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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.05.1994
Aktenzeichen: C-18/93
Rechtsgebiete: VO (EWG) Nr. 4055/86, EWG-Vertrag


Vorschriften:

VO (EWG) Nr. 4055/86 Art. 1
EWG-Vertrag Art. 90
EWG-Vertrag Art. 86
EWG-Vertrag Art. 30
EWG-Vertrag Art. 5
EWG-Vertrag Art. 7
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Nach Artikel 177 EWG-Vertrag hängt die Anrufung des Gerichtshofes nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht die Vorlagefrage abfasst, streitigen Charakter aufweist, wenngleich es im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegen kann, daß eine Vorlagefrage erst nach einer streitigen Verhandlung gestellt wird.

2. In dem Verfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag ist der Gerichtshof für eine Beantwortung gegenüber dem Gericht, das ihm ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hat, nicht zuständig, wenn die ihm vorgelegten Fragen keinen Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits aufweisen und folglich für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht objektiv erforderlich sind.

3. Es verstösst gegen Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung Nr. 4055/86 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern, wenn in einem Mitgliedstaat auf gleiche Lotsendienste unterschiedliche Tarife angewendet werden, je nachdem ob das Schiff, das von einem Unternehmen betrieben wird, das Beförderungen im Seeverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten vornimmt, zur Seekabotage, die den unter der Flagge dieses Staates fahrenden Schiffen vorbehalten ist, zugelassen ist oder nicht. Eine derartige Praxis stellt nämlich eine ° zumindest mittelbare ° Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, da unter inländischer Flagge fahrende Schiffe in der Regel von inländischen Wirtschaftsteilnehmern betrieben werden, während Verkehrsunternehmer aus anderen Mitgliedstaaten im allgemeinen keine im erstgenannten Mitgliedstaat registrierten Schiffe betreiben.

4. Obwohl die Schaffung einer beherrschenden Stellung durch die Gewährung ausschließlicher Rechte im Sinne von Artikel 90 Absatz 1 EWG-Vertrag für sich genommen nicht mit Artikel 86 EWG-Vertrag unvereinbar ist, verbieten es diese beiden Bestimmungen einer nationalen Behörde, ein Unternehmen, das das ausschließliche Recht hat, vorgeschriebene Lotsendienste auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes anzubieten, durch Genehmigung seiner Tarife dazu zu veranlassen, unterschiedliche Tarife auf Seeschiffahrtsunternehmen anzuwenden, je nachdem ob diese Unternehmen Beförderungen zwischen Mitgliedstaaten oder aber zwischen inländischen Häfen vornehmen, da eine derartige Diskriminierung den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 17. MAI 1994. - CORSICA FERRIES ITALIA SRL GEGEN CORPO DEI PILOTI DEL PORTO DI GENOVA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNALE DI GENOVA - ITALIEN. - PFLICHT ZUR INANSPRUCHNAHME VON LOTSENDIENSTEN - DISKRIMINIERENDE TARIFE - FREIER DIENSTLEISTUNGSVERKEHR - WETTBEWERB. - RECHTSSACHE C-18/93.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunale Genua hat mit Beschluß vom 14. Dezember 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Januar 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag fünf Fragen nach der Auslegung der Artikel 5, 7, 30, 59, 85, 86 und 90 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Corsica Ferries Italia SRL (im folgenden: Antragstellerin) und dem Corpo dei piloti del porto di Genova (Lotsenkorps des Hafens von Genua; im folgenden: Antragsgegner) über die Erstattung eines Teils der Gebühren, die die Antragstellerin für Lotsendienste im Hafen von Genua entrichtet hat.

3 Die Lotsendienste in den italienischen Seehäfen, die im Codice della navigazione (Schiffahrtsordnung) und der dazu ergangenen Durchführungsverordnung geregelt sind, werden von durch Dekret des Präsidenten der Republik errichteten rechtsfähigen Lotsenkorps erbracht, die der Aufsicht und der Weisungsbefugnis des Hafendirektors unterstehen.

