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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.11.1995
Aktenzeichen: C-175/94
Rechtsgebiete: Richtlinie 64/221/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ist dahin auszulegen, daß er es der Verwaltungsbehörde ausser in dringenden Fällen verbietet, gegenüber einem Gemeinschaftsangehörigen, der sich rechtmässig im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates aufhält, weil er entweder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt oder keine benötigt, eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu treffen, bevor eine zuständige Stelle ihre Stellungnahme abgegeben hat.

2. Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, steht der Bestimmung der für die Abgabe einer Stellungnahme vor einer Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständigen Stelle durch die Behörde, die die Entscheidung über die Entfernung trifft, nicht entgegen, sofern diese Stelle ihre Aufgaben in völliger Unabhängigkeit wahrnehmen kann, ohne der Kontrolle durch die Behörde zu unterliegen, die für den Erlaß der in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen zuständig ist, und sofern sie ein Verfahren anwendet, das es dem Betroffenen ermöglicht, sich unter den in der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen zu verteidigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Einzelfall zu prüfen, ob diese Anforderungen erfuellt sind.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 30. NOVEMBER 1995. - THE QUEEN GEGEN SECRETARY OF STATE FOR THE HOME DEPARTMENT, EX PARTE JOHN GALLAGHER. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COURT OF APPEAL (ENGLAND) - VEREINIGTES KOENIGREICH. - FREIZUEGIGKEIT - AUSNAHMEN - AUSLAENDERRECHTLICHE MASSNAHMEN - ENTFERNUNG AUS DEM HOHEITSGEBIET - VORHERIGE STELLUNGNAHME DER ZUSTAENDIGEN STELLE. - RECHTSSACHE C-175/94.

Entscheidungsgründe:

1 Der Court of Appeal hat mit Beschluß vom 10. Februar 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 64/221/EWG des Rats vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850; im folgenden: Richtlinie), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer Klage, die John Gallagher (im folgenden: Kläger) vor dem Court of Appeal gegen die Ausweisungsverfügung erhoben hat, die der Secretary of State for the Home Department (Innenminister; im folgenden: Secretary of State) gestützt auf Section 7 (1) und (2) des Prevention of Terrorism (Temporary Provisions) Act 1989 (Gesetz zur Verhütung des Terrorismus [Übergangsbestimmungen] von 1989; im folgenden: Gesetz) gegen ihn erlassen hat.

3 In Section 7 des Gesetzes heisst es:

(1) Ist der Secretary of State davon überzeugt, daß eine Person

(a) an der Begehung, Vorbereitung oder Anstiftung terroristischer Handlungen beteiligt ist oder war, für die dieser Teil des vorliegenden Gesetzes gilt,...

so kann der Secretary of State gegen sie eine Ausweisungsverfügung erlassen.

(2) Eine Ausweisungsverfügung im Sinne dieser Section ist eine Verfügung, durch die einer Person untersagt wird, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten oder dorthin einzureisen.

4 Gemäß Anhang 2 des Gesetzes können zu Ausweisungsverfügungen Erklärungen abgegeben werden. Seine Abschnitte 3 und 4 lauten wie folgt:

3. (1) Wenn die Person, gegen die eine Ausweisungsverfügung ergeht, nach der Zustellung der Mitteilung über den Erlaß der Verfügung Einwände gegen sie hat, kann sie

(a) beim Secretary of State schriftliche Erklärungen abgeben, in denen sie die Gründe für ihre Einwände darlegt,

und

(b) in diesen Erklärungen um eine persönliche Unterredung mit der Person oder den Personen ersuchen, die der Secretary of State gemäß dem nachfolgenden Unterabschnitt (5) benennt.

...

(5) Übt eine Person diese Rechte innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist aus, so ist die Angelegenheit einer oder mehreren vom Secretary of State benannten Personen zur Stellungnahme vorzulegen.

...

4. (1) Erhält der Secretary of State Erklärungen zu einer Ausweisungsverfügung gemäß dem obigen Abschnitt 3, so überprüft er die Angelegenheit, sobald dies in sinnvoller Weise geschehen kann, nachdem er die Erklärungen und einen etwaigen Bericht über eine in der Angelegenheit gemäß Abschnitt 3 gewährte Unterredung erhalten hat.

