Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 31.03.1993
Aktenzeichen: C-19/92
Rechtsgebiete: EWGVtr, RL 79/7


Vorschriften:

EWGVtr Art. 48
EWGVtr Art. 52
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Situation eines Gemeinschaftsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums verliehenen akademischen Grades ist, der den Zugang zu einem Beruf, zumindest aber die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit erleichtert, unterliegt auch insofern dem Gemeinschaftsrecht, als es um die Beziehungen des Betreffenden zu dem Mitgliedstaat geht, dessen Staatsangehöriger er ist.

Die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und das Niederlassungsrecht, die durch die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag garantiert werden, stellen nämlich im System der Gemeinschaft grundlegende Freiheiten dar, die nicht voll verwirklicht wären, wenn die Mitgliedstaaten die Anwendung des Gemeinschaftsrechts denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürften, die von den im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Erleichterungen Gebrauch gemacht und dank dieser Erleichterungen berufliche Qualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erworben haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

2. In Anbetracht des Umstands, daß die Notwendigkeit, eine nicht unbedingt sachkundige Öffentlichkeit vor der mißbräuchlichen Führung akademischer Grade zu schützen, die nicht in Übereinstimmung mit den entsprechenden Vorschriften des Landes verliehen wurden, in dem der Inhaber des Grades diesen führen will, ein berechtigtes Interesse darstellt, das eine Beschränkung der durch den EWG-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten seitens des betreffenden Mitgliedstaats rechtfertigen kann, die einer seiner Staatsangehörigen in Anspruch genommen hat, indem er sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, um dort seine Ausbildung zu ergänzen, und solange nicht die Voraussetzungen harmonisiert worden sind, unter denen Inhaber eines aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades diesen in anderen Mitgliedstaaten als dem führen dürfen, in dem er verliehen wurde, sind die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß es nicht im Widerspruch zu ihnen steht, wenn ein Mitgliedstaat es einem seiner Staatsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums verliehenen akademischen Grades ist, verbietet, diesen Grad in seinem Hoheitsgebiet ohne vorherige behördliche Genehmigung zu führen.

Das behördliche Verfahren, dem sich der Betroffene hierzu unterziehen muß, darf nur bezwecken, zu überprüfen, ob der aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbene akademische Grad ordnungsgemäß verliehen worden ist, es muß leicht zugänglich sein und es darf nicht von der Zahlung überhöhter Verwaltungsgebühren abhängen; jede Entscheidung, mit der eine Genehmigung abgelehnt wird, muß gerichtlich überprüft werden können, der Betroffene muß von den Gründen Kenntnis erlangen können, die dieser Entscheidung zugrunde liegen, und die für den Fall der Nichtbeachtung des Genehmigungsverfahrens vorgesehenen Sanktionen dürfen nicht ausser Verhältnis zur Schwere des Verstosses stehen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 31. MAERZ 1993. - DIETER KRAUS GEGEN LAND BADEN-WUERTTEMBERG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: VERWALTUNGSGERICHT STUTTGART - DEUTSCHLAND. - FUEHRUNG EINES AKADEMISCHEN GRADES, DER AUFGRUND EINES POSTGRADUIERTENSTUDIUMS ERWORBEN WORDEN IST - REGELUNG EINES MITGLIEDSTAATS, WONACH DIE FUEHRUNG IN EINEM ANDEREN MITGLIEDSTAAT ERWORBENER GRADE GENEHMIGUNGSPFLICHTIG IST. - RECHTSSACHE C-19/92.

Entscheidungsgründe:

1 Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit Beschluß vom 19. Dezember 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Januar 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung insbesondere des Artikels 48 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt, um die Vereinbarkeit einer Regelung eines Mitgliedstaats mit dem Gemeinschaftsrecht beurteilen zu können, wonach in diesem Staat zur Führung eines akademischen Grades, den einer seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworben hat, eine vorherige Genehmigung erforderlich ist.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem deutschen Staatsangehörigen Dieter Kraus (im folgenden: Kläger) und dem Land Baden-Württemberg, vertreten durch das Ministerium für Wissenschaft und Kunst, über die Weigerung dieses Ministeriums, anzuerkennen, daß die Führung eines vom Kläger im Vereinigten Königreich aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades nicht unter die deutsche Regelung über die vorherige Genehmigung fällt.

3 Aus den dem Gerichtshof übersandten Akten geht hervor, daß nach dem deutschen Gesetz über die Führung akademischer Grade vom 7. Juni 1939 (RGBl. I S. 985) die von einer deutschen staatlichen Hochschule verliehenen akademischen Grade in der Bundesrepublik ohne besondere Genehmigung geführt werden dürfen.

4 Dagegen bedürfen deutsche Staatsangehörige, die einen akademischen Grad an einer ausländischen Hochschule erworben haben, zur Führung dieses Grades in der Bundesrepublik einer Genehmigung des zuständigen Ministeriums des betreffenden Landes. Das Erfordernis einer Einzelgenehmigung gilt auch für Ausländer einschließlich Gemeinschaftsangehörigen, ausser wenn sie sich in der Bundesrepublik in amtlichem Auftrag oder vorübergehend ° für einen Zeitraum von nicht mehr als drei Monaten ° und nicht zu Erwerbszwecken aufhalten; in diesen Fällen genügt es, wenn sie nach dem Recht ihres Heimatstaats zur Führung des akademischen Grades befugt sind.