4 Obwohl die Inanspruchnahme von Lotsendiensten grundsätzlich freigestellt ist, ist sie durch Dekrete des Präsidenten der Republik für nahezu alle italienischen Häfen einschließlich des Hafens von Genua vorgeschrieben worden. Schiffskapitäne, die die Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Lotsendiensten nicht beachten, machen sich strafbar.

5 Die (vom Lotsenkorps festgelegten) Tarife für die Lotsendienste werden vom Minister für die Handelsflotte nach Anhörung der betroffenen Verbände genehmigt und in jedem Hafen durch Dekret der zuständigen Seeschiffahrtsbehörde für anwendbar erklärt.

6 Gemäß Dekreten des Seeschiffahrtsdirektors von 1989, 1990 und 1991 wurden im Hafen von Genua verschiedene Ermässigungen des Grundtarifs gewährt, nämlich eine Ermässigung von 30 % für Schiffe, die zur Seekabotage, also zu Beförderungen zwischen zwei italienischen Häfen, zugelassen sind, eine Ermässigung von 50 % für Linienschiffe, die zur Seekabotage zugelassen sind, nach einem festen Fahrplan auf einer festen Route zwischen italienischen Häfen verkehren und mindestens einmal wöchentlich den Hafen von Genua anlaufen, sowie andere Ermässigungen für Schiffe von mehr als 2 000 BRT, die zur Seekabotage zugelassen sind und Lotsendienste monatlich in einer bestimmten Anzahl von Fällen in Anspruch nehmen.

7 Im entscheidungserheblichen Zeitraum konnten nur unter italienischer Flagge fahrende Schiffe zur Seekabotage zugelassen werden.

8 Die Antragstellerin, eine Gesellschaft italienischen Rechts betreibt als Seeschiffahrtsunternehmen mit zwei in Panama registrierten und unter panamaischer Flagge fahrenden Fährschiffen einen Linienverkehr zwischen dem Hafen von Genua und verschiedenen korsischen Häfen.

9 Da die Antragstellerin ihrer Ansicht nach unter Verstoß gegen die Vorschriften des EWG-Vertrags über den Wettbewerb und den freien Dienstleistungsverkehr diskriminiert worden ist, leitete sie beim Tribunale Genua ein Mahnverfahren nach den Artikeln 633 ff. der italienischen Zivilprozessordnung ein, in dem sie die Erstattung der Differenz zwischen dem von ihr entrichteten Grundtarif und dem ermässigten Tarif für zur Seekabotage zugelassene Schiffe erstrebt.

10 Im Rahmen dieses Rechtsstreits hat das Tribunale Genua dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Sind Vorschriften einer nationalen Rechtsordnung, die für Schiffe, die im Linienverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten eingesetzt sind, als Entgelt für im Interesse der Sicherheit der Schiffahrt vorgeschriebene Lotsendienste allein für zur "Kabotage" zwischen inländischen Häfen zugelassene Schiffe niedrigere Tarife vorsehen, mit den Artikeln 5 und 7 EWG-Vertrag vereinbar, wenn beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Kabotage zwischen inländischen Häfen ausschließlich den unter italienischer Flagge fahrenden Schiffen vorbehalten ist.

2) Sind Vorschriften oder Praktiken der nationalen Rechtsordnung mit Artikel 30 EWG-Vertrag vereinbar, nach denen die Inanspruchnahme des Lotsenunternehmens zwingend vorgeschrieben ist, auch wenn die gleichen Operationen unter Wahrung der Sicherheit der Schiffahrt ganz oder teilweise mit geringeren Kosten von Angehörigen der Schiffsbesatzung oder mit Mitteln und Technologien, über die das Schiff verfügt, ausgeführt werden können?

3) Sind Vorschriften der nationalen Rechtsordnung mit Artikel 59 EWG-Vertrag vereinbar, nach denen im Fall von Schiffen, die im Linienverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten eingesetzt werden, Ermässigungen der verbindlichen Tarife für die Lotsendienste in inländischen Häfen nur unter inländischer Flagge fahrenden Schiffen gewährt werden können?

