisch sind. Im übrigen ergeben sich diese Vorteile aus der Regelung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens, das durch die Verordnungen (EWG) Nrn. 542/69 und 222/77 des Rates vom 18. März 1969 (ABl. L 77, S. 1) und vom 13. Dezember 1976 (ABl. L 38, S. 1) zu dem Zweck eingeführt wurde, die Warenbeförderung fluessiger zu gestalten und die Beförderung innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern. Daher kann es nicht angehen, daß Verzollungserleichterungen, die im Interesse des Gemeinsamen Marktes gewährt werden, mit irgendwelchen Abgaben belegt werden (vgl. Urteile vom 17. Mai 1983 in der Rechtssache 132/82, Kommission/Belgien, Slg. 1983, 1649, Randnr. 13, und in der Rechtssache 133/82, Kommission/Luxemburg, Slg. 1983, 1669, Randnr. 14).

19 Unter diesen Umständen verstösst ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 9 und 12 des Vertrages, wenn er anläßlich des innergemeinschaftlichen Handels die Kosten der von den Zollstellen vorgenommenen Kontrollen und Verwaltungsformalitäten den Wirtschaftsteilnehmern auferlegt (vgl. Urteil vom 30. Mai 1989 in der Rechtssache 340/87, Kommission/Italien, Slg. 1989, 1483, Randnr. 17).

20 Hierbei kommt es nicht auf die Art der Handlung an, mit der ein Teil der Kosten für die Tätigkeit der Zolldienststellen einem Wirtschaftsteilnehmer auferlegt wird. Unabhängig davon, ob die finanzielle Belastung den Wirtschaftsteilnehmer aufgrund einer einseitigen Handlung der Behörde oder aber über eine Reihe privatrechtlicher Vereinbarungen trifft, wie dies im Ausgangsverfahren der Fall ist, sie ergibt sich stets ° unmittelbar oder mittelbar ° aus dem Verstoß des betreffenden Mitgliedstaats gegen seine finanziellen Verpflichtungen aus den Artikeln 9 und 12 des Vertrages.

21 Aufgrund dieser Erwägungen ist auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß die Artikel 9 und 12 EG-Vertrag auf eine "Durchfahrtsgebühr" anwendbar sind, die dem Ausgleich der Übernahme von Kosten, die sich aus der Erfuellung öffentlicher Aufgaben durch die Zoll- und veterinärmedizinischen Dienststellen ergeben, durch ein Privatunternehmen dient, auch wenn die Gebühr nicht vom Staat eingeführt wurde, sondern auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen diesem Privatunternehmen und seinen Kunden beruht.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm von der französischen Cour de cassation mit Urteil vom 4. Januar 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Artikel 9 und 12 EG-Vertrag sind auf eine "Durchfahrtsgebühr" anwendbar, die dem Ausgleich der Übernahme von Kosten, die sich aus der Erfuellung öffentlicher Aufgaben durch die Zoll- und veterinärmedizinischen Dienststellen ergeben, durch ein Privatunternehmen dient, auch wenn die Gebühr nicht vom Staat eingeführt wurde, sondern auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen diesem Privatunternehmen und seinen Kunden beruht.

Ende der Entscheidung

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