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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.06.1993
Aktenzeichen: C-181/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 123
EWG-Vertrag Art. 203
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Nichtigkeitsklage ist gegen alle Handlungen der Organe ohne Unterschied ihrer Rechtsnatur, ihrer Form oder ihrer Fassung zulässig, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen. Jedoch können Handlungen der Vertreter der Mitgliedstaaten, die nicht als Ratsmitglieder, sondern als Vertreter ihrer Regierungen handeln und auf diese Weise gemeinsam Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten ausüben, vom Gerichtshof nicht auf ihre Rechtmässigkeit überprüft werden.

Die humanitäre Hilfe zugunsten eines Drittstaats fällt nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft. Die Entscheidung der Vertreter der Mitgliedstaaten über eine solche Hilfe stellt daher keine mit der Klage anfechtbare Gemeinschaftshandlung dar. Dabei spielt es keine Rolle, daß diese Entscheidung auf einen Vorschlag der Kommission Bezug nimmt, da ein solcher Vorschlag nicht im Rahmen von Artikel 149 EWG-Vertrag ergehen muß, daß die Kommission die Hilfe verwaltet, da Artikel 155 EWG-Vertrag nicht ausschließt, daß die Mitgliedstaaten die Kommission damit betrauen, für die Koordinierung einer von ihnen gemeinsam aufgrund einer Handlung ihrer im Rat vereinigten Vertreter unternommenen Aktion zu sorgen; daß die Beiträge der Mitgliedstaaten nach Maßgabe eines Verteilungsschlüssels festgelegt werden, der mit dem für ihren Beitrag zum Gemeinschaftshaushalt verwendeten identisch ist, da nichts dem entgegensteht, diesen Schlüssel für eine von den Vertretern der Mitgliedstaaten beschlossene Aktion zu verwenden; und daß schließlich ein Teil dieser Hilfe in den Haushaltsplan der Gemeinschaft eingesetzt werden kann, weil dieser Vorgang in der fraglichen Entscheidung nicht vorgeschrieben ist und daher keinen Einfluß auf deren Beurteilung hat.

2. Der Umstand, daß Einnahmen und Ausgaben bezueglich einer im Rahmen einer gemeinsamen Aktion der Mitgliedstaaten gewährten und von diesen unmittelbar finanzierten Hilfe in den Haushaltsplan der Gemeinschaft eingesetzt werden, verletzt die Rechte des Parlaments in Haushaltssachen nicht und kann daher nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage des Parlaments nach Artikel 173 EWG-Vertrag sein. Die Beiträge der Mitgliedstaaten zur fraglichen Hilfe sind nämlich nicht Teil der Einnahmen der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 199 EWG-Vertrag, und die entsprechenden Ausgaben bilden auch keine Ausgaben der Gemeinschaft. Der Umstand, daß die entsprechenden Beträge in den Haushaltsplan der Gemeinschaft eingesetzt werden, führt also nicht zu dessen Änderung, so daß eine Beteiligung des Parlaments im Rahmen der diesem in Artikel 203 EWG-Vertrag übertragenen Rechte nicht erforderlich ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 30. JUNI 1993. - EUROPAEISCHES PARLAMENT GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN UND KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - SOFORTHILFE - BEFUGNISSE DES PARLAMENTS - HAUSHALTSBESTIMMUNGEN. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-181/91 UND C-248/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Parlament hat mit Klageschriften vom 11. Juli 1991 und vom 2. Oktober 1991 gemäß Artikel 173 EWG-Vertrag beantragt, einen im Laufe der 1487. Sitzung des Rates erlassenen Akt über die Gewährung einer Sonderhilfe für Bangladesch sowie die von der Kommission zur Durchführung dieses Aktes ergriffenen Maßnahmen für nichtig zu erklären.

