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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.09.1996
Aktenzeichen: C-168/95
Rechtsgebiete: Richtlinie 76/464/EWG, Richtlinie 83/513/EWG
Vorschriften:
Richtlinie 76/464/EWG Art. 3 | |
Richtlinie 76/464/EWG Art. 6 Abs. 1 | |
Richtlinie 83/513/EWG |
1. Im Rahmen des in Artikel 177 des Vertrages vorgesehenen Verfahrens bleibt es dem Gerichtshof vorbehalten, im Fall ungenau formulierter Fragen aus allen vom nationalen Gericht gelieferten Angaben und aus den Akten des Ausgangsverfahrens diejenigen Elemente des Gemeinschaftsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands dieses Verfahrens einer Auslegung bedürfen.
2. Artikel 3 der Richtlinie 76/464 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft ist so auszulegen, daß er für jede Ableitung von Cadmium unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns des Betriebes, aus dem sie stammt, die Erteilung einer vorherigen Genehmigung verlangt.
Hat ein Mitgliedstaat diese Richtlinie und damit ihren Artikel 3 sowie die Richtlinie 83/513 betreffend Grenzwerte und Qualitätsziele für Cadmiumableitungen nicht innerhalb der gesetzten Frist vollständig umgesetzt, so kann sich eine Behörde dieses Staates gegenüber einem einzelnen nicht auf diesen Artikel 3 berufen, da diese Möglichkeit nur für Privatpersonen und "jeden Mitgliedstaat, an den die Richtlinie gerichtet wird", besteht.
3. Zwar enthält das Gemeinschaftsrecht keinen Mechanismus, der es dem nationalen Gericht erlaubt, von einer Vorschrift einer nicht umgesetzten Richtlinie abweichende nationale Vorschriften zu eliminieren, wenn diese Richtlinienvorschrift nicht vor dem nationalen Gericht in Anspruch genommen werden kann, doch obliegen die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie ihre Aufgabe gemäß Artikel 5 des Vertrages, alle zur Erfuellung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeit. Daraus folgt, daß ein nationales Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muß, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 des Vertrages nachzukommen.
Diese Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet jedoch ihre Grenzen, wenn eine solche Auslegung dazu führt, daß einem einzelnen eine in einer nicht umgesetzten Richtlinie vorgesehene Verpflichtung entgegengehalten wird, und erst recht dann, wenn sie dazu führt, daß auf der Grundlage der Richtlinie und in Ermangelung eines zu ihrer Umsetzung erlassenen Gesetzes die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen verschärft wird, die gegen die Richtlinienbestimmungen verstossen.
Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 26. September 1996. - Strafverfahren gegen Luciano Arcaro. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura circondariale di Vicenza - Italien. - Cadmiumableitungen - Auslegung der Richtlinien 76/464/EWG und 83/513/EWG des Rates - Unmittelbare Wirkung - Möglichkeit, sich gegenüber einem einzelnen auf eine Richtlinie zu berufen. - Rechtssache C-168/95.
Entscheidungsgründe:
1 Die Pretura circondariale Vicenza hat mit Beschluß vom 22. April 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Mai 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Richtlinien 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft (ABl. L 129, S. 23) und 83/513/EWG des Rates vom 26. September 1983 betreffend Grenzwerte und Qualitätsziele für Cadmiumableitungen (ABl. L 291, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren gegen Luciano Arcaro, das nach den Artikeln 5, 7 und 18 des Decreto legislativo Nr. 133 vom 27. Januar 1992 betreffend gewerbliche Ableitungen gefährlicher Stoffe in die Gewässer (Gewöhnliche Beilage Nr. 34 zu GURI Nr. 41 vom 19. Februar 1992 und Korrigendum, veröffentlicht in GURI Nr. 124 vom 28. Mai 1992; im folgenden: Dekret) gegen ihn eingeleitet worden ist.
3 Gemäß Artikel 3 der Richtlinie 76/464 bedarf jede Ableitung von Stoffen aus der Liste I im Anhang der Richtlinie "einer vorherigen Genehmigung der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats". Diese Liste enthält für die Gewässer besonders gefährliche Stoffe, zu denen Cadmium gehört.
4 Für diese Gruppe von Stoffen sind die Ableitungsgenehmigungen gemäß den Artikeln 3 und 5 der Richtlinie zu erteilen. Danach müssen in diesen Genehmigungen insbesondere die Emissionsnormen, d. h. die in Ableitungen zulässige maximale Konzentration und zulässige Hoechstmenge, die Bedingungen für die Genehmigung und der Genehmigungszeitraum angegeben werden.
