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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.05.2008
Aktenzeichen: C-162/07
Rechtsgebiete: Sechste Richtlinie 77/388/EWG


Vorschriften:

Sechste Richtlinie 77/388/EWG Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

22. Mai 2008

"Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Steuerpflichtige - Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 - Mutter- und Tochtergesellschaften - Umsetzung der Regelung über einen einzigen Steuerpflichtigen durch den Mitgliedstaat - Voraussetzungen - Folgen"

Parteien:

In der Rechtssache C-162/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 30. November 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 26. März 2007, in dem Verfahren

Ampliscientifica Srl,

Amplifin SpA

gegen

Ministero dell'Economia e delle Finanze,

Agenzia delle Entrate

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas, der Richter U. Lõhmus und A. Ó Caoimh, der Richterin P. Lindh sowie des Richters A. Arabadjiev (Berichterstatter),

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Januar 2008,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der Ampliscientifica Srl und der Amplifin SpA, vertreten durch M. Garavoglia, avvocato,

- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,

- der zyprischen Regierung, vertreten durch E. Syméonidou als Bevollmächtigte,

- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Gibbs als Bevollmächtigte im Beistand von I. Hutton, Barrister,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A. Aresu und M. Afonso als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Ampliscientifica Srl (im Folgenden: Ampliscientifica) und der Amplifin SpA (im Folgenden: Amplifin) auf der einen und dem Ministero dell'Economia e delle Finanze und der Agenzia delle Entrate auf der anderen Seite über eine Mehrwertsteuernachforderung gegenüber Amplifin für die Jahre 1990 und 1991.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsregelung

3 Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie lautet:

"Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis."

4 Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie bestimmt:

"Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln."

5 Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie sieht Folgendes vor:

"Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhüten. Die Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung dürfen den Betrag der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen."

6 Mit Art. 29 der Sechsten Richtlinie wird ein Beratender Ausschuss für die Mehrwertsteuer eingesetzt.

Nationales Recht

Das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 633

7 Art. 73 Abs. 3 des Dekrets Nr. 633 des Präsidenten der Republik vom 26. Oktober 1972 zur Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer (Supplemento ordinario zu GURI Nr. 292 vom 11. November 1972) in der durch das Dekret Nr. 24 des Präsidenten der Republik vom 29. Januar 1979 (GURI Nr. 30 vom 31. Januar 1979) geänderten Fassung bestimmt:

"Der Finanzminister kann durch Dekret, in dem er die entsprechenden Modalitäten festlegt, bestimmen, dass die Erklärungen der Tochtergesellschaften von dem Mutterunternehmen oder der Muttergesellschaft bei der für den eigenen Steuersitz zuständigen Behörde abgegeben werden und die ... Zahlungen für den von dem Mutterunternehmen oder der Muttergesellschaft und den Tochtergesellschaften nach Abzug der Vorsteuer insgesamt geschuldeten Betrag an diese Behörde erfolgen. Die ebenfalls von dem Mutterunternehmen oder der Muttergesellschaft unterzeichneten Erklärungen müssen auch bei den für den Steuersitz der Tochtergesellschaften zuständigen Behörden eingereicht werden, unbeschadet der sonstigen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten dieser Gesellschaften. Als Tochtergesellschaft gilt eine Gesellschaft, deren Aktien oder Anteile seit Beginn des vorangegangenen Kalenderjahrs zu mehr als 50 % von einer anderen Gesellschaft gehalten werden."

Das Ministerialdekret vom 13. Dezember 1979

8 Von der in dem genannten Art. 73 Abs. 3 vorgesehenen Möglichkeit wurde mit Ministerialdekret vom 13. Dezember 1979 zur Regelung der Zahlungen und der Erklärungen von Tochtergesellschaften im Bereich der Mehrwertsteuer (GURI Nr. 344 vom 19. Dezember 1979) in der durch das Ministerialdekret vom 18. Dezember 1989 (GURI Nr. 301 vom 28. Dezember 1989) geänderten Fassung (im Folgenden: Dekret von 1979) Gebrauch gemacht. Das Dekret von 1979 regelt und erleichtert die Modalitäten für Zahlungen und Erklärungen von Mutter- und Tochtergesellschaften dahin gehend, dass die Muttergesellschaft innerhalb bestimmter Grenzen im Namen ihrer Tochtergesellschaft oder Tochtergesellschaften handeln kann.