4) Stellt es eine "Bestätigung" eines nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verbotenen Kartells dar, wenn der Staat einen verbindlichen Tarif genehmigt, der auf einer Vereinbarung und/oder auf einer Abstimmung zwischen den Unternehmensvereinigungen des Sektors beruht, und kann bei Bejahung dieser Frage eine derartige Bestätigung mit Artikel 90 Absatz 1 in Verbindung mit den Artikeln 5 und 85 EWG-Vertrag vereinbar sein?

5) Sind nationale Vorschriften mit Artikel 90 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 86 EWG-Vertrag vereinbar, die es einem Unternehmen in beherrschender Stellung, dem ausschließliche Rechte für einen wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes eingeräumt worden sind, gestatten:

a) auf im Linienverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten eingesetzte Schiffe für gleichwertige Leistungen unterschiedliche Bedingungen anzuwenden, wenn in den geltenden Tarifbestimmungen bei gleichen Leistungen Tarifermässigungen tatsächlich nur für unter inländischer Flagge fahrende Schiffe vorgesehen sind,

b) folglich auf unter ausländischer Flagge fahrende Schiffe Tarife anzuwenden, die ein "dreimal" höheres Entgelt vorsehen als für inländische Schiffe,

c) die Kosten einer vorgeschriebenen Dienstleistung der hier fraglichen Art nicht zu ermässigen, wenn das Schiff - unter weitestgehender, allen Aspekten Rechnung tragender Beachtung der Erfordernisse der Sicherheit der Schiffahrt - in der Lage ist, zumindest teilweise selbständig zu manövrieren?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Beantwortung der Fragen

11 Der Antragsgegner, die französische und die italienische Regierung sowie die Kommission verneinen aus verschiedenen Gründen, daß der Gerichtshof für die Beantwortung aller Fragen des vorlegenden Gerichts zuständig sei. Sie weisen insoweit zunächst darauf hin, daß das vorlegende Gericht wegen des Fehlens einer streitigen Verhandlung im Mahnverfahren nicht berücksichtigt habe, daß die Schiffe in Panama registriert seien; ferner machen sie geltend, daß die gestellten Fragen oder einige von ihnen für den Antrag, über den das vorlegende Gericht zu entscheiden habe, nicht erheblich seien.

12 Was die Natur des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht angeht, so hat der Gerichtshof bereits entschieden, daß der Präsident eines italienischen Gerichts im Rahmen eines Mahnverfahrens nach der italienischen Zivilprozessordnung eine richterliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 177 EWG-Vertrag ausübt und daß die Anrufung des Gerichtshofes nach dieser Vorschrift nicht davon abhängt, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht die Vorlagefragen abfasst, streitigen Charakter aufweist, wenngleich ein streitiges Verfahren im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegen kann (Urteil vom 14. Dezember 1971 in der Rechtssache 43/71, Politi, Slg. 1971, 1039; Urteil vom 21. Februar 1974 in der Rechtssache 162/73, Birra Dreher, Slg. 1974, 201; Urteil vom 28. Juni 1978 in der Rechtssache 70/77, Simmenthal, Slg. 1978, 1453; Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595; Urteil vom 15. Dezember 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-277/91, C-318/91 und C-319/91, Ligur Carni, Slg. 1993, I-6621; Urteil vom 3. März 1994 in den verbundenen Rechtssachen C-332/92, C-333/92 und C-335/92, Eurico, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).

13 Soweit eine unvollständige Sachverhaltsdarstellung behauptet wird, genügt der Hinweis, daß die vor dem Gerichtshof abgegebenen schriftlichen und mündlichen Erklärungen ausreichende Angaben über die Registrierung der Schiffe enthalten, so daß der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte eine sachdienliche Antwort geben kann.

