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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.12.1990
Aktenzeichen: C-186/89
Rechtsgebiete: Sechste Richtlinie 77/388/EWG vom 17. Mai 1977


Vorschriften:

Sechste Richtlinie 77/388/EWG vom 17. Mai 1977 Art. 4 Abs. 2
Sechste Richtlinie 77/388/EWG vom 17. Mai 1977 Art. 5 Abs. 3 Buchst. b
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Räumt der Eigentümer einer unbeweglichen Sache einem anderen dergestalt ein Erbbaurecht an der Sache ein, daß dieser andere für einen bestimmten Zeitraum gegen Zahlung einer Vergütung ein Nutzungsrecht an der unbeweglichen Sache erhält, so ist dies als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern anzusehen. Eine solche Leistung umfasst nämlich die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen im Sinne des letzten Satzes dieser Vorschrift.

2. Nach Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern besteht die "Lieferung eines Gegenstands" in der Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen. Sofern ein Mitgliedstaat von der durch Absatz 3 Buchstabe b dieses Artikels eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, dingliche Rechte, die ihrem Inhaber ein Nutzungsrecht an einer unbeweglichen Sache geben, als körperliche Gegenstände zu behandeln, ist der in Absatz 1 enthaltene Begriff "Übertragung" dahin auszulegen, daß er auch die Begründung eines solchen dinglichen Rechts umfasst.

3. Gemäß dem Zweck der Sechsten Richtlinie 77/388, die unter anderem darauf abzielt, das gemeinsame Mehrwertsteuersystem auf einen einheitlichen Begriff "Steuerpflichtiger" zu stützen, kann der Anwendungsbereich des Artikels 4, was die Steuerpflichtigen angeht, nicht dadurch geändert werden, daß ein Mitgliedstaat von der durch Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie gebotenen Möglichkeit, die Begründung eines Erbbaurechts der Lieferung eines Gegenstands gleichzustellen, Gebrauch gemacht hat oder nicht.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 4. DEZEMBER 1990. - W. M. VAN TIEM GEGEN STAATSSECRETARIS VAN FINANCIEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HOGE RAAD - NIEDERLANDE. - MEHRWERTSTEUERBERICHTIGUNG - SECHSTE MEHRWERTSTEUERRICHTLINIE. - RECHTSSACHE C-186/89.

Entscheidungsgründe:

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 24. Mai 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung des Artikels 4 Absatz 2 und des Artikels 5 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem aus Anlaß eines Nacherhebungsbescheids über die Umsatzsteuer zwischen Van Tiem und dem Staatssecretaris van Financiën entstandenen Rechtsstreit.

3 Wie aus den Akten hervorgeht, kaufte Van Tiem am 29. September 1980 als Privatmann ein Baugrundstück. Wegen dieses Erwerbs wurde ihm ein Betrag von 10 677,97 HFL als Umsatzsteuer in Rechnung gestellt.

4 Am gleichen Tag räumte Van Tiem der Gesellschaft Tiem' s Electro Technisch Installatiebureau BV für einen Zeitraum von achtzehn Jahren gegen eine jährliche Zahlung von 3 000 HFL (einschließlich Umsatzsteuer) ein Erbbaurecht an diesem Grundstück ein. Nach den Artikeln 758, 759 und 765 des Burgerlijk Wetbök (niederländisches Bürgerliches Gesetzbuch) ist "das Erbbaurecht... ein dingliches Recht zur Unterhaltung von Gebäuden, Werken und Anpflanzungen auf dem Grundstück eines anderen".

5 Am 20. Oktober 1980 stellte Van Tiem beim Inspecteur der invoerrechten en accijnzen den Antrag, ihn wegen der Einräumung eines dinglichen Erbbaurechts mit Wirkung vom 29. September 1980 von der Befreiung von der Umsatzsteuer auszunehmen.

6 Am 18. Dezember 1980 gab der Inspecteur dem Antrag aufgrund der Annahme statt, er beziehe sich auf die Vermietung der betroffenen unbeweglichen Sache.

7 In seiner Umsatzsteuererklärung für das erste Quartal 1981 brachte Van Tiem die ihm beim Kauf des Grundstücks in Rechnung gestellte Umsatzsteuer in Abzug.

8 Der Inspecteur machte diesen Abzug durch einen Nacherhebungsbescheid über 10 678 HFL Umsatzsteuer - den Betrag, den Van Tiem beim Kauf des Grundstücks entrichtet hatte - wieder rückgängig.