9 Nach Art. 2 des Dekrets von 1979 "gilt als Tochtergesellschaft nur eine [Gesellschaft], deren Aktien oder Anteile zu mehr als 50 % ihres Kapitals seit Beginn des vorangegangenen Kalenderjahrs von dem Mutterunternehmen oder der Muttergesellschaft oder einer anderen Gesellschaft, die selbst deren Tochtergesellschaft im Sinne dieses Artikels ist, gehalten werden".

10 Art. 3 des Dekrets von 1979 bestimmt, dass aus der Erklärung der Muttergesellschaft, "die auch von den Vertretern der Tochtergesellschaft unterzeichnet ist, ... die Mehrwertsteuernummer der Tochtergesellschaften sowie die für jede dieser Gesellschaften zuständige Mehrwertsteuerbehörde hervorgehen müssen".

11 Art. 5 Abs. 1 des Dekrets von 1979 sieht vor:

"Das Mutterunternehmen oder die Muttergesellschaft, das oder die von der in diesem Dekret vorgesehenen Befugnis Gebrauch macht, hat der für ihren Steuersitz zuständigen Mehrwertsteuerbehörde auch die jährlichen Erklärungen ihrer Tochtergesellschaften vorzulegen. Diese auch vom Vertreter des Mutterunternehmens oder der Muttergesellschaft unterzeichneten Erklärungen müssen samt Anlagen von den einzelnen Tochtergesellschaften ebenfalls der für sie zuständigen Mehrwertsteuerbehörde vorgelegt werden. In den Erklärungen der Tochtergesellschaften ist das Mutterunternehmen oder die Muttergesellschaft mit der entsprechenden Mehrwertsteuernummer anzugeben."

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12 Das Ausgangsverfahren betrifft die Steuererklärungen der Ampliscientifica für das Jahr 1990 und der Amplifin für die Jahre 1990 und 1991 (im Folgenden: streitige Erklärungen). Ampliscientifica und Amplifin sind Gesellschaften italienischen Rechts, die als zum Amplifon-Konzern gehörende Gesellschaften gegründet wurden, der in der Forschung und der Entwicklung neuer wissenschaftlicher Geräte tätig ist.

13 Die im Februar 1989 gegründete Ampliscientifica wurde zu mehr als 50 % von der Amplaid SpA gehalten, die selbst wiederum zu 99 % von Amplifin gehalten wurde. Ampliscientifica stellte ihre Tätigkeit im Laufe des Jahres 1993 ein. Für das Jahr 1990 gab Amplifin beim Mehrwertsteueramt Mailand die im Dekret von 1979 vorgesehene Erklärung ab, nachdem sie in ihren Buchungsunterlagen eine Mehrwertsteuerschuld ausgewiesen hatte, die zuvor eine Schuld der Ampliscientifica war. Für das Jahr 1991 verfuhr sie in gleicher Weise mit einer anderen Tochtergesellschaft, der im November 1990 gegründeten und im Immobiliensektor tätigen Ampliare Srl, wobei eine hohe Mehrwertsteuergutschrift auf sie übertragen wurde.

14 Das Mehrwertsteueramt Mailand war der Ansicht, dass Amplifin die streitigen Erklärungen nicht einreichen könne, da Art. 2 des Dekrets von 1979 in Bezug auf das Verbundensein, das die Anwendung des vereinfachten Verfahrens für die Festsetzung der Mehrwertsteuer erlaube, bestimme, dass dieses Verbundensein zwischen dem Mutterunternehmen oder der Muttergesellschaft und den Tochtergesellschaften "seit Beginn des Kalenderjahrs", das der Erklärung vorangehe, bestehen müsse. Das Mehrwertsteueramt erließ deshalb Änderungsbescheide für die Jahre 1990 (im Hinblick auf die Mehrwertsteuerschuld von Ampliscientifica) und 1991 (im Hinblick auf die Mehrwertsteuergutschrift für die Ampliare Srl).

15 Ampliscientifica und Amplifin fochten diese Bescheide bei der Commissione tributaria provinciale di Milano an, die ihrer Klage mit gesonderten Urteilen vom 5. November 1996 stattgab.

