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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 25.02.1992
Aktenzeichen: C-185/90 P - REV
Rechtsgebiete: EWGS, VerfOEuGH


Vorschriften:

EWGS Art. 41
VerfOEuGH Art. 100
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Ein Antrag auf Wiederaufnahme eines Verfahrens, das mit einem Urteil des Gerichtshofes abgeschlossen worden ist, in dem der Gerichtshof das Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Gerichts erster Instanz wegen Verstosses gegen das Gemeinschaftsrecht für begründet erklärt und den Rechtsstreit an das Gericht zur Sachentscheidung zurückverwiesen hat, ist unzulässig. In einem solchen Urteil entscheidet der Gerichtshof nämlich nur über Rechtsfragen, ohne sich zu den vom Gericht festgestellten Tatsachen zu äussern. Folglich kann ein solches Urteil nicht Gegenstand eines Wiederaufnahmeantrags sein, der auf das angebliche Vorliegen einer neuen Tatsache gestützt ist.


BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 25. FEBRUAR 1992. - WALTER GILL GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - BEAMTE - AUF RECHTSMITTEL ERGANGENES URTEIL - ANTRAG AUF WIEDERAUFNAHME DES VERFAHRENS - ZULAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-185/90 P - REV.

Entscheidungsgründe:

1 Walter Gill, ein ehemaliger Beamter der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, hat mit Antragsschrift, die am 2. Dezember 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 41 der EWG-Satzung und den entsprechenden Bestimmungen der EGKS- und der EAG-Satzung des Gerichtshofes einen Antrag auf Wiederaufnahme des mit Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-185/90 P (Kommission/Gill, Slg. 1991, I-4779) abgeschlossenen Verfahrens gestellt.

2 Mit diesem Urteil hob der Gerichtshof das Urteil des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (Vierte Kammer) vom 6. April 1990 in der Rechtssache T-43/89, Walter Gill/Kommission, auf das von der Kommission dagegen eingelegte Rechtsmittel unter Zurückverweisung der Rechtssache an das Gericht auf.

3 Herr Gill beantragt,

I. in der Hauptsache:

1) den vorliegenden Antrag für zulässig zu erklären, da er innerhalb der in der Verfahrensordnung des Gerichtshofes vorgesehenen Frist gestellt worden ist,

2) die Randnummer 26 des Urteils des Gerichtshofes vom 4. Oktober 1991 abzuändern, in der das Gutachten des Invaliditätsausschusses falsch ausgelegt worden ist,

3) festzustellen, daß das Urteil vom 4. Oktober 1991 wegen des Bekanntwerdens neuer Tatsachen abzuändern ist, die sich aus den ärztlichen Bescheinigungen von Dr. Schneider vom 24. Februar 1989 und 1. Oktober 1991 ergeben,

4) folglich festzustellen, daß angesichts der neuen Tatsachen die nach Artikel 78 Absatz 2 des Statuts verlangten Erfordernisse des Kausalzusammenhangs, des Zusammenhangs mit dem Beruf und der Dauer vorliegen und daß folglich nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstossen worden ist,

5) folglich festzustellen, daß das Rechtsmittel, was den zweiten Rechtsmittelgrund angeht, unbegründet ist,

6) aus dieser Änderung die rechtlichen Konsequenzen zu ziehen und dementsprechend den Tenor des Urteils des Gerichtshofes vom 4. Oktober 1991 abzuändern,

7) die Rechtssache zur Fortsetzung des Verfahrens und weiteren Entscheidung an das Gericht erster Instanz zurückzuverweisen;

II. hilfsweise:

8) soweit erforderlich und falls der Gerichtshof von der Befugnis zur Übernahme des Verfahrens Gebrauch machen sollte, wie sie Artikel 100 § 2 der Verfahrensordnung vorzusehen scheint, erneut in die Prüfung der Hauptsache insbesondere im Hinblick auf die neuen Tatsachen einzutreten;