14 Was schließlich die Erheblichkeit der Fragen angeht, so hat der Gerichtshof entschieden, daß er für eine Beantwortung gegenüber dem vorlegenden Gericht nicht zuständig ist, wenn die ihm vorgelegten Fragen keinen Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits aufweisen und folglich für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht objektiv erforderlich sind (Urteile vom 16. Juni 1981 in der Rechtssache 126/80, Salonia, Slg. 1981, 1563; vom 11. Juli 1991 in der Rechtssache C-368/89, Crispoltoni, Slg. 1991, I-3695; vom 28. November 1991 in der Rechtssache C-186/90, Durighello, Slg. 1991, I-5773; vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-343/90, Lourenço Dias, Slg. 1992, I-4673; vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-67/91, Asociación española de Banca privada u. a., Slg. 1992, I-4785; Urteil Eurico, a. a. O.; Beschluß vom 26. Januar 1990 in der Rechtssache C-286/88, Falciola, Slg. 1990, I-191).

15 Wie die Kommission zu Recht bemerkt, bezieht sich der Antrag, über den das vorlegende Gericht zu entscheiden hat, ausschließlich auf die angeblich diskriminierende Höhe der von der Antragstellerin entrichteten Gebühr und nicht auf die Pflicht zur Inanspruchnahme der Lotsendienste, die Unabhängigkeit des Tarifs von der technischen Ausstattung des Schiffs oder die Art und Weise, wie dieser Tarif festgesetzt wird.

16 Demnach brauchen nur die erste und die dritte Frage, die sich auf die Beachtung des Diskriminierungsverbots bei der Anwendung der Tarife beziehen, sowie die ersten beiden Teile der fünften Frage beantwortet zu werden, die das Verbot mißbräuchlicher Verhaltensweisen öffentlicher Unternehmen betreffen.

Zum freien Dienstleistungsverkehr in der Seeschiffahrt

17 Mit der ersten und der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob es gegen das Gemeinschaftsrecht verstösst, wenn in einem Mitgliedstaat auf gleiche Lotsendienste unterschiedliche Tarife angewendet werden, je nachdem ob das Unternehmen, das Beförderungen im Seeverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten vornimmt, ein Schiff betreibt, das zur Seekabotage, die den unter der Flagge dieses Staates fahrenden Schiffen vorbehalten ist, zugelassen ist oder nicht.

18 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, daß der in der ersten Frage genannte Artikel 5 EWG-Vertrag, nach dem die Mitgliedstaaten die Erfuellung der Verpflichtungen, die sich aus dem EWG-Vertrag ergeben, sicherzustellen haben, so allgemein formuliert ist, daß seine selbständige Anwendung nicht in Frage kommt, wenn die betreffende Fallgestaltung wie hier durch eine spezifische Vorschrift des EWG-Vertrags geregelt ist (Urteil vom 11. März 1992 in den verbundenen Rechtssachen C-78/90, C-79/90, C-80/90, C-81/90, C-82/90 und C-83/90, Compagnie Commerciale de l' Oüst u. a., Slg. 1992, I-1847, Randnr. 19).

19 Ferner ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 7 EWG-Vertrag (Artikel 6 EG-Vertrag), in dem das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit als allgemeiner Grundsatz niedergelegt ist, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes autonom nur auf durch das Gemeinschaftsrecht geregelte Fallgestaltungen angewendet werden kann, für die der Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom 10. Dezember 1991 in der Rechtssache C-179/90, Merci convenzionali porto di Genova, Slg. 1991, I-5889, Randnr. 11).

20 Das Diskriminierungsverbot ist jedoch für den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs durch Artikel 59 EWG-Vertrag durchgeführt und konkretisiert worden.