16 Das Mehrwertsteueramt Mailand legte gegen diese Entscheidungen Rechtsmittel bei der Commissione tributaria della Lombardia ein, dem diese mit Entscheidungen vom 31. Mai und 17. November 1999 stattgab, weil Amplifin die nach dem Dekret von 1979 geltende Voraussetzung hinsichtlich der Dauer der Beteiligung am Kapital der Tochtergesellschaften nicht erfüllt habe und daher nicht befugt gewesen sei, die streitigen Erklärungen abzugeben. Ampliscientifica und Amplifin riefen daraufhin die Corte suprema di cassazione an, die das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

1. Ist Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie als eine Vorschrift, die nicht hinreichend klar gefasst ist und den Mitgliedstaaten die Umsetzung der dort vorgesehenen Regelung für bestimmte Fälle eines wirtschaftlichen, finanziellen oder rechtlichen Verbundenseins verschiedener Steuerpflichtiger gestattet, oder aber als eine Vorschrift auszulegen, die hinreichend klar gefasst ist und somit verlangt, dass die Geltung der Regelung in allen Fällen des dort beschriebenen Verbundenseins vorgesehen wird, wenn der Mitgliedstaat sich für den Erlass einer solchen Regelung entscheidet?

2. Unabhängig von der Beantwortung der vorstehenden Frage: Ist die Festlegung zeitlicher Beschränkungen dergestalt, dass das Verbundensein als Voraussetzung für die Anwendung der Regelung während eines erheblichen Zeitraums bestanden haben muss, ohne dass die betroffenen Steuerpflichtigen nachweisen können, dass die Herstellung der Bindung auf einem vernünftigen wirtschaftlichen Grund beruht, ein im Hinblick auf die Ziele der Richtlinie und die Beachtung des Rechtsmissbrauchsverbots unverhältnismäßiges Mittel? Verstößt diese Regelung jedenfalls gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

17 Die erste Frage beruht auf der Prämisse, dass mit dem Dekret von 1979, auf das die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mehrwertsteuernachforderungen gestützt wurden, von der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie jedem Mitgliedstaat eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, mehrere im Inland ansässige Personen, die rechtlich unabhängig sind, zusammen als einen Mehrwertsteuerpflichtigen zu behandeln, wenn diese Personen durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind. Mit anderen Worten, das Dekret von 1979 soll zumindest teilweise eine Maßnahme zur Umsetzung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie sein.

18 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass von dieser Bestimmung, wie sich aus ihrem Wortlaut selbst ergibt, nur nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer Gebrauch gemacht werden kann. Es steht aber fest, dass die Italienische Republik im Fall des Dekrets von 1979 diese Konsultation nicht durchgeführt hat.

19 Zweitens verlangt die Umsetzung der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung, dass die aufgrund dieser Bestimmung erlassene nationale Regelung es Personen, insbesondere Gesellschaften, die finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen aufweisen, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden. Somit können, wenn ein Mitgliedstaat von dieser Bestimmung Gebrauch macht, die untergeordnete Person oder die untergeordneten Personen im Sinne dieser Vorschrift nicht als Steuerpflichtiger oder Steuerpflichtige im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2007, van der Steen, C-355/06, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 20). Daraus folgt, dass die Verschmelzung zu einem einzigen Steuerpflichtigen es ausschließt, dass die untergeordneten Personen weiterhin getrennt Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb und außerhalb ihres Konzerns weiter als Steuerpflichtige angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist, diese Erklärungen abzugeben.

20 Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie setzt somit, wenn ein Mitgliedstaat von ihm Gebrauch macht, zwingend voraus, dass die nationale Umsetzungsregelung einen einzigen Steuerpflichtigen vorsieht und dass dem Konzern nur eine Mehrwertsteuernummer zugeteilt wird. Dass die persönliche Umsatzsteuer-Identifikationsnummer in der Sechsten Richtlinie erst mit der Einfügung von Art. 28h dieser Richtlinie - mit dem Art. 22 Abs. 1 Buchst. c bis e der Sechsten Richtlinie neu gefasst wurde - durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 (ABl. L 376, S. 1), d. h. nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuerjahren, ausdrücklich erwähnt worden ist, kann sich auf die vorstehende Erwägung nicht auswirken, da sich die Verwendung einer solchen Nummer aus der Notwendigkeit sowohl für die Wirtschaftsteilnehmer als auch für die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ergibt, diejenigen, die die steuerpflichtigen Umsätze getätigt haben, eindeutig zu bestimmen. Die sich aus Art. 28h ergebenden Präzisierungen bekräftigen somit nur einen zuvor geltenden Grundsatz, der mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems naturgemäß verbunden ist.

21 Die Umsetzung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie ist deshalb von der Einführung eines Systems von vereinfachter Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer zu unterscheiden, bei dem insbesondere die Gesellschaften ein und desselben Konzerns getrennte Steuerpflichtige bleiben können, auch wenn die Mehrwertsteuer in den Konten der Muttergesellschaft zusammengeführt werden kann.

