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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.02.2006
Aktenzeichen: C-185/04
Rechtsgebiete: EG, Verordnung (EWG) Nr. 1612/68, Richtlinie 96/34/EG
Vorschriften:
EG Art. 12 | |
EG Art. 17 Abs. 2 | |
EG Art. 18 | |
EG Art. 39 | |
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 Art. 7 Abs. 1 | |
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 Art. 7 Abs. 2 | |
Richtlinie 96/34/EG |
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
16. Februar 2006
"Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Beamte und sonstige Bedienstete der Europäischen Gemeinschaften - Elterngeld - Berücksichtigung der im Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften zurückgelegten Versicherungszeit"
Parteien:
In der Rechtssache C-185/04
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Länsrätt i Stockholms län (Schweden) mit Entscheidung vom 20. April 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2004, in dem Verfahren
Ulf Öberg
gegen
Försäkringskassan, länskontoret Stockholm, früher Stockholms läns allmänna försäkringskassa,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie des Richters R. Schintgen, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und der Richter G. Arestis und J. Klucka,
Generalanwalt: A. Tizzano,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2005,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Öberg selbst und seinem Bevollmächtigten J. Hettne,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Kruse als Bevollmächtigten,
- der finnischen Regierung, vertreten durch T. Pynnä als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin und K. Simonsson als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe:
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 12 EG, 17 Absatz 2 EG, 18 EG und 39 EG, des Artikels 7 Absätze 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) sowie der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub (ABl. L 145, S. 4).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Öberg und der Sozialversicherungsanstalt Stockholm (Försäkringskassan, länskontoret Stockholm, früher Stockholms läns allmänna försäkringskassa) wegen Berücksichtigung der Beschäftigungszeit, in der Herr Öberg dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war, bei der Berechnung der Höhe des Elterngelds.
Rechtlicher Rahmen
3. Kapitel 4 des schwedischen Sozialversicherungsgesetzes (lag [1962:381] om allmän försäkring, im Folgenden: AFL) enthält Vorschriften über die Gewährung des Elterngelds.
4. Nach Kapitel 4 § 3 AFL wird den Eltern anlässlich der Geburt eines Kindes für eine Dauer von höchstens 450 Tagen und höchstens bis zur Vollendung des achten Lebensjahrs des Kindes oder bis zum Abschluss des ersten Schuljahrs, wenn dies der spätere Zeitpunkt ist, Elterngeld gezahlt.
5. Kapitel 4 § 6 AFL bestimmt, dass sich das Elterngeld auf mindestens 60 SEK pro Tag beläuft (im Folgenden: Garantieniveau). Weiter ist vorgesehen, dass das Elterngeld für die ersten 180 Tage dem Betrag des Krankengelds entspricht, wenn der Elternteil vor der Geburt oder dem errechneten Geburtstermin mindestens 240 Tage in Folge oberhalb des Garantieniveaus krankenversichert war.
6. Nach Kapitel 3 § 2 AFL beruht das Krankengeld auf dem voraussichtlichen Jahreseinkommen, das der Versicherte aus eigener Arbeit in Schweden erzielt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
7. Nachdem Herr Öberg, ein schwedischer Staatsangehöriger, von 1995 bis 2000 beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften tätig gewesen war, kehrte er nach Schweden zurück. Er ist Vater eines am 22. September 1999 geborenen Kindes.
8. Mit Entscheidungen vom 28. August und 16. November 2001 lehnte die Sozialversicherungskasse Stockholm gegenüber Herrn Öberg die Zahlung von Elterngeld in Höhe des Krankengelds für die ersten 180 Tage seines Elternurlaubs ab, weil er vor der Geburt seines Kindes beim Gerichtshof beschäftigt gewesen und deshalb nicht vor der Geburt oder dem errechneten Geburtstermin mindestens 240 Tage in Folge oberhalb des Garantieniveaus in Schweden krankenversichert gewesen sei.
9. Herr Öberg erhob gegen diese Entscheidungen Klage beim Länsrätt i Stockholms län, das beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist ein im nationalen Recht vorgesehenes Erfordernis, wonach ein Elternteil im fraglichen Mitgliedstaat mindestens 240 Tage vor der Geburt des Kindes gewohnt haben und krankenversichert gewesen sein muss, um einen Anspruch auf Gewährung von Elterngeld in Höhe des Krankengelds des Elternteils zu haben, mit den Artikeln 12 EG, 17 Absatz 2 EG, 18 EG und 39 EG, Artikel 7 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1612/68 sowie der Richtlinie 96/34 vereinbar?
2. Falls die Frage 1 zu bejahen ist: Verlangt das Gemeinschaftsrecht, dass bei der Feststellung, ob der Arbeitnehmer die nach dem nationalen Recht vorgesehene Anwartschaftszeit für die Versicherung erfüllt hat, die Zeit hinzuzurechnen ist, in der der Arbeitnehmer gemäß den Vorschriften des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem angeschlossen war?
Zu den Vorlagefragen
10. Mit seinen zwei Vorlagefragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob bei der Anwendung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Freizügigkeit dahin auszulegen sind, dass die Beschäftigungszeit, in der ein Arbeitnehmer dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war, berücksichtigt werden muss.
11. Nach ständiger Rechtsprechung fällt jeder Gemeinschaftsangehörige, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich des Artikels 39 EG (Urteile vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C-385/00, De Groot, Slg. 2002, I-11819, Randnr. 76, vom 2. Oktober 2003 in der Rechtssache C-232/01, Van Lent, Slg. 2003, I-11525, Randnr. 14, und vom 13. November 2003 in der Rechtssache C-209/01, Schilling und Fleck-Schilling, Slg. 2003, I-13389, Randnr. 23).
12. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass ein Beamter der Europäischen Gemeinschaften ein Wanderarbeitnehmer ist. Denn es lässt sich der ständigen Rechtsprechung auch entnehmen, dass ein Gemeinschaftsangehöriger, der in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat arbeitet, die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Artikel 39 Absatz 1 EG nicht deshalb verliert, weil er bei einer internationalen Organisation beschäftigt ist, selbst wenn die Bedingungen seiner Einreise in das Beschäftigungsland und seines Aufenthalts in diesem Land durch ein internationales Übereinkommen speziell geregelt sind (Urteile vom 15. März 1989 in den Rechtssachen 389/87 und 390/87, Echternach und Moritz, Slg. 1989, 723, Randnr. 11, Schilling und Fleck-Schilling, Randnr. 28, und vom 16. Dezember 2004 in der Rechtssache C-293/03, My, Slg. 2004, I-12013, Randnr. 37).
13. Einem Arbeitnehmer, der wie Herr Öberg Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, dürfen deshalb nicht die Rechte und sozialen Vergünstigungen versagt werden, die ihm Artikel 39 EG gewährt (Urteile Echternach und Moritz, Randnr. 12, und My, Randnr. 38).
14. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass sämtliche Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im gesamten Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnr. 16, sowie Urteile De Groot, Randnr. 77, und Van Lent, Randnr. 15).
15. Insoweit stellen Vorschriften, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, seinen Herkunftsstaat zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, eine Beschränkung dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden (Urteile De Groot, Randnr. 78, Van Lent, Randnr. 16, sowie Schilling und Fleck-Schilling, Randnr. 25).
16. Eine nationale Regelung, die bei der Berechnung der Höhe des Elterngelds die Beschäftigungszeiten nicht berücksichtigt, die im Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften zurückgelegt wurden, ist aber geeignet, die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats davon abzuhalten, diesen Staat zu verlassen, um eine Berufstätigkeit bei einem Organ der Europäischen Union auszuüben, das seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, weil sie durch die Annahme einer Stelle bei einem solchen Organ eine Familienleistung nach dem nationalen Krankenversicherungssystem nicht mehr in Anspruch nehmen können, auf die sie Anspruch gehabt hätten, wenn sie diese Stelle nicht angenommen hätten (vgl. in diesem Sinne Urteil My, Randnr. 47).
17. Daraus folgt, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsfall in Rede stehende eine nach Artikel 39 EG grundsätzlich verbotene Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt.
18. Allerdings ist zu prüfen, ob diese Beschränkung nach den Bestimmungen des Vertrages gerechtfertigt werden kann.
19. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes kann eine Maßnahme, mit der die durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten eingeschränkt werden, nur gerechtfertigt sein, wenn mit ihr ein legitimes Ziel verfolgt wird, das mit dem EG-Vertrag vereinbar ist, und sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet. Hierfür muss eine solche Maßnahme geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. u. a. Urteile vom 31. März 1993 in der Rechtssache C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32, und vom 26. November 2002 in der Rechtssache C-100/01, Oteiza Olazabal, Slg. 2002, I-10981, Randnr. 43).
20. Die schwedische Regierung macht geltend, dass dem AFL objektive Erwägungen zugrunde lägen, die von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig seien und in angemessenem Verhältnis zu dem legitimen Ziel stünden, Missbräuche bei der Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten zu bekämpfen. Die Zahlung von Elterngeld über das Garantieniveau hinaus an Wanderarbeitnehmer, die eine Berufstätigkeit bei einem Organ der Europäischen Union ausgeübt hätten, führte zu einer erheblichen finanziellen Belastung der nationalen Sozialversicherungssysteme, so dass die Mitgliedstaaten, die wie das Königreich Schweden ein hohes Elterngeld zahlten, sich gezwungen sehen könnten, die Beträge zu verringern.
21. Hierauf ist zu entgegnen, dass rein wirtschaftliche Erwägungen keine Rechtfertigung für einen Eingriff in Rechte sein können, die Einzelnen aufgrund der Bestimmungen des Vertrages über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zustehen.
22. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass bei den Rechtfertigungsgründen, die von einem Mitgliedstaat geltend gemacht werden können, auch eine Prüfung der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von diesem Staat erlassenen beschränkenden Maßnahme durchgeführt werden muss (Urteil vom 18. März 2004 in der Rechtssache C-8/02, Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Randnr. 45).
23. Es ist jedoch festzustellen, dass im vorliegenden Fall eine solche Prüfung fehlt. Die schwedische Regierung beschränkt sich nämlich darauf, ohne genaue Tatsachen zur Untermauerung ihrer Argumentation anzuführen, auf eine hypothetische finanzielle Belastung hinzuweisen, der das nationale Sozialversicherungssystem ausgesetzt werde, wenn die von einem Wanderarbeitnehmer im Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften zurückgelegte Versicherungszeit für die Anwendung des Kapitels 4 § 6 AFL berücksichtigt werde.
24. Daraus folgt, dass die Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die sich aus der Weigerung ergibt, für die Berechnung der Höhe des Elterngelds die Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen, die von Wanderarbeitnehmern im Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften zurückgelegt wurden, nicht gerechtfertigt ist.
25. Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist es nicht erforderlich, über die Auslegung der Artikel 12 EG, 17 EG, 18 EG, des Artikels 7 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1612/68 oder der Richtlinie 96/34 zu entscheiden.
26. Somit ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Artikel 39 EG dahin auszulegen ist, dass bei der Anwendung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Zeit berücksichtigt werden muss, in der ein Arbeitnehmer dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war.
Kostenentscheidung:
Kosten
27. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Tenor:
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Artikel 39 EG ist dahin auszulegen, dass bei der Anwendung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Zeit berücksichtigt werden muss, in der der Arbeitnehmer dem Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossen war.
Ende der Entscheidung
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