III. höchst hilfsweise:

9) falls der Gerichtshof sich nicht für ausreichend unterrichtet hält, die Einsetzung eines neuen Invaliditätsausschusses anzuordnen, der sich über den Kausalzusammenhang zwischen der im Dienst der Kommission ausgeuebten Tätigkeit des Klägers und der Verschlimmerung seines Gesundheitszustands zu äussern hat; andernfalls entsprechend Artikel 45 ff. der Verfahrensordnung durch Beschluß die zu beweisenden Tatsachen zu bezeichnen und die Einholung eines Gutachtens über diesen Kausalzusammenhang anzuordnen;

auf jeden Fall:

10) dem Kläger alle sonstigen Rechte, Forderungen und Anträge vorzubehalten,

11) über die Kosten des Verfahrens nach Rechtslage zu befinden.

4 In ihrer am 28. Januar 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangenen Stellungnahme beantragt die Kommission,

- den Antrag als unzulässig zurückzuweisen;

- dem Antragsteller die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

5 Zur Begründung seines Antrags macht Herr Gill geltend, daß die Randnummer 26 des Urteils des Gerichtshofes zu ändern sei, weil die Feststellung des Gerichtshofes, der Invaliditätsausschuß habe das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Krankheit des Beamten und seiner Tätigkeit bei den Gemeinschaften verneint, einen offensichtlichen Auslegungsfehler darstelle. Der Invaliditätsausschuß habe nämlich das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Verschlimmerung des Gesundheitszustands des Beamten und der im Dienst der Gemeinschaften ausgeuebten Tätigkeit niemals ausdrücklich ausgeschlossen, sondern höchstens insoweit einen Zweifel geäussert, der sich in einer Rechtssache wie der vorliegenden zugunsten des Beamten auswirken müsse.

6 Ausserdem sei sein Antrag durch das Vorliegen einer neuen Tatsache begründet, die sich aus zwei ärztlichen Bescheinigungen vom 24. Februar 1989 und 1. Oktober 1991 ergebe. Aus diesen Bescheinigungen gehe nämlich hervor, daß sich der Gesundheitszustand von Herrn Gill stabilisiert und dann leicht verbessert habe, seit er nicht mehr Beamter der Kommission sei. Folglich sei das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Krankheit und ihrer Verschlimmerung und der im Dienst der Gemeinschaften ausgeuebten Tätigkeit bewiesen, und das Gericht habe daher nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstossen, als es die Klage von Herrn Gill für begründet erklärt habe.

7 Die Kommission hält den Wiederaufnahmeantrag für unzulässig.

8 Sie führt insoweit aus, daß die Erwägungen zur Begründung des Antrags von Herrn Gill, mit denen dargetan werden solle, daß der Gerichtshof das Gutachten des Invaliditätsausschusses offensichtlich falsch ausgelegt habe, nichts mit dem Eintritt einer neuen Tatsache zu tun hätten und daher die Rechtskraft des Urteils des Gerichtshofes nicht in Frage stellen könnten.

9 Zu dem Argument von Herrn Gill, daß sich eine neue Tatsache aus den zwei erwähnten ärztlichen Bescheinigungen ergebe, macht die Kommission erstens geltend, daß der Kläger die Dreimonatsfrist des Artikels 98 der Verfahrensordnung nicht eingehalten habe; Herr Gill habe nämlich die erste ärztliche Bescheinigung seit dem 24. Februar 1989 gekannt, und die zweite Bescheinigung bestätige nur die in der ersten Bescheinigung enthaltene ärztliche Beurteilung. Zweitens sei die im vorliegenden Fall geltend gemachte angeblich neue Tatsache weder dem Gerichtshof und der die Wiederaufnahme beantragenden Partei unbekannt noch für das Urteil des Gerichtshofes vom 4. Oktober 1991 von entscheidender Bedeutung gewesen. Die geltend gemachte Tatsache sei nämlich Herrn Gill zumindest seit Februar 1989 und dem Gericht wie auch dem Gerichtshof seit dem 14. Februar 1990 bekannt, an dem der Kläger die Bescheinigung vom 24. Februar 1989 in der mündlichen Verhandlung in der Rechtssache T-43/89 vorgelegt habe. Ausserdem könne die Tatsache, daß sich der Gesundheitszustand von Herrn Gill nach der Beendigung seiner Berufstätigkeit leicht gebessert habe, weder die Rechtmässigkeit der Entscheidung der Kommission, die entsprechend den Schlußfolgerungen des Invaliditätsausschusses getroffen worden sei, noch die rechtliche Würdigung der Gründe des Urteils des Gerichts durch den Gerichtshof in Frage stellen.