22 Im Licht dieser Erwägungen und der Auffassung, die die italienische Regierung in der mündlichen Verhandlung und im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens Nr. 2002/5456 im Schreiben vom 24. Juli 2003 an die Kommission vertreten hat, dass das Dekret von 1979 keine Maßnahme zur Umsetzung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie sei, hat das vorlegende Gericht festzustellen, ob die auf die streitigen Erklärungen anwendbare nationale Regelung den in den Randnrn. 19 und 20 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien entspricht; sollte dies der Fall sein, würde diese Regelung eine Umsetzung darstellen, die unter Verstoß gegen das in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie aufgestellte Verfahrenserfordernis, nämlich die Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer, erfolgt wäre.

23 Auf die erste Frage ist somit zu antworten, dass es sich bei Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie um eine Norm handelt, deren Umsetzung durch einen Mitgliedstaat die vorherige Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer durch den Mitgliedstaat und den Erlass einer nationalen Regelung voraussetzt, die es im Inland ansässigen Personen, insbesondere Gesellschaften, die rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden, dem allein eine persönliche Identifikationsnummer für diese Steuer zugeteilt wird und der allein infolgedessen Mehrwertsteuererklärungen abgeben kann. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende diese Kriterien erfüllt, wobei eine nationale Regelung, die diese Kriterien erfüllen sollte, ohne vorherige Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer eine Umsetzung unter Verstoß gegen das in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie aufgestellte Verfahrenserfordernis wäre.

Zur zweiten Frage

24 Bei der zweiten Frage geht es darum, ob die Frist, die nach dem Dekret von 1979 erfüllt sein muss, damit das Mutterunternehmen oder die Muttergesellschaft nach den darin vorgesehenen vereinfachten Modalitäten die Mehrwertsteuererklärung abgeben und Mehrwertsteuerzahlungen vornehmen kann, gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Rechtsmissbrauchsverbot und den Grundsatz der Steuerneutralität verstößt. Um in den Genuss dieser Regelung kommen zu können, muss das Mutterunternehmen oder die Muttergesellschaft mindestens seit dem Beginn des dem Jahr der Erklärung vorangegangenen Kalenderjahrs mehr als 50 % der Aktien oder der Anteile an den untergeordneten Personen, wie Tochtergesellschaften, halten.

25 Was zunächst den Grundsatz der Steuerneutralität betrifft, ist daran zu erinnern, dass dieser Grundsatz ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt (vgl. u. a. Urteil vom 19. September 2000, Schmeink & Cofreth und Strobel, C-454/98, Slg. 2000, I-6973, Randnr. 59), nach dem es unzulässig ist, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteile vom 11. Juni 1998, Fischer, C-283/95, Slg. 1998, I-3369, Randnrn. 21 und 27, und vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, C-481/98, Slg. 2001, I-3369, Randnr. 22) sowie gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Umsätze hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteile vom 23. Oktober 2003, Kommission/Deutschland, C-109/02, Slg. 2003, I-12691, Randnr. 20, vom 16. September 2004, Cimber Air, C-382/02, Slg. 2004, I-8379, Randnr. 24, und vom 18. Oktober 2007, Navicon, C-97/06, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 21).

26 Eine nationale Regelung, die sich darauf beschränkte, Steuerpflichtige, die sich für ein System von vereinfachter Mehrwertsteuererklärung und -zahlung entscheiden möchten, danach unterschiedlich zu behandeln, ob sie über einen kürzeren oder längeren als den in Randnr. 24 des vorliegenden Urteils genannten Zeitraum ein bestimmtes Verbundensein in Bezug auf das Kapital aufweisen, würde für alle Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen gelten, unabhängig davon, ob sie sich hinsichtlich ihrer Umsätze oder Waren in einer Wettbewerbssituation befinden. Der Grundsatz der Steuerneutralität steht einer solchen Regelung nicht entgegen, die eine Unterscheidung einführt, die objektiv gerechtfertigt ist, um die wirtschaftliche Realität des rechtlichen Vorgangs, der eine vereinfachte Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer ermöglicht, zu prüfen. Wie in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die auf die streitigen Erklärungen anwendbare nationale Regelung eine solche Regelung darstellt.

27 Was sodann das Rechtsmissbrauchsverbot anbelangt, ist daran zu erinnern, dass dieses insbesondere im Bereich der Mehrwertsteuer darauf abzielt, dass die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht so weit gehen kann, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. diejenigen Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen (Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, Slg. 2006, I-1609, Randnrn. 69 und 70).

