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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 29.04.1993
Aktenzeichen: C-182/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 173 Abs. 2
EWG-Vertrag Art. 215 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Nach Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften dürfen die Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein. Diese Befreiung besteht somit von Rechts wegen und macht, wenn keine Ermächtigung des Gerichtshofes vorliegt, die Vollziehung jeder Zwangsmaßnahme gegen die Gemeinschaften unzulässig, ohne daß sich das betroffene Gemeinschaftsorgan ausdrücklich auf Artikel 1 des Protokolls zu berufen braucht; insbesondere braucht es keine entsprechende Erklärung gegenüber dem Pfändungsgläubiger abzugeben. Es obliegt somit letzterem, beim Gerichtshof die Aufhebung der Befreiung zu beantragen, es sei denn, das betroffene Organ erklärt, daß es keine Einwände gegen die Zwangsmaßnahme habe.

Eine Pfändung gemäß dem nationalen Recht kann demnach nicht durchgeführt werden, solange die Befreiung der Gemeinschaften nicht entweder durch Verzicht des betroffenen Organs oder gegebenenfalls durch eine vom Gerichtshof ausgesprochene Ermächtigung aufgehoben worden ist; dies gilt unabhängig von einer durch das nationale Recht festgelegten Frist.

2. Im Zusammenhang mit der ausservertraglichen Haftung der Gemeinschaft kann einem Organ, solange es auf die fragliche Befreiung nicht ausdrücklich verzichtet und der Gerichtshof diese auch nicht aufgehoben hat, die Nichtbefolgung eines Pfändungsbeschlusses nicht zum Vorwurf gemacht werden. Die von dem Organ geltend gemachte Befreiung steht nämlich gerade der Vollziehung des Pfändungsbeschlusses entgegen.

3. Nach dem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau- und Lieferaufträge im Rahmen der finanziellen und technischen Zusammenarbeit gemäß dem Ersten AKP°EWG-Abkommen bleiben die aus dem EEF finanzierten öffentlichen Aufträge nationale Aufträge. Die Unternehmen, die für solche Aufträge ein Angebot einreichen oder an die solche Aufträge vergeben werden, unterhalten daher Rechtsbeziehungen nur mit dem für den Auftrag verantwortlichen Staat. Da die Beteiligung der Kommission nur auf die Feststellung gerichtet ist, ob die Voraussetzungen für eine Gemeinschaftsfinanzierung vorliegen, stellt es kein fehlerhaftes und die Haftung der Gemeinschaft begründendes Verhalten dar, nicht wenn die Kommission an den betreffenden Staat Mittel gemäß den geltenden Finanzierungsbedingungen zahlt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 29. APRIL 1993. - FORAFRIQUE BURKINABE SA GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - NICHTIGKEITSKLAGE - SCHADENSERSATZKLAGE - ABKOMMEN VON LOME - PFAENDUNG. - RECHTSSACHE C-182/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die Firma Forafrique Burkinabe SA hat mit Klageschrift, die am 12. Juli 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 14. Juni 1991 über die Nichtbefolgung des gegen sie erwirkten Pfändungsbeschlusses vom 6. März 1991 und auf Verurteilung der Kommission gemäß den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EWG-Vertrag zum Ersatz des Schadens, den die Klägerin angeblich dadurch erlitten hat, daß die Kommission nach der Zustellung des genannten Pfändungsbeschlusses und nach ihrer Unterrichtung über die Zweckentfremdung von Mitteln durch Burkina Faso weiterhin Zahlungen aus Mitteln des Europäischen Entwicklungsfonds an diesen Staat geleistet hat.