21 Im Hinblick auf die Bestimmung der Dienstleistungen, auf die Artikel 59 EWG-Vertrag anzuwenden ist, ist festzustellen, daß eine Regelung über unterschiedliche Tarife für Lotsendienste ein Verkehrsunternehmen wie die Antragstellerin aus zweierlei Gründen beeinträchtigt. Die Lotsendienste stellen eine entgeltliche Dienstleistung des Antragsgegners für die Seeschiffahrtsunternehmen dar, und unterschiedliche Tarife berühren diese in ihrer Eigenschaft als Empfänger dieser Dienstleistungen. Unterschiedliche Tarife beeinträchtigen das Unternehmen jedoch vor allem als Erbringer von Seeverkehrsleistungen, da sie sich auf die Kosten dieser Leistungen auswirken und das Unternehmen damit gegenüber einem Wirtschaftsteilnehmer benachteiligen können, für den der Vorzugstarif gilt.

22 Für die Würdigung der vor dem vorlegenden Gericht streitigen Gebührenregelung im Hinblick auf den freien Dienstleistungsverkehr in der Seeschiffahrt ist erstens zu untersuchen, inwieweit das in Artikel 59 EWG-Vertrag verankerte Diskriminierungsverbot für den Seeverkehrssektor gilt; zweitens ist zu prüfen, ob eine solche Regelung eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bewirkt.

23 Nach Artikel 61 Absatz 1 EWG-Vertrag gelten für den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs die Bestimmungen des Titels über die gemeinsame Verkehrspolitik (siehe insbesondere die Urteile vom 22. Mai 1985 in der Rechtssache 13/83, Parlament/Rat, Slg. 1985, 1513, Randnr. 62, und vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-49/89, Corsica Ferries France, Slg. 1989, 4441, Randnr. 10).

24 Wie der Gerichtshof im Urteil Corsica Ferries France (a. a. O., Randnr. 11) und im Urteil vom 30. April 1986 in den verbundenen Rechtssachen 209/84 bis 213/84 (Asjes, Slg. 1986, 1425, Randnr. 37) entschieden hat, folgt hieraus, daß auf dem Verkehrssektor das Ziel des Artikels 59 EWG-Vertrag, die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs während der Übergangszeit aufzuheben, im Rahmen der in den Artikeln 74 und 75 definierten gemeinsamen Politik hätte erreicht werden müssen.

25 Was den Seeverkehr im besonderen betrifft, so kann der Rat gemäß Artikel 84 Absatz 2 EWG-Vertrag darüber entscheiden, ob, inwieweit und nach welchem Verfahren geeignete Vorschriften für diese Form des Verkehrs zu erlassen sind.

26 Der Rat hat demgemäß auf der Grundlage dieser Bestimmungen die Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 vom 22. Dezember 1986 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern (ABl. L 378, S. 1) erlassen, die am 1. Januar 1987 in Kraft getreten ist.

27 Artikel 1 Absatz 1 dieser Verordnung lautet:

"Der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs in der Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern gilt für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat des Dienstleistungsnehmers."

28 Was den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 4055/86 angeht, so ergibt sich unmittelbar aus ihrem Artikel 1, daß sie für den Seeverkehr zwischen Mitgliedstaaten der im Ausgangsverfahren streitigen Art gilt.

29 Bezueglich des persönlichen Geltungsbereichs der Verordnung Nr. 4055/86 ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 1 von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Dienstleistungsnehmers spricht und nicht auf die Registrierung oder die Flagge der von dem Verkehrsunternehmen betriebenen Schiffe abstellt.

30 Ein Unternehmen kann sich gegenüber dem Staat, in dem es seinen Sitz hat, auf den freien Dienstleistungsverkehr in der Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten und insbesondere auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit berufen, sofern die Leistungen an Dienstleistungsnehmer erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind. In einem Fall der im Ausgangsverfahren streitigen Art bietet das Unternehmen, das seinen Sitz in einem Mitgliedstaat hat und einen Linienverkehr mit einem anderen in der Verordnung Nr. 4055/86 genannten Staat betreibt, diese Dienstleistungen naturgemäß insbesondere im letztgenannten Staat ansässigen Personen an.

