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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.12.1992
Aktenzeichen: C-169/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 30
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 30 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß das in ihm ausgesprochene Verbot nicht für eine nationale Regelung gilt, die es Einzelhändlern verbietet, ihre Geschäfte am Sonntag zu öffnen.

Eine solche Regelung, die keine Reglementierung des Warenverkehrs bezweckt und die den Verkauf einheimischer ebenso wie den Verkauf eingeführter Erzeugnisse berührt, verfolgt nämlich ein nach Gemeinschaftsrecht gerechtfertigtes Ziel, da sie Ausdruck bestimmter Entscheidungen ist, die sich auf landesweite oder regionale soziale und kulturelle Besonderheiten beziehen und die die Mitgliedstaaten unter Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen und insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit zu treffen haben. Was letzteren anbelangt, so erscheinen die beschränkenden Wirkungen auf den Warenverkehr, die sich aus einer solchen Regelung ergeben können, im Hinblick auf den verfolgten Zweck nicht als unverhältnismässig.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 16. DEZEMBER 1992. - COUNCIL OF THE CITY OF STOKE-ON-TRENT UND NORWICH CITY COUNCIL GEGEN B & Q PLC. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HOUSE OF LORDS - VEREINIGTES KOENIGREICH. - AUSLEGUNG DER ARTIKEL 30 EWG-VERTRAG - VERBOT DES GESCHAEFTLICHEN VERKEHRS AN SONNTAGEN. - RECHTSSACHE C-169/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das House of Lords hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 20. Mai 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juli 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen über die Auslegung des Artikels 30 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Council of the City of Stoke-on-Trent und dem Norwich City Council (Klägerinnen) einerseits und der B & Q plc (Beklagte) andererseits.

3 Die Klägerinnen werfen der Beklagten vor, dadurch gegen Section 47 und Section 59 des Shops Act 1950 verstossen zu haben, daß sie ihre Einzelhandelsgeschäfte sonntags für andere als die im Fünften Anhang zu diesem Gesetz genannten Verkaufsgeschäfte offengehalten habe.

4 Im Fünften Anhang zum Shops Act sind die Artikel aufgeführt, die am Sonntag in Einzelhandelsgeschäften verkauft werden dürfen. Es handelt sich unter anderem um alkoholische Getränke, bestimmte Lebensmittel, Tabak, Zeitungen und andere Erzeugnisse des täglichen Bedarfs.

5 Vor dem House of Lords, vor dem die Ausgangsverfahren in letzter Instanz anhängig sind, ergab sich, daß die Parteien über die Auslegung des Urteils vom 23. November 1989 in der Rechtssache C-145/88 (Torfän Borough Council, Slg. 1989, I-3851) sowie der Urteile vom 28. Februar 1991 in den Rechtssachen C-312/89 (Conforama, Slg. 1991, I-997) und C-332/89 (Marchandise, Slg. 1991, I-1027) streiten.

6 Angesichts dieses Streits hat das House of Lords das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Führen die Urteile des Gerichtshofes in den Rechtssachen C-312/89 (Conforama) und C-332/89 (Marchandise) dazu, daß das Verbot des Artikels 30 EWG-Vertrag nicht für eine nationale Regelung gilt, die Einzelhändlern verbietet, ihre Geschäftsräume am Sonntag für den Verkauf bestimmter Waren geöffnet zu halten, wie sie etwa in der Rechtssache C-145/88, Torfän Borough Council/B & Q plc, im Streit stand?

2) Ist es verneinendenfalls auch ohne Beibringung von Beweisen augenfällig, daß die Beschränkungen des gemeinschaftlichen Binnenhandels, die sich aus einer nationalen Regelung der in Frage 1 angesprochenen Art ergeben können, den Rahmen "der einer solchen Regelung eigentümlichen Wirkungen" im Sinne des Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache C-145/88 nicht überschreiten?

3) Aufgrund welcher Kriterien und anhand welchen Beweismaterials muß das nationale Gericht verneinendenfalls die Frage beantworten, ob die Beschränkungen des gemeinschaftlichen Binnenhandels, die sich aus einer nationalen Regelung der in Frage 1 angesprochenen Art ergeben können, den Rahmen "der einer solchen Regelung eigentümlichen Wirkungen" in dem Sinne überschreiten, in dem der Gerichtshof diesen Ausdruck in seinem Urteil in der Rechtssache C-145/88 gebraucht hat?