10 Mit Schreiben, das am 18. Dezember 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Union Syndicale-Luxembourg, Streithelferin zur Unterstützung der Anträge von Herrn Gill in der Rechtssache C-185/90 P, dem Gerichtshof mitgeteilt, daß sie zu dem Wiederaufnahmeantrag keine Stellungnahme abzugeben habe.

11 Zur Beurteilung der Frage, ob der vorliegende Antrag zulässig ist, ist daran zu erinnern, daß nach Artikel 41 Absatz 1 der EWG-Satzung des Gerichtshofes

"[die] Wiederaufnahme des Verfahrens... beim Gerichtshof nur dann beantragt werden [kann], wenn eine Tatsache von entscheidender Bedeutung bekannt wird, die vor Verkündung des Urteils dem Gerichtshof und der die Wiederaufnahme beantragenden Partei unbekannt war".

12 Daraus folgt, daß der Wiederaufnahmeantrag kein Rechtsmittel, sondern ein ausserordentlicher Rechtsbehelf ist, mit dem die Rechtskraft eines endgültigen Urteils wegen der tatsächlichen Feststellungen, auf die sich das Gericht gestützt hat, in Frage gestellt werden kann. Die Wiederaufnahme setzt das Bekanntwerden von Umständen tatsächlicher Art voraus, die vor der Verkündung des Urteils eingetreten waren, die dem Gericht, das dieses Urteil erlassen hat, und der die Wiederaufnahme beantragenden Partei bis dahin unbekannt waren und die das Gericht, hätte es sie berücksichtigen können, möglicherweise veranlasst hätten, den Rechtsstreit anders als geschehen zu entscheiden.

13 Im vorliegenden Fall verlangt der Antragsteller die Abänderung eines Urteils, mit dem der Gerichtshof das gegen eine Entscheidung des Gerichts eingelegte Rechtsmittel für begründet erklärt und die Entscheidung aufgehoben hat, weil das Gericht gegen das Gemeinschaftsrecht verstossen habe. Der Gerichtshof hat den Rechtsstreit anschließend nicht selbst endgültig entschieden, sondern ihn an das Gericht zur Sachentscheidung zurückverwiesen.

14 In diesem auf ein Rechtsmittel ergangenen Urteil hat der Gerichtshof also nur über Rechtsfragen entschieden, ohne sich zu den vom Gericht festgestellten Tatsachen zu äussern.

15 Nach Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Gericht ist der Rechtsstreit im übrigen in vollem Umfang vor diesem Gericht anhängig, so daß der Antragsteller, der sich auf das Vorliegen einer neuen Tatsache beruft, die Möglichkeit hat, diese Tatsache im Rahmen des Verfahrens vor dem Gericht geltend zu machen.

16 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, daß das Urteil vom 4. Oktober 1991, in dem der Gerichtshof nicht über Tatsachenfragen zu befinden hatte, nicht Gegenstand eines Wiederaufnahmeantrags sein kann, der auf das angebliche Vorliegen einer neuen Tatsache gestützt ist.

17 Folglich ist der Antrag auf Wiederaufnahme des mit Urteil des Gerichtshofes vom 4. Oktober 1991 abgeschlossenen Verfahrens gemäß Artikel 92 § 1 der Verfahrensordnung als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen, ohne daß die Einwendungen der Kommission gegen den Antrag geprüft zu werden brauchen.

18 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Gemäß Artikel 70 der Verfahrensordnung tragen jedoch die Organe in Rechtsstreitigkeiten mit Bediensteten der Gemeinschaften ihre Kosten selbst.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen:

1) Der Wiederaufnahmeantrag wird als unzulässig zurückgewiesen.

2) Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.

Luxemburg, den 25. Februar 1992.

Ende der Entscheidung

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