2 Im Laufe einer ordentlichen Sitzung, die am 13. und 14. Mai 1991 in Brüssel unter dem Vorsitz des luxemburgischen Aussenministers Jacques F. Poos stattfand, wurde beschlossen, Bangladesch eine Sonderhilfe zu gewähren. Unter Punkt 12 des Protokolls über diese Sitzung wurde die fragliche Entscheidung wie folgt beschrieben:

"Die im Rat vereinigten Mitgliedstaaten haben aufgrund eines Vorschlags der Kommission beschlossen, im Rahmen einer Gemeinschaftsaktion Bangladesch eine Sonderhilfe in Höhe von 60 Mio. ECU zu gewähren. Die Aufteilung auf die Mitgliedstaaten erfolgt nach dem BSP-Schlüssel. Diese Hilfe wird Bestandteil der allgemeinen von der Gemeinschaft für Bangladesch beschlossenen Aktion. Die Hilfe wird entweder unmittelbar von den Mitgliedstaaten oder über ein von der Kommission verwaltetes Konto geleistet. Die Kommission sorgt für die Gesamtkoordinierung der Sonderhilfe von 60 Mio. ECU."

Diese Entscheidung war unter der Überschrift "Hilfe für Bangladesch ° Schlußfolgerungen des Rates" (Nr. 6004/91, Presse 60-c) Gegenstand einer Pressemitteilung.

3 Daraufhin eröffnete die Kommission ein Sonderkonto bei der Banque Bruxelles Lambert und forderte die Mitgliedstaaten auf, ihren Anteil auf dieses Konto zu überweisen. Dem ist nur Griechenland nachgekommen. Die anderen Mitgliedstaaten haben ihre Beiträge unmittelbar im Rahmen bilateraler Hilfen geleistet.

4 Mit der Klage gegen den Rat beantragt das Parlament, die Entscheidung über die Gewährung einer Sonderhilfe für Bangladesch (im folgenden: der streitige Akt) für nichtig zu erklären.

5 Mit besonderem Schriftsatz hat der Rat mit der Begründung, bei dem angegriffenen Akt handele es sich nicht um einen Ratsakt im Sinne des Artikels 173 EWG-Vertrag, gemäß Artikel 91 der Verfahrensordnung eine prozeßhindernde Einrede erhoben. Am 15. Juni 1992 hat der Gerichtshof beschlossen, die Entscheidung über diese Einrede dem Endurteil vorzubehalten.

6 Mit der gegen die Kommission erhobenen Klage beantragt das Europäische Parlament im übrigen, die zur Durchführung des streitigen Aktes von der Kommission erlassenen Akte für nichtig zu erklären. Es sind dies, erstens, die am 10. Juni von dem für die Haushaltspläne zuständigen Generaldirektor getroffene Entscheidung, unter Artikel 900 (der Einnahmenseite) des Gesamthaushalts der Gemeinschaften für das Jahr 1991 den Betrag von 716 775,45 ECU einzusetzen, der dem Anteil Griechenlands entspricht, der auf das bei der Banque Bruxelles Lambert eröffnete Sonderkonto eingezahlt worden ist; zweitens, die Entscheidung vom 13. Juni 1991, durch die dieser Betrag als verfügbare Mittel auf einer zu diesem Zweck auf der "Ausgaben"-Seite des Haushaltsplans eröffneten zusätzlichen Linie (Posten B7-3000: finanzielle und technische Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern in Asien) eingesetzt würde, und drittens, alle anderen zur Ausführung des Haushaltsplans erlassenen Akte, von denen das Parlament kein Kenntnis gehabt habe (im folgenden: Haushaltsansatz).

7 Mit Beschluß vom 15. Oktober 1992 hat der Präsident gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung die Verbindung der gegen Rat und Kommission anhängig gemachten Rechtssachen angeordnet.

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs sowie des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als es die Begründung des Urteils erfordert.

Zu der Klage gegen den Rat

9 Der Rat beantragt die gegen ihn erhobene Klage für unzulässig zu erklären: Der streitige Akt sei nicht vom Rat, sondern von den Mitgliedstaaten erlassen worden, und er könne deshalb nicht mit einer Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 173 EWG-Vertrag angefochten werden.