5 Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 76/464 dürfen die Emissionsnormen die vom Rat festgelegten Grenzwerte nicht überschreiten.
6 Bei Cadmium beziehen sich die nationalen Behörden auf die in den Anhängen der Richtlinie 83/513 angegebenen Grenzwerte, Fristen und Überwachungsverfahren.
7 Jedoch geht aus Anhang I (Anm. 1 und 7) dieser Richtlinie hervor, daß für die in diesem Anhang nicht genannten Industriezweige Grenzwerte für die Ableitungen von Cadmium vom Rat zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt werden. In der Zwischenzeit legen die Mitgliedstaaten Emissionsnormen gemäß der Richtlinie 76/464 in eigener Zuständigkeit fest; diese dürfen nicht weniger streng sein als der am besten vergleichbare Grenzwert dieses Anhangs.
8 In Italien wurde das Dekret zum Zweck der Umsetzung mehrerer Gemeinschaftsrichtlinien über die Ableitung gefährlicher Stoffe, darunter der Richtlinien 76/464 und 83/513, erlassen.
9 Es gilt für Ableitungen gefährlicher Stoffe, die zu den in den Listen I und II seines Anhangs A aufgeführten Stoffgruppen gehören (Artikel 1). Anhang B enthält die "Grenzwerte für die Emissionsnormen" für bestimmte in der Liste I des Anhangs A aufgeführte gefährliche Stoffe.
10 Das Dekret legt die Regelung der von den örtlichen Behörden erteilten Ableitungsgenehmigungen für die Stoffe der Liste I des Anhangs A fest. Diese Regelung beruht auf einer Unterscheidung zwischen Ableitungen aus neuen Industriebetrieben einerseits und Ableitungen aus am 6. März 1992 bestehenden oder vor dem 6. März 1993 in Funktion getretenen Industriebetrieben andererseits.
11 Alle Industriebetriebe, neue und bestehende, müssen, um Ableitungen vornehmen zu können, eine Genehmigung einholen (Artikel 5 des Dekrets). Für beide Kategorien erteilt die örtliche Behörde die Ableitungsgenehmigung unter Festlegung von Emissionsnormen, die den in Anhang B festgesetzten Grenzwerten entsprechen. Betrifft die Ableitung jedoch Stoffe, für die in Anhang B noch kein Grenzwert festgelegt worden ist, wird wie folgt differenziert.
12 Für neue Betriebe ist die vorherige Genehmigung der Ableitung zwingend vorgeschrieben, die entsprechend den durch das Gesetz Nr. 319 vom 10. Mai 1976 (GURI Nr. 141 vom 29. Mai 1976) in der geänderten Fassung (Artikel 6 Absatz 3 des Dekrets) festgelegten Toleranzgrenzen erteilt wird. Handelt es sich hingegen um bestehende Betriebe, so ergibt sich aus Artikel 7 Absatz 7, daß das Dekret und somit die Pflicht zur Einholung einer Genehmigung erst nach dem Erlaß der in Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe b vorgesehenen Ministerialverordnungen gelten.
13 Aus den Akten ergibt sich, daß in Anhang B keine Grenzwerte für die Cadmiumableitungen angegeben sind, um die es im Ausgangsverfahren geht. Daher ist für solche Ableitungen nach dem Dekret die Einholung einer Genehmigung nur dann vorgeschrieben, wenn sie aus neuen Betrieben stammen.
14 Artikel 18 des Dekrets regelt die Sanktionen, die im Fall eines Verstosses gegen die Bestimmungen des Dekrets anwendbar sind.
15 Nach den Akten des Ausgangsverfahrens wird Herr Arcaro, gesetzlicher Vertreter eines Unternehmens, dessen Haupttätigkeit in der Verarbeitung von Edelmetallen besteht, nach den Artikeln 5, 7 und 18 des Dekrets strafrechtlich verfolgt, weil er Cadmiumableitungen in Oberflächengewässer (in den Fluß Bacchiglione) vorgenommen haben soll, ohne die Genehmigung dazu beantragt zu haben.
