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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.03.1992
Aktenzeichen: C-188/90
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung Nr. 1408/71 vom 14.06.1971


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Verordnung Nr. 1408/71 vom 14.06.1971 Art. 78 Abs. 2 b Ziff. i
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 78 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß für die Berechnung des Anspruchs auf den Zuschlag, der zu zahlen ist, wenn der im Mitgliedstaat des Wohnsitzes tatsächlich bezogene Betrag der Leistungen niedriger ist als der Betrag, auf den die Waise nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anspruch hätte, der Gesamtbetrag der in den betroffenen Mitgliedstaaten für die Waise bestimmten Leistungen berücksichtigt werden muß, soweit es sich dabei um Leistungen handelt, die unter die Definition des Absatzes 1 dieser Vorschrift fallen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 19. MAERZ 1992. - MARIO DORIGUZZI-ZORDANIN UND MARZIO DORIGUZZI-ZORDANIN GEGEN LANDESVERSICHERUNGSANSTALT SCHWABEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BAYERISCHES LANDESSOZIALGERICHT - DEUTSCHLAND. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - LEISTUNGEN FUER UNTERHALTSBERECHTIGTE KINDER VON RENTNERN UND FUER WAISEN. - RECHTSSACHE C-188/90.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bayerische Landessozialgericht hat mit Beschluß vom 17. Mai 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 78 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten Fassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen den Kindern eines Wanderarbeitnehmers (im folgenden: Kläger) und der Landesversicherungsanstalt Schwaben (im folgenden: LVA Schwaben) betreffend die Festsetzung der Höhe eines den Klägern gewährten Zuschlags zu den Leistungen.

3 Die Kläger sind die minderjährigen Kinder des am 29. August 1983 verstorbenen Arbeitnehmers Giancarlo Doriguzzi-Zordanin, der sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Italien Versicherungszeiten zurückgelegt hatte. Sie haben ihren Wohnsitz stets in Italien gehabt.

4 Seit dem 1. September 1983 zahlt das Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (INPS) den Klägern aufgrund der von ihrem verstorbenen Vater in Italien zurückgelegten Versicherungszeiten eine Waisenrente. Diese Leistungen betrugen monatlich zwischen 59 710 und 73 960 LIT je Kind zuzueglich Familienzulagen in Höhe eines Festbetrags von monatlich 19 760 LIT je Kind.

5 Da die LVA Schwaben das INPS für den allein zuständigen Träger hielt, lehnte sie mit Bescheid vom 3. September 1985 die Gewährung eines Zuschlags zu den vom INPS gewährten Leistungen ab. Am 16. Juli 1986 erhoben die Kläger gegen diesen Bescheid Klage beim Sozialgericht Augsburg.

6 Am 7. Mai 1987 hob die LVA Schwaben ihren vorangegangenen Bescheid auf und gewährte den Klägern einen Zuschlag für die Zeit vom 1. September 1983 bis zum 31. Dezember 1985. Dieser Zuschlag entspricht dem Unterschiedsbetrag zwischen der theoretisch aufgrund der in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten vom zuständigen Träger in diesem Staat zu zahlenden Waisenrente und dem Gesamtbetrag der in Italien vom INPS gewährten Leistungen einschließlich der Familienzulage.

7 Die Kläger vertraten die Auffassung, die vom INPS gewährte Familienzulage sei nicht Teil der Waisenrente, sondern eine eigenständige Leistung, und machten vor dem Sozialgericht Augsburg geltend, diese Familienzulage dürfe bei der Berechnung des von der LVA Schwaben gezahlten Zuschlags nicht berücksichtigt werden. Mit Urteil vom 19. Oktober 1989 wies das Sozialgericht Augsburg diese Klage ab. Die Kläger legten hiergegen Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht ein.

8 In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes über die beiden folgenden Fragen einzuholen:

1) Welche Leistungen des italienischen Versicherungsträgers werden bei der Berechnung des vom deutschen Versicherungsträger zu gewährenden Zuschlags zur Waisenrente berücksichtigt?

2) Werden insbesondere die vom italienischen Versicherungsträger gewährten Familienzuschläge in Höhe von monatlich 19 760 LIT je Kind angerechnet?

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

10 Mit seinen beiden Vorlagefragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 78 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß für die Berechnung des Anspruchs auf den Zuschlag, der zu zahlen ist, wenn der im Mitgliedstaat des Wohnsitzes tatsächlich bezogene Betrag der Leistungen niedriger ist als der Betrag, auf den die Waise nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anspruch hätte, der Gesamtbetrag der in den betroffenen Mitgliedstaaten für die Waise bestimmten Leistungen berücksichtigt werden muß, soweit es sich dabei um Leistungen handelt, die unter die Definition des Artikels 78 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 fallen.

11 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Leistungen für Waisen, die zur Berechnung des streitigen Zuschlags miteinander verglichen werden müssen, im italienischen und im deutschen Recht unterschiedlich geregelt sind. Zu vergleichen sind nämlich die Waisenrente und die - eine Familienbeihilfe im Sinne des Artikels 78 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 darstellende - Familienzulage, die nach der italienischen Regelung gezahlt werden, mit der nach der deutschen Regelung gezahlten Waisenrente.