28 Nach diesem Grundsatz sind somit rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen verboten, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C-196/04, Slg. 2006, I-7995, Randnr. 55).

29 Außerdem ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird (Urteil Halifax u. a., Randnr. 71).

30 Insoweit ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die von den Wirtschaftsteilnehmern verlangt, dass sie durch eine gewisse Kontinuität ihrer Tätigkeit und ihrer Umsätze nachweisen, dass die Inanspruchnahme eines Systems von vereinfachter Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer nicht ausschließlich von dem Wunsch getragen ist, einen Steuervorteil insbesondere dadurch zu erlangen, dass in den Konten des Mutterunternehmens oder der Muttergesellschaft eine Mehrwertsteuerschuld oder eine Mehrwertsteuergutschrift verbucht wird - was für diese im ersten Fall eine Verringerung ihres steuerpflichtigen Ergebnisses und im zweiten Fall ein sofortiges Guthaben gegenüber der Steuerverwaltung zur Folge hätte -, sondern auf einer längerfristigen wirtschaftlichen Entscheidung beruht, nicht gegen das Rechtsmissbrauchsverbot verstößt.

31 Was schließlich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betrifft, ist davon auszugehen, dass bei einer nationale Regelung, nach der wie im Dekret von 1979 eine Frist von einem bis zu zwei Jahren erfüllt sein muss, damit Steuerpflichtige nach vereinfachten Modalitäten die Mehrwertsteuererklärung abgeben und die Mehrwertsteuer zahlen können, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesichts des Ziels der Bekämpfung von Betrug und fiktiven rechtlichen Gestaltungen gewahrt ist. Das Fehlen einer Frist hätte umgekehrt zur Folge haben können, dass punktuelle Umsätze getätigt werden könnten, die die Bildung einer rechtlichen Struktur zu diesem Zweck rechtfertigten. Eine solche nationale Regelung könnte aber Missbräuchen und Steuerhinterziehungen Vorschub leisten, deren Verhinderung gerade eines der vom Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziele ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juni 2006, Heintz van Landewijck, C-494/04, Slg. 2006, I-5381, Randnrn. 42 und 43, und vom 13. Dezember 2007, BATIG, C-374/06, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 39).

32 Auf die zweite Frage ist somit zu antworten, dass der Grundsatz der Steuerneutralität nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, die sich darauf beschränkte, Steuerpflichtige, die sich für ein System von vereinfachter Mehrwertsteuererklärung und -zahlung entscheiden möchten, danach unterschiedlich zu behandeln, ob das Mutterunternehmen oder die Muttergesellschaft mindestens seit Beginn des dem Jahr der Erklärung vorangegangenen Kalenderjahrs mehr als 50 % der Aktien oder Anteile an den untergeordneten Personen hält oder diese Voraussetzungen im Gegenteil erst nach diesem Zeitpunkt erfüllt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine solche Regelung darstellt. Darüber hinaus stehen weder das Rechtsmissbrauchsverbot noch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer solchen Regelung entgegen.

Kostenentscheidung:

Kosten

33 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1. Bei Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage handelt es sich um eine Norm, deren Umsetzung durch einen Mitgliedstaat die vorherige Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer durch den Mitgliedstaat und den Erlass einer nationalen Regelung voraussetzt, die es im Inland ansässigen Personen, insbesondere Gesellschaften, die rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden, dem allein eine persönliche Identifikationsnummer für diese Steuer zugeteilt wird und der allein infolgedessen Mehrwertsteuererklärungen abgeben kann. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende diese Kriterien erfüllt, wobei eine nationale Regelung, die diese Kriterien erfüllen sollte, ohne vorherige Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer eine Umsetzung unter Verstoß gegen das in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388 aufgestellte Verfahrenserfordernis wäre.

2. Der Grundsatz der Steuerneutralität steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die sich darauf beschränkte, Steuerpflichtige, die sich für ein System von vereinfachter Mehrwertsteuererklärung und -zahlung entscheiden möchten, danach unterschiedlich zu behandeln, ob das Mutterunternehmen oder die Muttergesellschaft mindestens seit Beginn des dem Jahr der Erklärung vorangegangenen Kalenderjahrs mehr als 50 % der Aktien oder Anteile an den untergeordneten Personen hält oder diese Voraussetzungen im Gegenteil erst nach diesem Zeitpunkt erfüllt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine solche Regelung darstellt. Darüber hinaus stehen weder das Rechtsmissbrauchsverbot noch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer solchen Regelung entgegen.



Ende der Entscheidung

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