31 Der im Ausgangsverfahren fragliche Sachverhalt geht daher über den rein innerstaatlichen Rahmen hinaus; das gegenteilige Vorbringen der italienischen Regierung ist somit zurückzuweisen.

32 Für die zweitens vorzunehmende Prüfung, ob die vor dem vorlegenden Gericht streitige Gebührenregelung mit der Verordnung Nr. 4055/86 vereinbar sind, ist darauf hinzuweisen, daß sich aus den Randnummern 6 und 7 dieses Urteils ergibt, daß diese Regelung eine Vorzugsbehandlung für Schiffe vorsieht, die zur Seekabotage zugelassen sind, d. h. für Schiffe, die unter inländischer Flagge fahren.

33 Eine solche Regelung bewirkt eine mittelbare Diskriminierung der Wirtschaftsteilnehmer aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit, da unter inländischer Flagge fahrende Schiffe in der Regel von inländischen Wirtschaftsteilnehmern betrieben werden, während Verkehrsunternehmer aus anderen Mitgliedstaaten im allgemeinen keine im erstgenannten Mitgliedstaat registrierten Schiffe betreiben.

34 Dem steht nicht entgegen, daß zur Gruppe der benachteiligten Wirtschaftsteilnehmer auch inländische Verkehrsunternehmer gehören können, die nicht in ihrem Staat registrierte Schiffe betreiben, oder daß der Gruppe der begünstigten Wirtschaftsteilnehmer auch Verkehrsunternehmer aus anderen Mitgliedstaaten angehören können, die im erstgenannten Mitgliedstaat registrierte Schiffe betreiben, denn die begünstigte Gruppe besteht im wesentlichen aus Inländern.

35 Nach alledem ist es einem Mitgliedstaat gemäß Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung Nr. 4055/86 verboten, auf gleiche Lotsendienste unterschiedliche Tarife anzuwenden, je nachdem ob ein Unternehmen - auch mit Sitz in diesem Staat -, das Dienstleistungen im Seeverkehr zwischen diesem und einem anderen Mitgliedstaat erbringt, ein Schiff betreibt, das zur Seekabotage, die den unter der Flagge dieses Staates fahrenden Schiffen vorbehalten ist, zugelassen ist oder nicht.

36 Zu Unrecht versuchen der Antragsgegner und die italienische Regierung die unterschiedlichen Tarife mit Erwägungen der Sicherheit der Schiffahrt oder der nationalen Verkehrspolitik und des Umweltschutzes zu rechtfertigen. Selbst wenn man nämlich unterstellt, daß diese Ziele ein Eingreifen des Staates in den Verkehrssektor rechtfertigen könnten, erscheinen diskriminierende Tarife der vor dem vorlegenden Gericht streitigen Art nicht erforderlich, um die angestrebten Ziele zu erreichen.

37 Auf die erste und die dritte Frage ist folglich zu antworten, daß es gegen Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung Nr. 4055/86, mit der der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs und insbesondere das Diskriminierungsverbot auf dem Gebiet des Seeverkehrs zwischen Mitgliedstaaten durchgeführt werden, verstösst, wenn in einem Mitgliedstaat auf gleiche Lotsendienste unterschiedliche Tarife angewendet werden, je nachdem ob das Unternehmen, das Beförderungen im Seeverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten vornimmt, ein Schiff betreibt, das zur Seekabotage, die den unter der Flagge dieses Staates fahrenden Schiffen vorbehalten ist, zugelassen ist oder nicht.

Zu den Wettbewerbsregeln

38 Mit dem ersten und dem zweiten Teil der fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob die Artikel 90 Absatz 1 und 86 EWG-Vertrag es einer nationalen Behörde verbieten, es einem Unternehmen, das das ausschließliche Recht hat, vorgeschriebene Lotsendienste auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes anzubieten, zu ermöglichen, unterschiedliche Tarife auf Seeschiffahrtsunternehmen anzuwenden, je nachdem ob diese Unternehmen Beförderungen zwischen Mitgliedstaaten oder aber zwischen inländischen Häfen vornehmen.