2 Wie aus den Akten hervorgeht, beschloß die Gemeinschaft am 25. September 1987 auf der Grundlage des am 28. Februar 1975 in Lomé unterzeichneten Ersten AKP°EWG-Abkommens (ABl. 1976, L 25, S. 1; im folgenden: Abkommen von Lomé), mit Mitteln des Vierten Europäischen Entwicklungsfonds (im folgenden: EEF) ein von Burkina Faso vorgeschlagenes Vorhaben zu finanzieren, durch das für die Landbevölkerung der Provinz Comö 240 Wasserstellen geschaffen werden sollten (im folgenden: Vorhaben).

3 Am 18. Dezember 1987 wurde gemäß Artikel 40 des Abkommens von Lomé zwischen der Gemeinschaft, vertreten durch die Kommission, und Burkina Faso ein Abkommen über die Finanzierung des Vorhabens geschlossen.

4 Im Rahmen des Vorhabens führte der Staat Burkina Faso im Juni 1988 eine Ausschreibung für die Vornahme von 210 Bohrungen durch. Der Auftrag dafür wurde im August 1989 an das Office National des Puits et Forages (Staatliches Amt für Brunnen und Bohrungen; im folgenden: ONPF) vergeben. Am 15. Dezember 1989 schloß das ONPF mit der Klägerin einen Subunternehmervertrag über die Durchführung von 60 Probebohrungen im Rahmen des Vorhabens, von denen 50 erfolgreich waren. Der Gesamtwert des an die Klägerin vergebenen Auftrags wurde mit 88 837 300 FCFA veranschlagt. Unstreitig wurde der Klägerin vom ONPF ein Betrag in Höhe von 10 % des Auftragswerts als Anzahlung überwiesen.

5 Es ist weiterhin unstreitig, daß die Klägerin die Arbeiten zur Zufriedenheit des Staates Burkina Faso und der Kommission ausgeführt hat. Nach dem Vorbringen der Klägerin hat das ONPF aber den geschuldeten Betrag in Höhe von 85 112 000 FCFA trotz einer an seinen Generaldirektor gerichteten Mahnung der Klägerin vom 9. Oktober 1990 bis zum Abschluß des Verfahrens vor dem Gerichtshof nicht gezahlt. Die klägerische Forderung wurde weder vom ONPF noch vom burkinischen Minister für Wasserversorgung bestritten; sie gaben vielmehr Zahlungsversprechen ab, die jedoch bisher unstreitig nicht eingelöst worden sind.

6 Am 9. Oktober 1990 richtete die Klägerin ferner ein Schreiben an den Vertreter der Europäischen Gemeinschaft in Ouagadougou. Sie teilte ihm darin mit, daß die nach dem Subunternehmervertrag geschuldeten Beträge noch nicht gezahlt worden seien, und ersuchte die Kommission, diesem Umstand bei der Genehmigung von Zahlungen an das ONPF Rechnung zu tragen.

7 Um ihre Forderung zu sichern, erwirkte die Klägerin am 6. März 1991 gemäß Artikel 1445 des belgischen Code judiciaire die Pfändung aller von der Kommission dem Staat Burkina Faso geschuldeten Beträge, und zwar in Höhe des Hauptbetrags von 85 112 000 FCFA zuzueglich Verzugszinsen und Pfändungskosten. Der Pfändungsbeschluß wurde der Kommission am 11. März 1991 über das belgische Aussenministerium zugestellt; mit Schreiben vom 17. April 1991 bestätigte die Kommission den Empfang, ohne Einwände zu erheben.

8 Unstreitig leistete die Kommission nach der Zustellung des Pfändungsbeschlusses bestimmte Zahlungen an Burkina Faso, die sich auf den Auftrag über die Vornahme der 210 Bohrungen bezogen, in dessen Rahmen die Klägerin und das ONPF den Subunternehmervertrag geschlossen hatten. Sie leistete auch Zahlungen an Burkina Faso für andere Vorhaben, in deren Rahmen Aufträge an das ONPF vergeben worden waren.