16 Vor der Pretura circondariale Vicenza, die die Staatsanwaltschaft befasst hatte, machte Herr Arcaro geltend, sein Unternehmen sei ein bestehender Betrieb im Sinne des Dekrets und in Anbetracht der Erzeugung seines Unternehmens sei die Genehmigungsregelung gemäß Artikel 7 des Dekrets auf ihn nur dann anwendbar, wenn die dieser Erzeugung entsprechenden Emissionsgrenzwerte durch Ministerialverordnung festgesetzt worden seien.
17 Der Pretore geht davon aus, daß Artikel 7 Absätze 1 und 7 des Dekrets die meisten bestehenden Betriebe von der durch das Dekret eingeführten Genehmigungsregelung ausnehme.
18 In Punkt 8 des Vorlagebeschlusses äussert der Pretore jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit den Gemeinschaftsrichtlinien, deren Umsetzung sie dienen und die nach seiner Ansicht eine Genehmigung für alle von ihnen erfassten Ableitungen ohne Unterscheidung nach neuen und bestehenden Betrieben verlangen. Hierfür bezieht sich der Pretore beispielsweise auf Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe d und Artikel 3 der Richtlinie 76/464 sowie auf Artikel 3 der Richtlinie 83/513.
19 Unter diesen Umständen hat der Pretore das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
a) Ist die in Punkt 8 des Vorlagebeschlusses dargelegte Auslegung der Gemeinschaftsrichtlinien, die durch das Decreto legislativo Nr. 133/1992 umgesetzt werden sollen, richtig?
b) Bei Bejahung der ersten Frage: Können die Gemeinschaftsvorschriften im Lichte einer richtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts bei gleichzeitiger Nichtanwendung der abweichenden innerstaatlichen Vorschriften auch dann unmittelbar angewandt werden, wenn dies die Position des Bürgers verschlechtern kann?
c) Bei Verneinung der zweiten Frage: Durch welchen anderen Mechanismus kann auf der Grundlage einer richtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts die Eliminierung der von den Gemeinschaftsvorschriften abweichenden innerstaatlichen Vorschriften aus der staatlichen Rechtsordnung erreicht werden, wenn die unmittelbare Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften die Position des Bürgers verschlechtern kann?
Zur ersten Frage
20 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß diese Frage nur vage formuliert ist, da sie auf eine Auslegung aller Gemeinschaftsrichtlinien abzielt, die mit dem Dekret umgesetzt werden sollen, und die in Punkt 8 des Vorlagebeschlusses speziell erwähnten Richtlinien 76/464 und 83/513 nur beispielhaft angeführt werden.
21 Es ist jedoch daran zu erinnern, daß es nach ständiger Rechtsprechung dem Gerichtshof vorbehalten bleibt, im Fall ungenau formulierter Fragen aus allen vom nationalen Gericht gelieferten Angaben und aus den Akten des Ausgangsverfahrens diejenigen Elemente des Gemeinschaftsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands dieses Verfahrens einer Auslegung bedürfen (vgl. Urteil vom 13. Dezember 1984 in der Rechtssache 251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, 4277, Randnr. 9).
22 Im vorliegenden Fall ergibt sich, wie in den Randnummern 15 und 16 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, aus den Akten des Ausgangsverfahrens, daß dieses Verfahren Cadmiumableitungen betrifft, die ohne Genehmigung durchgeführt wurden und aus einem bestehenden Betrieb im Sinne des Dekrets stammten.
23 Da für Cadmiumableitungen die maßgebenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in den Richtlinien 76/464 und 83/513 enthalten sind, ist die erste Vorlagefrage so zu verstehen, daß sie dahin geht, ob die maßgebenden Bestimmungen dieser Richtlinien so auszulegen sind, daß sie für jede Ableitung von Cadmium unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns des Betriebes, aus dem sie stammt, die Erteilung einer vorherigen Genehmigung verlangen.
24 Dazu ist auf Artikel 3 der Richtlinie 76/464 hinzuweisen, der bestimmt:
"Für die Stoffe aus den Familien und Gruppen von Stoffen aus der Liste I... gilt folgendes:
1. Jede Ableitung in die... Gewässer, die einen dieser Stoffe enthalten kann, bedarf einer vorherigen Genehmigung der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats.
..."
Die Liste I im Anhang der Richtlinie führt unter Nummer 6 Cadmium auf.
25 Daraus ergibt sich, daß für jede Ableitung von Cadmium eine vorherige Genehmigung erforderlich ist und keine Ausnahme für Ableitungen gilt, die aus vor einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Betrieben stammen.