7 Weitere Einzelheiten des Sachverhalts, des einschlägigen Rechts, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen finden sich im Sitzungsbericht, auf den verwiesen wird. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Die erste Frage

8 Die erste Frage geht dahin, ob eine nationale Regelung der fraglichen Art ° um diese ging es auch in dem Urteil Torfän Borough Council ° nach den Urteilen Conforama und Marchandise nicht unter das Verbot des Artikels 30 EWG-Vertrag fällt.

9 In den drei genannten Urteilen hat der Gerichtshof ausgeführt, daß das jeweilige nationale Recht über das Verbot des Verkaufs an Sonntagen keine Regelung des Warenverkehrs bezwecke.

10 Eine solche Regelung könne zwar negative Folgen für das Verkaufsvolumen bestimmter Geschäfte haben, berühre aber den Verkauf einheimischer ebenso wie den Verkauf eingeführter Erzeugnisse. Der Absatz von aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Erzeugnissen werde daher nicht stärker erschwert als der von einheimischen Erzeugnissen.

11 Weiter verfolge das jeweilige nationale Recht ein Ziel, das nach Gemeinschaftsrecht gerechtfertigt sei. Staatliche Regelungen, die die Öffnung von Geschäften am Sonntag beschränkten, seien Ausdruck bestimmter Entscheidungen, die auf landesweite oder regionale soziale und kulturelle Besonderheiten Bezug hätten. Diese Entscheidungen seien Sache der Mitgliedstaaten; dabei hätten sie die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten.

12 Zu diesem Grundsatz heisst es in dem Urteil Torfän Borough Council, daß eine solche Regelung dann nicht von Artikel 30 EWG-Vertrag verboten sei, wenn ihre möglichen beschränkenden Wirkungen auf den gemeinschaftlichen Warenverkehr nicht den Rahmen der solchen Handelsregelungen eigentümlichen Wirkungen überschritten; die Frage, ob die Wirkungen dieser Regelung sich tatsächlich innerhalb dieses Rahmens hielten, sei tatsächlicher Art und daher vom innerstaatlichen Gericht zu entscheiden.

13 In den Urteilen Conforama und Marchandise stellte der Gerichtshof jedoch angesichts ähnlicher Regelungen fest, daß die beschränkenden Wirkungen, die diese Regelungen auf den Warenverkehr haben könnten, im Hinblick auf den verfolgten Zweck nicht unverhältnismässig seien.

14 Der Gerichtshof hat sich dabei hinreichend unterrichtet gesehen, um über die Verhältnismässigkeit einer solchen Regelung zu entscheiden; er hat eine solche Entscheidung für geboten erachtet, um den nationalen Gerichten eine einheitliche Beurteilung der Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht zu ermöglichen, da diese nicht von den jeweiligen Sachverhaltsfeststellungen des nationalen Gerichts im Rahmen eines bestimmten Rechtsstreits abhängen könne.

15 Die Frage der Verhältnismässigkeit einer nationalen Regelung, die ein gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigtes Ziel verfolgt, erfordert eine Abwägung des nationalen Interesses an der Erreichung dieses Ziels mit dem Gemeinschaftsinteresse am freien Warenverkehr. Bei der Prüfung, ob die beschränkenden Wirkungen der fraglichen Regelung auf den innergemeinschaftlichen Warenverkehr das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche nicht überschreiten, ist darauf abzustellen, ob diese Wirkungen unmittelbar, mittelbar oder nur hypothetisch sind und ob sie den Absatz eingeführter Erzeugnisse nicht stärker beeinträchtigen als denjenigen einheimischer.

16 Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerichtshof in den Urteilen Conforama und Marchandise festgestellt, daß die beschränkenden Wirkungen auf den Handel, die ein nationales Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmern in Ladengeschäften am Sonntag auf den Warenverkehr haben könne, im Hinblick auf den verfolgten Zweck nicht unverhältnismässig seien. Dieselbe Feststellung ist aus den nämlichen Gründen für eine nationale Regelung zu treffen, die das Öffnen von Einzelhandelsgeschäften am Sonntag verbietet.

17 Auf die erste Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß das in ihm ausgesprochene Verbot nicht für eine nationale Regelung gilt, die es Einzelhändlern verbietet, ihre Geschäfte am Sonntag zu öffnen.

Die zweite und die dritte Frage

18 Angesichts dieser Antwort auf die erste Frage haben sich die zweite und die dritte Frage erledigt.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom House of Lords mit Beschluß vom 20. Mai 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 30 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß das in ihm ausgesprochene Verbot nicht für eine nationale Regelung gilt, die es Einzelhändlern verbietet, ihre Geschäfte am Sonntag zu öffnen.

Ende der Entscheidung

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