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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 31.03.1993
Aktenzeichen: C-184/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 76
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 76 des Vertrages, der mittels einer Stillhalteklausel verhindern soll, daß die Einführung der gemeinsamen Verkehrspolitik durch den Rat dadurch erschwert oder behindert wird, daß ohne Billigung des Rates nationale Maßnahmen erlassen werden, die unmittelbar oder mittelbar bewirken würden, daß die Lage, in der sich in einem Mitgliedstaat die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten befinden, im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmen in einem für erstere ungünstigen Sinne verändert wird, untersagt es einem Mitgliedstaat nicht, den Erwerb eines nach nationalem Recht ausgestellten Schifferpatents zur Voraussetzung für die Schiffahrt auf den nationalen Binnenwasserstrassen zu machen.

Er verbietet es jedoch, daß sowohl nationale Rechtsvorschriften als auch eine Verwaltungspraxis im Zusammenhang mit Binnenschifferpatenten, die seit dem Inkrafttreten des Vertrages bestehen, zum Nachteil der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten geändert werden. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob solche Änderungen stattgefunden haben.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 31. MAERZ 1993. - CHRISTOF OORBURG UND SERGE VAN MESSEM GEGEN WASSER- UND SCHIFFAHRTSDIREKTION NORDWEST, AURICH. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: AMTSGERICHT EMDEN - DEUTSCHLAND. - ARTIKEL 76 EWG-VERTRAG - BINNENSCHIFFAHRT. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-184/91 UND C-221/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Amtsgericht Emden hat mit Beschlüssen vom 2. Juli 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 1991 (Rechtssache C-184/91) und am 3. September 1991 (Rechtssache C-221/91) gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 76 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Der Gerichtshof hat die beiden Rechtssachen mit Beschluß vom 9. September 1991 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und Entscheidung verbunden.

3 Die Frage stellt sich in den beim Amtsgericht Emden anhängigen Verfahren über die Einsprüche des niederländischen Schiffsführers C. Oorburg und des belgischen Schiffsführers S. Van Messem gegen Bußgeldbescheide der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Nordwest, mit denen diese gegen die Betroffenen Bußgelder verhängt hatte, weil sie auf deutschen Binnenschiffahrtsstrassen fuhren, ohne im Besitz eines gültigen Befähigungszeugnisses im Sinne der Binnenschifferpatentverordnung vom 7. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1333) zu sein.

4 Die Betroffenen sind Inhaber eines niederländischen "Groot vaarbewijs II", der für die Fahrt auf allen niederländischen Binnenwasserstrassen gilt. Sie beriefen sich vor den deutschen Behörden auf dieses Patent; diese betrachteten es jedoch nicht als in der Bundesrepublik Deutschland gültiges Schifferpatent.

5 Serge van Messem führt vor dem Amtsgericht aus, daß er vor dem Erlaß des Bußgeldbescheids der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Nordwest schon mehrfach kontrolliert worden sei und mit seinem niederländischen Schifferpatent niemals Probleme gehabt habe.

6 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, daß die Betroffenen zu verurteilen sind, falls die deutschen Rechtsvorschriften dem Artikel 76 EWG-Vertrag entsprechen. Da es jedoch hieran Zweifel hat, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 76 EWG-Vertrag dahin gehend auszulegen, daß es einem Mitgliedstaat verwehrt ist, das Befahren der nationalen Wasserstrassen vom Erwerb eines nach nationalem Recht erworbenen Binnenschifferpatents abhängig zu machen, ohne nach der Art der zu befahrenden Binnenschiffahrtsreviere grundsätzlich zu differenzieren?

7 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens, des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht im Kern dahin, ob Artikel 76 EWG-Vertrag es den Behörden eines Mitgliedstaats untersagt, von Schiffsführern aus anderen Mitgliedstaaten, die die Binnenwasserstrassen des erstgenannten Staates befahren, ein von den Behörden dieses Staates ausgestelltes Binnenschifferpatent zu verlangen.