26 Dieser Auslegung widersprechen weder Artikel 3 Nr. 3 noch Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie 76/464.
27 Artikel 3 Nr. 3 lautet:
"3. Bei bestehenden Ableitungen dieser Stoffe in die in Artikel 1 genannten Gewässer müssen die Ableiter die in der Genehmigung festgelegten Bedingungen innerhalb der darin gesetzten Frist erfuellen. Diese Frist darf die gemäß Artikel 6 Absatz 4 gesetzten Grenzen nicht überschreiten."
28 Artikel 6 Absatz 4 lautet:
"Für die Stoffe der Familien und Gruppen von Stoffen gemäß Absatz 1 setzt der Rat gemäß Artikel 12 die Fristen gemäß Artikel 3 Nummer 3 fest, und zwar unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale der betreffenden Industriezweige und gegebenenfalls der Produktarten."
29 Demgemäß betreffen diese Bestimmungen zwar die "bestehenden Ableitungen" der Stoffe aus der Liste I, sie enthalten jedoch keine Ausnahme von der Verpflichtung, eine vorherige Genehmigung einzuholen, für vor einem bestimmten Zeitpunkt bestehende Betriebe; sie beziehen sich lediglich auf die Fristen, die in der Genehmigung für diese Art von Ableitungen festgesetzt werden.
30 Diese Auslegung wird im übrigen nicht durch die Richtlinie 83/513 widerlegt, die in Artikel 2 Buchstaben f und g die Begriffe "bestehender Betrieb" und "neuer Betrieb" definiert. So bestimmt Artikel 2:
"Im Sinne dieser Richtlinie sind
...
f) 'bestehender Betrieb' :
ein Industriebetrieb, der zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie produziert;
g) 'neuer Betrieb' :
° ein Industriebetrieb, der nach dem Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie seine Produktion aufnimmt,
° ein bestehender Industriebetrieb, dessen Kapazität zur Verwendung von Cadmium nach dem Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie erheblich erhöht wird."
Diese Unterscheidung ist jedoch nur für Artikel 3 Absatz 4 Unterabsatz 1 dieser Richtlinie von Bedeutung, wonach "[d]ie Mitgliedstaaten... nur dann Genehmigungen für neue Betriebe erteilen [dürfen], wenn diese Betriebe die Normen anwenden, die den besten verfügbaren technischen Mitteln entsprechen".
31 Somit befreit diese Bestimmung die betroffenen Betriebe nicht von der Verpflichtung, eine Genehmigung einzuholen, sondern sie verstärkt diese Verpflichtung vielmehr.
32 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 3 der Richtlinie 76/464 so auszulegen ist, daß er für jede Ableitung von Cadmium unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns des Betriebes, aus dem sie stammt, die Erteilung einer vorherigen Genehmigung verlangt.
Zur zweiten Frage
33 Mit dieser Frage möchte das nationale Gericht im wesentlichen wissen, ob, wenn ein Mitgliedstaat die Richtlinie 76/464 und damit ihren Artikel 3 sowie die Richtlinie 83/513 nicht innerhalb der gesetzten Frist vollständig umgesetzt hat, sich eine Behörde dieses Staates gegenüber einem einzelnen auf diesen Artikel 3 berufen kann, auch wenn dies die Position dieses einzelnen verschlechtern könnte.
34 Die Kommission bemerkt, daß die durch die Richtlinien 76/464 und 83/513 eingeführte Regelung über die Genehmigung von Ableitungen die Benennung hierfür zuständiger nationaler Behörden umfasse, die über ein tatsächliches Ermessen verfügten. Daraus folge, daß die Bestimmungen dieser Richtlinien nicht als unbedingt im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes angesehen werden könnten und daher keine unmittelbare Wirkung hätten. Auf alle Fälle könne eine Richtlinie weder selbst Verpflichtungen für einen einzelnen begründen, noch könne sie als solche gegenüber einem einzelnen vor einem nationalen Gericht in Anspruch genommen werden.
35 Angesichts einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens braucht nicht geprüft zu werden, ob Artikel 3 der Richtlinie unbedingt und hinreichend genau ist.