10 Unter Hinweis auf die Überschrift des streitigen Aktes ° "Schlußfolgerungen des Rates" ° und die Tatsache, daß er in der 1487. Sitzung des Rates, an der u. a. alle Aussenminister der Mitgliedstaaten teilgenommen hatten, erlassen worden ist, vertritt das Parlament dagegen den Standpunkt, es handele sich um einen Akt des Rates. Mit seinem Erlaß habe der Rat die Befugnisse verletzt, die dem Parlament im Haushaltsrecht gemäß Artikel 203 EWG-Vertrag zustuenden.

11 Gemäß Artikel 173 ist es Aufgabe des Gerichtshofes, "die Rechtmässigkeit des Handelns des Rates und der Kommission, soweit es sich nicht um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt", zu überwachen.

12 Der Wortlaut dieser Vorschrift zeigt deutlich, daß Akte der Vertreter der Mitgliedstaaten, die nicht als Ratsmitglieder, sondern als Vertreter ihrer Regierungen handeln und auf diese Weise gemeinsam Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten ausüben, vom Gerichtshof nicht auf ihre Rechtmässigkeit überprüft werden können. Wie der Generalanwalt unter Nummer 18 seiner Schlussanträge ausführt, spielt es insofern keine Rolle, ob ein derartiger Akt "Akt der im Rat vereinigten Mitgliedstaaten" oder "Akt der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten" genannt wird.

13 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Nichtigkeitsklage jedoch gegen alle Handlungen der Organe, ohne Unterschied ihrer Rechtsnatur oder Form, zulässig, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen (vgl. Urteil vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263).

14 Ein Akt ist folglich nicht allein deshalb der Kontrolle nach Artikel 173 EWG-Vertrag entzogen, weil er als "Entscheidung der Mitgliedstaaten" bezeichnet wird. Es ist vielmehr zu prüfen, ob der fragliche Akt nach seinem Inhalt und den gesamten Umständen, unter denen er erlassen wurde, in Wirklichkeit eine Entscheidung des Rates darstellt.

15 Die Prüfung der Zulässigkeit der Klage hängt also eng mit der Prüfung der gegen den streitigen Akt vorgebrachten Gründe zusammen.

16 Da es auf dem Gebiet der humanitären Hilfe keine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft gibt, sind die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert, ihre Zuständigkeiten in dieser Hinsicht ° im Rat oder ausserhalb des Rates ° gemeinsam auszuüben.

17 Zur Begründung der Klage weist das Parlament zunächst darauf hin, daß in dem streitigen Akt auf einen Vorschlag der Kommission Bezug genommen wird. Dies spreche dafür, daß im vorliegenden Fall angesichts des beim Erlaß des Aktes angewandten Verfahrens der Rat und nicht die Mitgliedstaaten gehandelt hätten.

18 Diese Argumentation ist nicht zwingend. Nicht jeder Vorschlag der Kommission stellt notwendigerweise einen Vorschlag im Sinne des Artikels 149 EWG-Vertrag dar. Welche Rechtsnatur ein Vorschlag hat, richtet sich nach der Gesamtheit der Umstände, unter denen er zustande gekommen ist. Es kann sich auch um eine einfache Initiative in Form eines formlosen Vorschlags handeln.

19 Weiter weist das Parlament darauf hin, daß die Sonderhilfe nach der im Akt gegebenen Beschreibung von der Kommission zu verwalten ist. Gemäß Artikel 155 vierter Gedankenstrich EWG-Vertrag könnten der Kommission aber Durchführungsbefugnisse nur mit einer Ratsentscheidung übertragen werden.

20 Auch dem kann nicht gefolgt werden. Artikel 155 vierter Gedankenstrich EWG-Vertrag schließt nicht aus, daß die Mitgliedstaaten die Kommission damit betrauen, für die Koordinierung einer von ihnen gemeinsam aufgrund eines Aktes ihrer im Rat vereinigten Vertreter unternommenen Aktion zu sorgen.

21 Ferner macht das Parlament geltend, der streitige Akt sehe vor, daß die Sonderhilfe "nach dem BSP-Schlüssel" aufgeteilt werde, was ein typischer Gemeinschaftsbegriff sei.