9 Mit Schreiben vom 14. Juni 1991 teilte die Kommission der Klägerin mit, daß sie dem Pfändungsbeschluß nicht nachzukommen beabsichtige. Sie stützte diese Ablehnung auf Artikel 1 Satz 3 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Protokoll), der folgenden Wortlaut hat:

"Die Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften dürfen ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein."

Die Kommission führte aus, der Pfändungsbeschluß sei geeignet, die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften zu beeinträchtigen. Es sei Sache der Klägerin, gegebenenfalls im Hinblick auf Artikel 1 des Protokolls die Ermächtigung des Gerichtshofes zu beantragen. Ein solches Verfahren ist beim Gerichtshof unstreitig nicht eingeleitet worden.

Zur Nichtigkeitsklage

10 Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 14. Juni 1991, mit der es diese ablehnte, dem ihr zugestellten Pfändungsbeschluß Folge zu leisten. Sie macht insoweit im wesentlichen geltend, nach den Umständen des Falls sei eine Ermächtigung des Gerichtshofes für die Pfändung nicht erforderlich gewesen.

11 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

12 Nach Artikel 1 des Protokolls dürfen die Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung besteht diese Befreiung von Rechts wegen und macht, wenn keine Ermächtigung des Gerichtshofes vorliegt, die Vollziehung jeder Zwangsmaßnahme gegen die Gemeinschaften unzulässig, ohne daß sich das betroffene Gemeinschaftsorgan ausdrücklich auf Artikel 1 des Protokolls zu berufen braucht; insbesondere braucht es keine entsprechende Erklärung gegenüber dem Pfändungsgläubiger abzugeben. Es obliegt somit letzterem, beim Gerichtshof die Aufhebung der Befreiung zu beantragen. Erklärt das betroffene Organ allerdings, daß es keine Einwände gegen die Zwangsmaßnahme habe, so wird der Antrag auf Erteilung der Ermächtigung gegenstandslos und ist vom Gerichtshof nicht zu prüfen (Beschluß des Gerichtshofes vom 17. Juni 1987 in der Rechtssache 1/87 SA, Universe Tankship/Kommission, Slg. 1987, 2807).

13 Da weiterhin die Ermächtigung des Gerichtshofes zur Vornahme behördlicher oder gerichtlicher Zwangsmaßnahmen nur zu dem Zweck verlangt wird, die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften in ihrem Bestand zu schützen, kann der Gerichtshof bei Pfändungen lediglich zur Prüfung der Frage befugt sein, ob diese Maßnahme infolge ihrer Wirkungen nach dem nationalen Recht geeignet ist, die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften zu beeinträchtigen. Das Pfändungsverfahren wird im übrigen vollständig durch das maßgebliche nationale Recht geregelt (Beschluß Universe Tankship, a. a. O.).

14 Eine Pfändung gemäß dem nationalen Recht kann demnach nicht durchgeführt werden, solange die Befreiung der Gemeinschaften nicht entweder durch Verzicht des betroffenen Organs oder gegebenenfalls durch eine vom Gerichtshof ausgesprochene Ermächtigung aufgehoben worden ist; dies gilt unabhängig von einer durch das nationale Recht festgelegten Frist.

15 Hier hat die Klägerin unstreitig niemals eine Ermächtigung zur Vornahme der Pfändung beim Gerichtshof beantragt. Auch die vorliegende Nichtigkeitsklage kann nicht in diesem Sinn ausgelegt werden.

16 Allerdings bleibt zu prüfen, ob nicht das Verhalten der Kommission in der Zeit zwischen der Zustellung des Pfändungsbeschlusses und der Versendung ihres Schreibens vom 14. Juni 1991, mit dem sie der Klägerin mitteilte, daß sie dem Beschluß nicht nachzukommen beabsichtige, als Verzicht auf die im Protokoll vorgesehene Befreiung zu werten ist.

17 Mit ihrem Schreiben vom 17. April 1991 bestätigte die Kommission lediglich die Zustellung des Pfändungsbeschlusses; es stellt daher keinen Verzicht auf die fragliche Befreiung dar, der ausdrücklich erfolgen muß.