(2) Bei der Überprüfung einer Angelegenheit gemäß diesem Abschnitt hat der Secretary of State alles zu berücksichtigen, was ihm bedeutsam erscheint, insbesondere

(a) die ihm gegenüber in der Angelegenheit gemäß dem obigen Abschnitt 3 abgegebenen Erklärungen,

(b) die Stellungnahme der Person oder der Personen, an die er die Angelegenheit gemäß Abschnitt 3 abgegeben hatte, und

(c) den Bericht über eine etwaige in der Angelegenheit gemäß Abschnitt 3 gewährte Unterredung.

5 1983 wurde der Kläger, ein irischer Staatsangehöriger, in Irland wegen des Besitzes von zwei Gewehren zu gesetzwidrigen Zwecken zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Zwischen Mai 1987 und September 1989 begab er sich zur Arbeitssuche in das Vereinigte Königreich. Von April 1990 bis September 1991 arbeitete er dann dort.

6 Am 24. September 1991 wurde der Kläger in Anwendung von Section 14 des Gesetzes von 1989 verhaftet. Am 27. September 1991 wurde ihm eine auf Section 7 des Gesetzes gestützte Ausweisungsverfügung zugestellt, die damit begründet wurde, daß er nach der Überzeugung des Secretary of State an der Begehung, Vorbereitung oder Anstiftung terroristischer Handlungen im Zusammenhang mit den Geschehnissen in Nordirland beteiligt gewesen sei.

7 Nach seiner Ausweisung erhob der Kläger gemäß Anhang 2 Abschnitt 3 Absatz 1 des Gesetzes Einwände gegen die Ausweisungsverfügung; er gab beim Secretary of State schriftliche Erklärungen ab, in denen er die Gründe für seine Einwände darlegte, und ersuchte um eine persönliche Unterredung mit einer vom Secretary of State benannten Person, die am 6. Dezember 1991 in der britischen Botschaft in Dublin stattfand. Bei dieser Unterredung gab die vom Secretary of State benannte Person ihre Identität nicht preis und erteilte auch keine Informationen über die Gründe für die Ausweisung. Der Secretary of State überprüfte die Angelegenheit gemäß Anhang 2 Abschnitt 4 des Gesetzes, ohne jedoch seine Entscheidung zu ändern.

8 Der Kläger erhob Klage gegen die Ausweisungsverfügung, die Weigerung, sie zurückzunehmen, die Benennung des Beraters, mit dem er die Unterredung geführt hatte, und die Entscheidung, dessen Identität nicht preiszugeben. In der Berufungsinstanz macht der Kläger u. a. geltend, er sei entgegen den Erfordernissen von Artikel 9 der Richtlinie aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen worden, noch bevor er seine Erklärungen zu der Verfügung habe abgeben und die vom Secretary of State benannte Person habe treffen können. Darüber hinaus sei diese Person aufgrund der Art und Weise ihrer Benennung für die Abgabe der in Artikel 9 vorgesehenen Stellungnahme nicht zuständig gewesen.

9 Da der Court of Appeal Zweifel hat, wie diese Bestimmung auszulegen ist, hat er beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1) Verbietet es Artikel 9 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 dem Secretary of State for the Home Department, eine Ausweisungsverfügung gemäß Section 7 des Prevention of Terrorism (Temporary Provisions) Act 1989 zu erlassen, bevor er die Stellungnahme einer zuständigen Stelle erhalten hat, wenn die einschlägigen Bestimmungen von Anhang 2 des Gesetzes von 1989 vorsehen, daß

a) eine Person, gegen die eine solche Verfügung ergeht, gegenüber einer zuständigen Stelle Erklärungen abgeben kann und

b) der Secretary of State, wenn solche Erklärungen abgegeben werden, verpflichtet ist, die Stellungnahme dieser zuständigen Stelle zu berücksichtigen und die Berechtigung des Erlasses einer Ausweisungsverfügung zu überprüfen, bevor die Person aus dem Vereinigten Königreich abgeschoben wird (sofern sie sich nicht auf andere Weise mit der Abschiebung aus dem Vereinigten Königreich einverstanden erklärt)?

2) Hindert die Tatsache, daß eine Person vom Secretary of State for the Home Department benannt wird, diese Person daran, zuständige Stelle im Sinne von Artikel 9 der Richtlinie 64/221 vom 25. Februar 1964 zu sein?