9 Der Gerechtshof Arnheim, bei dem Van Tiem hieraufhin Klage erhob, bestätigte den Nacherhebungsbescheid aufgrund der Überlegung, daß Van Tiem bei der Begründung des Erbbaurechts nicht als Unternehmer im Sinne von Artikel 7 der Wet op de omzetbelasting 1968 (niederländisches Gesetz über die Umsatzsteuer) aufgetreten sei, weshalb er die ihm beim Kauf des Grundstücks in Rechnung gestellte Umsatzsteuer nicht verrechnen könne.

10 Van Tiem legte gegen das Urteil des Gerechtshof Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad ein. Zur Stützung dieser Beschwerde führte er an, die Einräumung eines Erbbaurechts stelle die Nutzung eines körperlichen Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe b der Wet op de omzetbelasting dar, so daß er aus diesem Grund als Unternehmer anzusehen sei und ein Recht auf Verrechnung der Umsatzsteuer habe.

11 In seinem Vorlageurteil führt der Hoge Raad aus, der in dem niederländischen Gesetz verwendete Begriff "Nutzung von körperlichen oder nichtkörperlichen Gegenständen" sei Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie entnommen; der niederländische Gesetzgeber habe von der in Artikel 5 Absatz 3 dieser Richtlinie gebotenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, "dingliche Rechte, die ihrem Inhaber ein Nutzungsrecht an Grundstücken geben", als körperliche Gegenstände zu behandeln, indem er in Artikel 3 Absatz 2 der Wet op de omzetbelasting die Begründung dinglicher Rechte an unbeweglichen Sachen als Lieferung von Sachen angesehen habe.

12 Der Hoge Raad hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"1) Ist Artikel 4 Absatz 2 letzter Satz der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, daß es als Nutzung eines körperlichen Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn der Eigentümer einer unbeweglichen Sache diese einem anderen während eines bestimmten Zeitraums gegen eine regelmässig zu zahlende Vergütung in der Weise zum Gebrauch überlässt, daß er dem Betroffenen für diesen Zeitraum und gegen diese Vergütung ein dingliches Nutzungsrecht - wie das Erbbaurecht - an der unbeweglichen Sache einräumt?

2) Ist, sofern ein Mitgliedstaat von der durch Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die in dieser Vorschrift genannten dinglichen Nutzungsrechte als körperliche Gegenstände zu behandeln, Absatz 1 dieses Artikels dahin auszulegen, daß der in ihm enthaltene Begriff 'Übertragung' auch die Begründung eines solchen Rechts umfasst?

3) Ist die erste Frage anders zu beantworten, wenn und soweit die zweite Frage bejaht wird?"

13 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens sowie des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

14 Mit seiner ersten Frage wünscht das vorlegende Gericht im wesentlichen zu erfahren, ob es als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie anzusehen ist, wenn der Eigentümer einer unbeweglichen Sache einem anderen dergestalt ein Erbbaurecht an der Sache einräumt, daß dieser andere für einen bestimmten Zeitraum gegen Zahlung einer Vergütung ein Nutzungsrecht an der unbeweglichen Sache erhält.

15 Nach Artikel 4 Absatz 2 sind wirtschaftliche Tätigkeiten "alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden". Gemäß Artikel 4 Absatz 2 letzter Satz "((gilt)) als wirtschaftliche Tätigkeit... auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nichtkörperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst".

16 Für die Beantwortung der gestellten Frage kommt es daher darauf an, ob die Einräumung eines Erbbaurechts an einer unbeweglichen Sache als "Nutzung" dieser Sache im Sinne der genannten Bestimmungen angesehen werden kann.

17 Hierzu ist erstens zu bemerken, daß Artikel 4 der Sechsten Richtlinie der Mehrwertsteuer einen sehr weiten Anwendungsbereich zuerkennt, der sämtliche Stadien der Erzeugung, des Handels und der Erbringung von Dienstleistungen umfasst (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom 26. März 1987 in der Rechtssache 235/85, Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 1471, Randnr. 7, und vom 15. Juni 1989 in der Rechtssache 348/87, Stichting Uitvöring Financiële Acties/Staatssecretaris van Financiën, Slg. 1989, 1737, Randnr. 10).

18 Zweitens ist darauf hinzuweisen, daß sich der Begriff "Nutzung" entsprechend den Erfordernissen des Grundsatzes der Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems auf alle Vorgänge ohne Rücksicht auf deren Rechtsform bezieht, die darauf abzielen, aus dem betroffenen Gegenstand nachhaltig Einnahmen zu erzielen.