9 Die Bundesregierung führt aus, daß durch die 1981 erlassene Verordnung die frühere komplexe Regelung kodifiziert und geändert worden sei und daß die neue Regelung einfacher und für die Inhaber ausländischer Patente günstiger als das alte System sei. Zudem erlaube es die neue Regelung, ausländische Patente als gleichwertig anzuerkennen. Daher werde das Ziel des Artikels 76 EWG-Vertrag nicht gefährdet. Das Problem berühre im übrigen nicht den Anwendungsbereich von Artikel 76, sondern die Dienstleistungsfreiheit im Verkehr im Sinne von Artikel 61 Absatz 1 EWG-Vertrag. Beim derzeitigen Stand der Harmonisierung des Gemeinschaftsrechts sei es der Bundesregierung nicht verwehrt, die Verordnung in der geltenden Fassung beizubehalten und auf ihrer Einhaltung zu bestehen.

10 Die niederländische Regierung führt aus, daß eine Änderung der Anwendung der Verordnung eingetreten sei, die unter Verstoß gegen Artikel 76 EWG-Vertrag in die Wettbewerbsposition der Schiffsführer aus den anderen Mitgliedstaaten eingreife.

11 Nach Ansicht der Kommission ergibt ein Vergleich zwischen den gegenwärtigen und den früher anwendbaren deutschen Rechtsvorschriften keine für ausländische Schiffsführer nachteilige Entwicklung. Ein Verstoß gegen Artikel 76 EWG-Vertrag könne sich jedoch auch aus einer Änderung einer Verwaltungspraxis ergeben; es sei Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine derartige Änderung vorliege.

12 Artikel 76 EWG-Vertrag enthält eine Stillhalteklausel. Nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 19. Mai 1992 in der Rechtssache C-195/90 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1992, I-3141, Randnr. 20) soll diese Vorschrift verhindern, daß die Einführung der gemeinsamen Verkehrspolitik durch den Rat dadurch erschwert oder behindert wird, daß ohne Billigung des Rates nationale Maßnahmen erlassen werden, die unmittelbar oder mittelbar bewirken würden, daß die Lage, in der sich in einem Mitgliedstaat die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten befinden, im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmen in einem für erstere ungünstigen Sinne verändert wird.

13 Daher verbietet es Artikel 76 EWG-Vertrag, daß nationale Rechtsvorschriften über Binnenschifferpatente, die seit dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags bestehen, zum Nachteil der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten geändert werden.

14 In der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung noch geltend gemacht, daß die Schwierigkeiten erst aufgetreten seien, seitdem die deutsche Regelung die Möglichkeit einer Anerkennung ausländischer Zeugnisse vorsehe. Erst im Laufe der letzten Jahre sei niederländischen Schiffsführern, die nicht über ein deutsches Binnenschifferpatent verfügten, die Fortsetzung ihrer Fahrt nur in Begleitung eines Lotsen gestattet worden, der Inhaber eines deutschen Patents sei.

15 Artikel 76 EWG-Vertrag steht nicht nur einer Änderung der Rechtsvorschriften entgegen, sondern auch einer Änderung einer Verwaltungspraxis, die die gleiche Auswirkung auf die Stellung der Verkehrsunternehmen aus den anderen Mitgliedstaaten haben kann.

16 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, ob eine Änderung der anwendbaren Rechtsvorschriften oder der Verwaltungspraxis unter Verstoß gegen Artikel 76 EWG-Vertrag stattgefunden hat.

17 Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß Artikel 76 EWG-Vertrag es einem Mitgliedstaat zwar nicht untersagt, den Erwerb eines nach nationalem Recht ausgestellten Schifferpatents zur Voraussetzung für die Schiffahrt auf den nationalen Binnenwasserstrassen zu machen, daß er jedoch der Einführung neuer diskriminierender Maßnahmen zum Nachteil der Verkehrsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten entgegensteht. Eine solche Änderung kann auch in einer Verwaltungspraxis bestehen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob solche Änderungen stattgefunden haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der niederländischen Regierung, der Bundesregierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Bußgeldverfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Amtsgericht Emden durch Beschlüsse vom 2. Juli 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 76 EWG-Vertrag untersagt es einem Mitgliedstaat zwar nicht, den Erwerb eines nach nationalem Recht ausgestellten Schifferpatents zur Voraussetzung für die Schiffahrt auf den nationalen Binnenwasserstrassen zu machen, steht jedoch der Einführung neuer diskriminierender Maßnahmen zum Nachteil der Verkehrsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten entgegen. Eine solche Änderung kann auch in einer Verwaltungspraxis bestehen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob solche Änderungen stattgefunden haben.

Ende der Entscheidung

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