10 In seinen Fragen nimmt der Court of Appeal auf Artikel 9 der Richtlinie Bezug, ohne klarzustellen, ob sich die Anrufung des Gerichtshofes auf die Auslegung von Absatz 1 oder Absatz 2 dieser Bestimmung bezieht.

11 Die Kommission hat in ihren Erklärungen geltend gemacht, da irische Staatsangehörige nach den für sie geltenden Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs keine Aufenthaltserlaubnis benötigten, um dort wohnen zu können, falle die Entscheidung, einen irischen Staatsangehörigen auszuweisen, der im Vereinigten Königreich arbeite und keine Aufenthaltserlaubnis erhalten habe, in den Anwendungsbereich von Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie. Das Vereinigte Königreich hat sich in der Sitzung dieser Auslegung angeschlossen.

12 Artikel 9 der Richtlinie lautet:

(1) Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmässigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet ausser in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann.

Diese Stelle muß eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.

(2) Die Entscheidungen über die Verweigerung der ersten Aufenthaltserlaubnis sowie die Entscheidungen über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet vor Erteilung einer solchen Erlaubnis werden der Stelle, deren vorherige Stellungnahme in Absatz (1) vorgesehen ist, auf Antrag des Betroffenen zur Prüfung vorgelegt. Dieser ist dann berechtigt, persönlich seine Verteidigung wahrzunehmen, ausser wenn Gründe der Sicherheit des Staates dem entgegenstehen.

13 Wie sich aus dem Wortlaut von Artikel 9 der Richtlinie ergibt, betrifft Absatz 1 die Entscheidung über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, während Absatz 2 die vor der Erteilung einer solchen Erlaubnis getroffene Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet betrifft.

14 Somit bezieht sich Artikel 9 Absatz 1 auf den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich bereits rechtmässig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält. Dies trifft nicht nur auf den Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis zu, sondern auch auf einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats keine Aufenthaltserlaubnis benötigt. Folglich gilt diese Bestimmung auch für eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, die gegenüber einem solchen Staatsangehörigen getroffen wird.

Zur ersten Frage

15 Die erste Frage des Court of Appeal geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie so auszulegen ist, daß die Stellungnahme der zuständigen Stelle nach dem Erlaß der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ergehen kann, wobei die Verwaltungsbehörde, die diese Entscheidung erlassen hat, auf eine Beschwerde des Betroffenen hin ausser in dringenden Fällen verpflichtet ist, die Entscheidung anhand dieser Stellungnahme zu überprüfen.

16 Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie soll nach ständiger Rechtsprechung Personen, denen gegenüber eine Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis getroffen wird, oder Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis, gegen die eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ergeht, eine verfahrensrechtliche Mindestgarantie gewährleisten. Nach dieser Bestimmung, die anwendbar ist, sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmässigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, ist für die Stellungnahme eine andere Stelle zuständig als diejenige, die für die Entscheidung zuständig ist. Der Betroffene muß sich vor der erstgenannten Stelle entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen und unterstützen oder vertreten lassen können (vgl. u. a. Urteil vom 18. Oktober 1990 in den Rechtssachen C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Randnr. 62).

17 Wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat, soll das Tätigwerden der zuständigen Stelle im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmässigkeit der beabsichtigten Maßnahme ermöglichen, bevor die Entscheidung endgültig erlassen wird (Urteile vom 18. Mai 1982 in den Rechtssachen 115/81 und 116/81, Adoui und Cornuaille, Slg. 1982, 1665, Randnr. 15, und vom 22. Mai 1980 in der Rechtssache 131/79, Santillo, Slg. 1980, 1585, Randnr. 12). Die Verwaltungsbehörde darf ihre Entscheidung ausser in dringenden Fällen erst treffen, nachdem die zuständige Stelle ihre Stellungnahme abgegeben hat (Urteile vom 5. März 1980 in der Rechtssache 98/79, Pecastaing, Slg. 1980, 691, Randnr. 17, und Dzodzi, a. a. O., Randnr. 62).