36 Der Gerichtshof hat nämlich ausgeführt, daß die Möglichkeit, sich vor einem nationalen Gericht auf eine unbedingte und hinreichend genaue Bestimmung einer nicht umgesetzten Richtlinie zu berufen, nur für Privatpersonen und "jeden Mitgliedstaat, an den die Richtlinie gerichtet wird", besteht. Daraus folgt, daß eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen einzelnen begründen kann und daß eine Richtlinienbestimmung daher nicht als solche gegenüber einer derartigen Person in Anspruch genommen werden kann (Urteile vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Randnr. 48, und vom 8. Oktober 1987 in der Rechtssache 80/86, Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969, Randnr. 9). Der Gerichtshof hat klargestellt, daß mit dieser Rechtsprechung verhindert werden soll, daß ein Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann (Urteile vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Randnr. 22, und vom 7. März 1996 in der Rechtssache C-192/94, El Corte Inglés, Slg. 1996, I-0000, Randnr. 16).
37 Auf der Linie dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof ausserdem für Recht erkannt, daß eine Richtlinie für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstossen, festzulegen oder zu verschärfen (Urteil vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 14/86, Pretore di Salò/X, Slg. 1987, 2545).
38 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, daß, wenn ein Mitgliedstaat die Richtlinie 76/464 und damit ihren Artikel 3 sowie die Richtlinie 83/513 nicht innerhalb der gesetzten Frist vollständig umgesetzt hat, sich eine Behörde dieses Staates gegenüber einem einzelnen nicht auf diesen Artikel 3 berufen kann.
Zur dritten Frage
39 Mit dieser Frage möchte das nationale Gericht im wesentlichen wissen, ob es auf der Grundlage einer richtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts einen Mechanismus gibt, der es dem nationalen Gericht erlaubt, von einer Vorschrift einer nicht umgesetzten Richtlinie abweichende nationale Vorschriften zu eliminieren, wenn diese Richtlinienvorschrift nicht vor dem nationalen Gericht in Anspruch genommen werden kann.
40 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das Gemeinschaftsrecht keinen solchen Mechanismus enthält.
41 Sodann obliegen die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie ihre Aufgabe gemäß Artikel 5 EG-Vertrag, alle zur Erfuellung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeit. Daraus folgt, daß ein nationales Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muß, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag nachzukommen (vgl. Urteile vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8, und vom 16. Dezember 1993 in der Rechtssache C-334/92, Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911, Randnr. 20).
42 Diese Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet jedoch ihre Grenzen, wenn eine solche Auslegung dazu führt, daß einem einzelnen eine in einer nicht umgesetzten Richtlinie vorgesehene Verpflichtung entgegengehalten wird, und erst recht dann, wenn sie dazu führt, daß auf der Grundlage der Richtlinie und in Ermangelung eines zu ihrer Umsetzung erlassenen Gesetzes die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen verschärft wird, die gegen die Richtlinienbestimmungen verstossen (vgl. Urteil Kolpinghuis Nijmegen, a. a. O., Randnrn. 13 und 14).
43 Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, daß das Gemeinschaftsrecht keinen Mechanismus enthält, der es dem nationalen Gericht erlaubt, von einer Vorschrift einer nicht umgesetzten Richtlinie abweichende nationale Vorschriften zu eliminieren, wenn diese Richtlinienvorschrift nicht vor dem nationalen Gericht in Anspruch genommen werden kann.
Kostenentscheidung:
Kosten
44 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
auf die ihm von der Pretura circondariale Vicenza mit Beschluß vom 22. April 1995 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Artikel 3 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft ist so auszulegen, daß er für jede Ableitung von Cadmium unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns des Betriebes, aus dem sie stammt, die Erteilung einer vorherigen Genehmigung verlangt.
2. Hat ein Mitgliedstaat die Richtlinie 76/464 und damit ihren Artikel 3 sowie die Richtlinie 83/513/EWG des Rates vom 26. September 1983 betreffend Grenzwerte und Qualitätsziele für Cadmiumableitungen nicht innerhalb der gesetzten Frist vollständig umgesetzt, so kann sich eine Behörde dieses Staates gegenüber einem einzelnen nicht auf diesen Artikel 3 berufen.
3. Das Gemeinschaftsrecht enthält keinen Mechanismus, der es dem nationalen Gericht erlaubt, von einer Vorschrift einer nicht umgesetzten Richtlinie abweichende nationale Vorschriften zu eliminieren, wenn diese Richtlinienvorschrift nicht vor dem nationalen Gericht in Anspruch genommen werden kann.
Ende der Entscheidung
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