39 Dem Antragsgegner ist vom Staat das ausschließliche Recht gewährt worden, die vorgeschriebenen Lotsendienste im Hafen von Genua zu erbringen.

40 Ein Unternehmen, das für einen wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes mit einem gesetzlichen Monopol ausgestattet ist, kann als ein Unternehmen angesehen werden, das eine beherrschende Stellung im Sinne von Artikel 86 EWG-Vertrag besitzt (Urteile vom 23. April 1991 in der Rechtssache C-41/90, Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979, Randnr. 28, und vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 31, sowie Urteil Merci convenzionali porto di Genova, a. a. O., Randnr. 14).

41 Relevanter Markt ist hier der Markt für Lotsendienste im Hafen von Genua. Insbesondere angesichts des Verkehrsaufkommens in diesem Hafen und dessen Bedeutung für die gesamte Ein- und Ausfuhr auf dem Seeweg in den betreffenden Mitgliedstaat kann dieser Markt als ein wesentlicher Teil des Gemeinsamen Marktes angesehen werden (Urteil Merci convenzionali porto di Genova, a. a. O., Randnr. 15).

42 Die Schaffung einer beherrschenden Stellung durch die Gewährung ausschließlicher Rechte im Sinne von Artikel 90 Absatz 1 ist für sich genommen nicht mit Artikel 86 EWG-Vertrag unvereinbar.

43 Ein Mitgliedstaat verstösst jedoch gegen die in diesen beiden Bestimmungen enthaltenen Verbote, wenn er das Unternehmen durch Genehmigung der von diesem festgesetzten Tarife dazu veranlasst, seine beherrschende Stellung mißbräuchlich auszunutzen, indem es u. a. im Sinne von Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe c EWG-Vertrag bei gleichwertigen Leistungen unterschiedliche Bedingungen gegenüber Handelspartnern anwendet.

44 Da die im Vorlagebeschluß genannten diskriminierenden Verhaltensweisen Unternehmen berühren, die Beförderungen zwischen zwei Mitgliedstaaten vornehmen, sind sie geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.

45 Auf den ersten und den zweiten Teil der fünften Frage ist somit zu antworten, daß die Artikel 90 Absatz 1 und 86 EWG-Vertrag es, sofern der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird, einer nationalen Behörde verbieten, ein Unternehmen, das das ausschließliche Recht hat, vorgeschriebene Lotsendienste auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes anzubieten, durch Genehmigung der von ihm festgesetzten Tarife dazu zu veranlassen, unterschiedliche Tarife auf Seeschiffahrtsunternehmen anzuwenden, je nachdem ob diese Unternehmen Beförderungen zwischen Mitgliedstaaten oder aber zwischen inländischen Häfen vornehmen.

Kostenentscheidung:

Kosten

46 Die Auslagen der französischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunale Genua mit Beschluß vom 14. Dezember 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Es verstösst gegen Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern, wenn in einem Mitgliedstaat auf gleiche Lotsendienste unterschiedliche Tarife angewendet werden, je nachdem ob das Unternehmen, das Beförderungen im Seeverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten vornimmt, ein Schiff betreibt, das zur Seekabotage, die den unter der Flagge dieses Staates fahrenden Schiffen vorbehalten ist, zugelassen ist oder nicht.

2) Die Artikel 90 Absatz 1 und 86 EWG-Vertrag verbieten es, sofern der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird, einer nationalen Behörde, ein Unternehmen, das das ausschließliche Recht hat, vorgeschriebene Lotsendienste auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes anzubieten, durch Genehmigung der von ihm festgesetzten Tarife dazu zu veranlassen, unterschiedliche Tarife auf Seeschiffahrtsunternehmen anzuwenden, je nachdem ob diese Unternehmen Beförderungen zwischen Mitgliedstaaten oder aber zwischen inländischen Häfen vornehmen.

Ende der Entscheidung

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