22 Die Mitgliedstaaten sind aber nach dem EWG-Vertrag nicht daran gehindert, ausserhalb des Gemeinschaftsrahmens Kriterien aus haushaltsrechtlichen Vorschriften zu verwenden, um finanzielle Verpflichtungen, die sich aus Entscheidungen ihrer Vertreter ergeben, aufzuteilen.

23 Schließlich macht das Parlament geltend, bei dem streitigen Akt handele es sich deshalb offensichtlich um einen Gemeinschaftsakt, weil seine Durchführung der in den Artikeln 206a und 206b EWG-Vertrag vorgesehenen Kontrolle des Rechnungshofs und des Parlaments unterworfen sei.

24 Wie sich dem Protokoll des Rates entnehmen lässt, lässt die angegriffene Entscheidung den Mitgliedstaaten die Wahl, ihren Anteil entweder im Rahmen bilateraler Hilfe oder über ein von der Kommission verwaltetes Konto zu leisten. Da der streitige Akt für den von der Kommission zu verwaltenden Teil der Hilfe den Rückgriff auf den Gemeinschaftshaushalt nicht vorschreibt, kann die von der Kommission vorgenommene Einsetzung in den Haushaltsplan keinen Einfluß auf die Beurteilung des Aktes haben.

25 Nach alledem steht fest, daß es sich bei dem streitigen Akt nicht um einen Akt des Rates, sondern um einen von den Mitgliedstaaten gemeinsam erlassenen Akt handelt. Die Klage des Parlaments gegen den Rat ist also unzulässig.

Zur Klage gegen die Kommission

26 Nach Ansicht des Parlaments hat die Kommission dadurch, daß sie den griechischen Beitrag zu der Sonderhilfe für Bangladesch in den Haushaltsplan der Gemeinschaft eingesetzt hat, die haushaltsrechtlichen Vorschriften des EWG-Vertrags verletzt und so die dem Parlament nach dem EWG-Vertrag zustehenden Befugnisse missachtet.

27 Die Kommission beantragt, die Klage des Parlaments deswegen für unzulässig zu erklären, weil die Eintragung in den Haushaltsplan keinen angreifbaren Akt im Sinne des Artikels 173 EWG-Vertrag darstelle und weil die Befugnisse des Parlaments nicht beeinträchtigt worden seien.

28 Für die Beantwortung der Frage, ob die Einsetzung in den Haushaltsplan eine Entscheidung der Kommission darstellt, mit der die Befugnisse des Parlaments verletzt werden können, ist von Bedeutung, daß die angegriffenen Maßnahmen Modalitäten der Durchführung eines Auftrags darstellen, der der Kommission, wie oben unter Randnummer 20 festgestellt worden ist, von den Mitgliedstaaten und nicht vom Rat übertragen worden ist.

29 Diese Maßnahmen beziehen sich auf eine Hilfe, die im Rahmen einer gemeinsamen Aktion der Mitgliedstaaten gewährt und von diesen unnmittelbar finanziert worden ist.

30 Daraus folgt, daß die Beiträge der Mitgliedstaaten zu der Sonderhilfe nicht Teil der Einnahmen der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 199 EWG-Vertrag sind, und daß die entsprechenden Ausgaben auch keine Ausgaben der Gemeinschaft im Sinne dieses Artikels bilden.

31 Der Umstand, daß der griechische Beitrag zu der Sonderhilfe in den Gemeinschaftshaushaltsplan eingesetzt worden ist, hat also nicht zu einer Änderung des Haushaltsplans führen können.

32 Ein solcher Akt kann daher die Befugnisse des Parlaments aus Artikel 203 EWG-Vertrag nicht verletzen. Daher ist auch die Klage gegen die Kommission unzulässig.

Kostenentscheidung:

Kosten

33 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung sind der unterliegenden Partei die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Da das Europäische Parlament mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klagen sind unzulässig.

2) Das Europäische Parlament trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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