18 So bedauerlich des weiteren die langsame Reaktion der Kommission auf die ordnungsgemässe Zustellung durch das Aussenministerium des Aufnahmelandes auch sein mag, kann dieses Verhalten doch nicht als ausdrücklicher Verzicht auf die im Protokoll vorgesehene Befreiung ausgelegt werden. Die Kommission kann daher durch ihr Verhalten nicht daran gehindert sein, sich zu einem späteren Zeitpunkt auf die Befreiung zu berufen.

19 Nach alledem ist die Nichtigkeitsklage abzuweisen.

Die Schadensersatzklage

20 Mit ihrer Schadensersatzklage macht die Klägerin geltend, durch das rechtswidrige Verhalten der Kommission sei ihr ein Schaden verursacht worden. Die Kommission habe dadurch rechtswidrig gehandelt, daß sie dem Pfändungsbeschluß nicht Folge geleistet habe, und unabhängig von der Existenz dieses Beschlusses ferner dadurch, daß sie nach Unterrichtung darüber, daß die Klägerin für ihre im Rahmen des Vorhabens erbrachten Leistungen nicht vergütet worden sei, weil Burkina Faso die Mittel zweckentfremdet habe, die Zahlungen des EEF an Burkina Faso fortgesetzt habe, ohne auf die ordnungsgemässe Verwendung dieser Mittel zu achten.

21 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe insbesondere Urteil vom 8. April 1992 in der Rechtssache C-55/90, Cato/Kommission, Slg. 1992, I-2533, Randnr. 18) müssen nach Artikel 215 Absatz 2 EWG-Vertrag zur Begründung der ausservertraglichen Haftung der Gemeinschaft und für die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs eine Reihe von Voraussetzungen erfuellt sein: Das dem Organ vorgeworfene Verhalten muß rechtswidrig sein, es muß ein Schaden entstanden sein, und zwischen dem erwähnten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden muß ein ursächlicher Zusammenhang bestehen.

22 Zu der als erste Schadensursache angeführten Weigerung der Kommission, dem Pfändungsbeschluß nachzukommen, genügt der Hinweis, daß der Kommission, solange sie auf die fragliche Befreiung nicht ausdrücklich verzichtet und der Gerichtshof diese auch nicht aufgehoben hat, die Nichtbefolgung eines Pfändungsbeschlusses nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, weil die von ihr geltend gemachte Befreiung gerade der Vollziehung dieses Beschlusses entgegensteht.

23 Was die als zweite Schadensursache geltend gemachte Fortsetzung von EEF-Zahlungen an Burkina Faso angeht, so bleiben nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe insbesondere Urteile vom 10. Juli 1984 in der Rechtssache 126/83, STS/Kommission, Slg. 1984, 2769, und vom 14. Januar 1993 in der Rechtssache C-257/90, Italsolar/Kommission, Slg. 1993, I-9) die aus dem EEF finanzierten öffentlichen Aufträge nationale Aufträge, für deren Vorbereitung, Aushandlung und Abschluß nur die Behörden der AKP-Staaten verantwortlich sind, während die Beteiligung der Vertreter der Kommission nur auf die Feststellung gerichtet ist, ob die Voraussetzungen für eine Gemeinschaftsfinanzierung vorliegen. Die Unternehmen, die für solche Aufträge ein Angebot einreichen oder an die solche Aufträge vergeben werden, unterhalten Rechtsbeziehungen nur mit dem für den Auftrag verantwortlichen AKP-Staat.

24 Demnach kann der Kommission kein fehlerhaftes Verhalten vorgeworfen werden, wenn sie an einen AKP-Staat Mittel gemäß den geltenden Finanzierungsbedingungen zahlt, was im vorliegenden Fall von dem klagenden Unternehmen nicht bestritten wird.

25 Nach alledem ist die Schadensersatzklage abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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