18 Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs ist der Zweck von Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie erfuellt, wenn der Betroffene die dort genannten Rechte ausüben kann. Im vorliegenden Fall ermögliche das Gesetz es aber den Personen, denen gegenüber eine Ausweisungsverfügung ergangen sei, Erklärungen vor einer zuständigen Stelle abzugeben, und verpflichte den Secretary of State, gegebenenfalls die Stellungnahme dieser Stelle zu prüfen und die Berechtigung seiner Entscheidung zu überprüfen, bevor er den Betroffenen aus dem Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs abschiebe.

19 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

20 Wie der Generalanwalt nämlich in Nummer 19 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, besteht der Unterschied zwischen den Absätzen 1 und 2 des Artikels 9 gerade darin, daß in den von Absatz 1 erfassten Fällen die Stellungnahme dem Erlaß der Entscheidung vorausgehen muß, während in den von Absatz 2 erfassten Fällen die Stellungnahme nach dem Erlaß der Entscheidung und nur auf Antrag des Betroffenen eingeholt wird, falls er die Entscheidung anficht.

21 Wäre Artikel 9 Absatz 1 in der vom Vereinigten Königreich befürworteten Weise auszulegen, so würde die Vorschrift in Absatz 2 aber ihre Besonderheit gegenüber der Vorschrift in Absatz 1 dieses Artikels verlieren.

22 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 dahin auszulegen ist, daß er es der Verwaltungsbehörde ausser in dringenden Fällen verbietet, eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu treffen, bevor eine zuständige Stelle ihre Stellungnahme abgegeben hat.

Zur zweiten Frage

23 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie der Bestimmung der dort erwähnten zuständigen Stelle durch die Behörde, die auch die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet trifft, entgegensteht.

24 Die Richtlinie legt nicht fest, wie die in Artikel 9 genannte zuständige Stelle bestimmt wird. Sie schreibt nicht vor, daß diese Stelle ein Gericht sein oder aus Richtern bestehen muß. Sie verlangt auch nicht, daß deren Mitglieder für eine bestimmte Zeit ernannt werden. Entscheidend ist, daß eindeutig feststeht, daß die Stelle ihre Aufgaben in völliger Unabhängigkeit wahrnimmt und dabei weder unmittelbar noch mittelbar der Kontrolle durch die Behörde unterliegt, die für den Erlaß der in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen zuständig ist, und daß sie ein Verfahren anwendet, das es dem Betroffenen ermöglicht, sich unter den in der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen zu verteidigen (Urteile Dzodzi, a. a. O., Randnr. 65, und Adoui und Cornuaille, a. a. O., Randnr. 16). Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Einzelfall zu prüfen, ob diese Anforderungen erfuellt sind.

25 Hinsichtlich der Form der Stellungnahme der zuständigen Stelle ergibt sich aus den Zielen des durch die Richtlinie vorgesehenen Systems, daß diese Stellungnahme dem Betroffenen ordnungsgemäß mitgeteilt werden muß; die Richtlinie verlangt aber nicht, daß in der Stellungnahme die Namen der Mitglieder der Stelle oder ihre Eigenschaft angegeben werden (Urteil Adoui und Cornuaille, a. a. O., Randnr. 18); diese Angaben sind nur insoweit von Bedeutung, als sie es dem nationalen Gericht ermöglichen, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Mitglieder der Stelle zu beurteilen.

26 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie der Bestimmung der dort erwähnten zuständigen Stelle durch die Behörde, die auch die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet trifft, nicht entgegensteht, sofern diese Stelle ihre Aufgaben in völliger Unabhängigkeit wahrnehmen kann und nicht der Kontrolle durch die Behörde unterliegt, die für den Erlaß der in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen zuständig ist. Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Einzelfall zu prüfen, ob diese Anforderungen erfuellt sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

27 Die Auslagen des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Court of Appeal mit Beschluß vom 10. Februar 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ist dahin auszulegen, daß er es der Verwaltungsbehörde ausser in dringenden Fällen verbietet, eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu treffen, bevor eine zuständige Stelle ihre Stellungnahme abgegeben hat.

2) Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 steht der Bestimmung der dort erwähnten zuständigen Stelle durch die Behörde, die auch die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet trifft, nicht entgegen, sofern diese Stelle ihre Aufgaben in völliger Unabhängigkeit wahrnehmen kann und nicht der Kontrolle durch die Behörde unterliegt, die für den Erlaß der in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen zuständig ist. Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Einzelfall zu prüfen, ob diese Anforderungen erfuellt sind.

Ende der Entscheidung

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