12 Die Kläger machen geltend, die nach der italienischen Regelung gezahlte Familienzulage sei kein Bestandteil der Waisenrente, sondern eine eigenständige Leistung, vergleichbar den deutschen Familienbeihilfen, die für unterhaltsberechtigte Kinder unabhängig vom Eintritt eines Ereignisses gewährt würden, das einen Anspruch auf Versicherungsleistungen eröffne. Folglich dürfe diese Familienzulage von den für die Zahlung der Waisenrente zuständigen deutschen Trägern nicht berücksichtigt werden.

13 Nach Auffassung der LVA Schwaben und der Kommission ist dagegen entscheidend, welche Leistungen im Sinne des Artikels 78 der Verordnung Nr. 1408/71 im Falle des Todes des versicherten Arbeitnehmers im innerstaatlichen Recht vorgesehen seien. Da die italienische Familienzulage zu diesen Leistungen gehöre und die Kläger sie tatsächlich erhielten, müsse sie also bei der Berechnung des vom zuständigen deutschen Träger zu zahlenden Zuschlags berücksichtigt werden.

14 Zur Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 dahin ausgelegt hat, daß eine Waise dann, wenn der Betrag der im Mitgliedstaat des Wohnsitzes tatsächlich gezahlten Leistungen niedriger ist als der Betrag der allein nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats vorgesehenen Leistungen, gegen den zuständigen Träger des letztgenannten Staates Anspruch auf einen Zuschlag zu den Leistungen in Höhe des Unterschieds zwischen beiden Beträgen hat (vgl. zuletzt Urteil vom 11. Juni 1991 in der Rechtssache C-251/89, Athanasopoulos, Slg. 1991, I-2797).

15 Nach dieser Rechtsprechung darf einer Waise eines Wanderarbeitnehmers der Anspruch auf höhere Leistungen, der ihr nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen zusteht, in dem sie wohnt, nicht entzogen werden. Allerdings dürfen ihr keine höheren Ansprüche als diejenigen gewährt werden, die ihr nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats zustuenden, wenn sie dort wohnte. Dies kann nur erreicht werden, wenn der Träger des letztgenannten Mitgliedstaats auf die von ihm zu erbringenden Leistungen alle Leistungen anrechnen darf, die im Mitgliedstaat des Wohnsitzes für den Unterhalt der Waise gewährt werden, unabhängig von ihrer Art oder ihrer Bezeichnung.

16 Wie aus den von der Kommission gegebenen Auskünften hervorgeht, weichen die nationalen Regelungen zur Unterstützung von Waisen erheblich voneinander ab. Angesichts dieser Abweichung ist zur Vermeidung von je nach der anzuwendenden nationalen Regelung willkürlichen Unterschieden der Begriff der Leistung für Waisen im Sinne des Artikels 78 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auzulegen, daß er - unabhängig von ihrer Art und ihrer Bezeichnung - alle Leistungen erfasst, die nach der anzuwendenden nationalen Regelung für den Unterhalt von Waisen bestimmt sind.

17 Folglich ist die Höhe des Zuschlags zu den Leistungen für Waisen so zu bestimmen, daß der Gesamtbetrag der für den Unterhalt der betreffenden Waise bestimmten und im Mitgliedstaat des Wohnsitzes tatsächlich gezahlten Leistungen mit dem Gesamtbetrag der für den Unterhalt dieser Waise bestimmten Leistungen, auf die sie Anspruch hätte, wenn sie in dem anderen Mitgliedstaat wohnen würde, verglichen wird.

18 Auf die vom Bayerischen Landessozialgericht vorgelegten Fragen ist somit zu antworten, daß Artikel 78 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 dahin auszulegen ist, daß für die Berechnung des Anspruchs auf den Zuschlag, der zu zahlen ist, wenn der im Mitgliedstaat des Wohnsitzes tatsächlich bezogene Betrag der Leistungen niedriger ist als der Betrag, auf den die Waise nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anspruch hätte, der Gesamtbetrag der in den betroffenen Mitgliedstaaten für die Waise bestimmten Leistungen berücksichtigt werden muß, soweit es sich dabei um Leistungen handelt, die unter die Definition des Artikels 78 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 fallen.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der belgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm vom Bayerischen Landessozialgericht mit Beschluß vom 17. Mai 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 78 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten Fassung ist dahin auszulegen, daß für die Berechnung des Anspruchs auf den Zuschlag, der zu zahlen ist, wenn der im Mitgliedstaat des Wohnsitzes tatsächlich bezogene Betrag der Leistungen niedriger ist als der Betrag, auf den die Waise nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anspruch hätte, der Gesamtbetrag der in den betroffenen Mitgliedstaaten für die Waise bestimmten Leistungen berücksichtigt werden muß, soweit es sich dabei um Leistungen handelt, die unter die Definition des Artikels 78 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 fallen.

Ende der Entscheidung

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