19 Daher ist festzustellen, daß es als Nutzung einer unbeweglichen Sache anzusehen ist, wenn deren Eigentümer einem Dritten für einen bestimmten Zeitraum gegen Zahlung einer Vergütung ein Erbbaurecht einräumt. Diese Voraussetzung ist erfuellt, wenn das Erbbaurecht, wie im Fall des Ausgangsverfahrens, für einen Zeitraum von achtzehn Jahren gegen Zahlung einer jährlichen Vergütung gewährt wird.

20 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß es als eine in der Nutzung eines körperlichen Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen bestehende wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 letzter Satz der Sechsten Richtlinie anzusehen ist, wenn der Eigentümer einer unbeweglichen Sache einem anderen dergestalt ein Erbbaurecht an der Sache einräumt, daß dieser andere für einen bestimmten Zeitraum gegen Zahlung einer Vergütung ein Nutzungsrecht an der unbeweglichen Sache erhält.

Zur zweiten Frage

21 Die zweite Frage des Hoge Raad zielt darauf ab, ob, wenn ein Mitgliedstaat von der durch Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, dingliche Rechte, die ihrem Inhaber ein Nutzungsrecht an einer unbeweglichen Sache geben, als körperliche Gegenstände zu behandeln, der in Artikel 5 Absatz 1 enthaltene Begriff "Übertragung" auch die Begründung eines dinglichen Nutzungsrechts umfasst.

22 Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie definiert einen der steuerbaren Umsätze, nämlich die Lieferung eines Gegenstands. Als solche wird "die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen", angesehen. Nach Artikel 5 Absatz 3 können die Mitgliedstaaten "dingliche Rechte, die ihrem Inhaber ein Nutzungsrecht an Grundstücken geben", als körperliche Gegenstände im Sinne von Absatz 1 behandeln.

23 Die hiernach den Mitgliedstaaten belassene Möglichkeit bedeutet, daß diese die Begründung eines Nutzungsrechts an einer unbeweglichen Sache als Übertragung im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie behandeln können.

24 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß, sofern ein Mitgliedstaat von der durch Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, dingliche Rechte, die ihrem Inhaber ein Nutzungsrecht an einer unbeweglichen Sache geben, als körperliche Gegenstände zu behandeln, der in Artikel 5 Absatz 1 enthaltene Begriff "Übertragung" dahin auszulegen ist, daß er auch die Begründung eines solchen dinglichen Rechts umfasst.

Zur dritten Frage

25 Gemäß dem Zweck der Sechsten Richtlinie, die unter anderem darauf abzielt, das gemeinsame Mehrwertsteuersystem auf einen einheitlichen Begriff "Steuerpflichtiger" zu stützen, muß diese Eigenschaft ausschließlich aufgrund der in Artikel 4 der Sechsten Richtlinie genannten Kriterien beurteilt werden.

26 Hieraus folgt, daß der Anwendungsbereich von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie nicht dadurch geändert werden kann, daß ein Mitgliedstaat von der durch Artikel 5 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie gebotenen Möglichkeit, die Begründung eines Erbbaurechts der Lieferung eines Gegenstands gleichzustellen, Gebrauch gemacht hat oder nicht.

27 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, daß die Antwort auf die zweite Frage keinen Einfluß auf die Beantwortung der ersten Frage hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

28 Die Auslagen der Regierungen des Königreichs der Niederlande und des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom 24. Mai 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Räumt der Eigentümer einer unbeweglichen Sache einem anderen dergestalt ein Erbbaurecht an der Sache ein, daß dieser andere für einen bestimmten Zeitraum gegen Zahlung einer Vergütung ein Nutzungsrecht an der unbeweglichen Sache erhält, so ist dies als eine in der Nutzung eines körperlichen Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen bestehende wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 letzter Satz der Sechsten Richtlinie anzusehen.

2) Sofern ein Mitgliedstaat von der durch Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, dingliche Rechte, die ihrem Inhaber ein Nutzungsrecht an einer unbeweglichen Sache geben, als körperliche Gegenstände zu behandeln, ist der in Artikel 5 Absatz 1 enthaltene Begriff "Übertragung" dahin auszulegen, daß er auch die Begründung eines solchen dinglichen Rechts umfasst.

3) Die Antwort auf die zweite Frage hat keinen Einfluß auf die Beantwortung der ersten Frage.

Ende der Entscheidung

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