5 Die fragliche Genehmigung kann hinsichtlich der akademischen Grade bestimmter ausländischer Hochschulen allgemein erteilt werden; die deutschen Länder, die insoweit zuständig sind, haben jedoch von dieser Möglichkeit nur für die von französischen und niederländischen Hochschulen verliehenen Grade Gebrauch gemacht.

6 Der Antrag auf Genehmigung zur Führung eines ausländischen akademischen Grades in der Bundesrepublik ist unter Verwendung eines besonderen Antragsformulars zu stellen, dem eine Reihe von Unterlagen beizufügen sind. In Baden-Württemberg muß der Antragsteller ausserdem eine Verwaltungsgebühr von 130 DM entrichten.

7 Gemäß dem deutschen Strafgesetzbuch wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer im Ausland erworbene akademische Grade unbefugt führt.

8 Der Kläger studierte in der Bundesrepublik Rechtswissenschaften und bestand 1986 die erste juristische Staatsprüfung. 1988 erwarb er im Rahmen eines Postgraduiertenstudiums an der Universität Edinburg den akademischen Grad eines "Master of Laws (LL.M.)". Nachdem er zeitweise als wissenschaftlicher Angestellter der Universität Tübingen gearbeitet hatte, absolvierte er in Baden-Württemberg mehrere Ausbildungsabschnitte zur Vorbereitung auf die zweite juristische Staatsprüfung.

9 1989 legte der Kläger dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg eine Kopie der Graduierungsurkunde der Universität Edinburgh vor und bat um Bestätigung, daß der Führung dieses Grades in der Bundesrepublik nach dieser Anzeige nichts mehr entgegenstehe.

10 Das Ministerium antwortete ihm, seinem Antrag könne nur entsprochen werden, wenn er die nach der deutschen Regelung hierfür vorgesehene Genehmigung unter Verwendung des entsprechenden Antragsformulars und einer amtlich beglaubigten Kopie der Graduierungsurkunde förmlich beantrage. Der Kläger übersandte daraufhin eine beglaubigte Abschrift der Edinburgher Graduierungsurkunde, lehnte die Stellung eines förmlichen Genehmigungsantrags jedoch mit der Begründung ab, das Erfordernis einer solchen Genehmigung zur Führung eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen akademischen Grades stelle eine Behinderung der Freizuegigkeit und eine Diskriminierung dar, die nach dem EWG-Vertrag verboten seien, weil eine solche Genehmigung für die Führung eines von einer deutschen Hochschule verliehenen Grades nicht erforderlich sei.

11 Unter diesen Umständen machte der Kläger den Rechtsstreit beim Verwaltungsgericht Stuttgart anhängig, das dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Verstösst es gegen Artikel 48 EWG-Vertrag oder alle sonstigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, anhand deren die Streitfrage beantwortet werden kann, wenn ein Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften seinen Staatsangehörigen das Führen eines aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades in Originalform, den sie in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben und der nicht den Zugang zu einem Beruf eröffnet, sondern für dessen Ausübung günstig ist, in seinem Hoheitsgebiet erst nach Einholung einer staatlichen Genehmigung erlaubt und das Führen des akademischen Grades ohne diese Genehmigung mit Strafe bedroht?

12 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

13 Aus den dem Gerichtshof übersandten Akten geht hervor, daß das vorlegende Gericht mit seiner Frage im wesentlichen wissen möchte, ob die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß es im Widerspruch zu ihnen steht, wenn ein Mitgliedstaat es einem eigenen Staatsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums verliehenen akademischen Grades ist, verbietet, diesen Grad in seinem Hoheitsgebiet ohne vorherige behördliche Genehmigung zu führen.

14 Im Hinblick auf diese Frage ist zunächst zu prüfen, ob das Gemeinschaftsrecht auf einen solchen Sachverhalt anwendbar ist.

15 Die Vertragsbestimmungen über die Freizuegigkeit gelten zwar nicht für auf das Gebiet eines Mitgliedstaats beschränkte Sachverhalte, der Gerichtshof hat jedoch bereits (siehe Urteile vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 115/78, Knoors, Slg. 1979, 399, Randnr. 24, und 3. Oktober 1990 in der Rechtssache C-61/89, Bouchoucha, Slg. 1990, I-3551, Randnr. 13) ausgeführt, daß Artikel 52 EWG-Vertrag nicht dahin ausgelegt werden kann, daß die Staatsangehörigen eines bestimmten Mitgliedstaats von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen wären, wenn sie sich aufgrund der Tatsache, daß sie rechtmässig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats gewohnt und dort eine nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannte berufliche Qualifikation erworben haben, gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat in einer Lage befinden, die mit derjenigen aller anderen Personen, die in den Genuß der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist.

16 Diese Überlegungen gelten auch für Artikel 48 EWG-Vertrag. Wie der Gerichtshof nämlich im Urteil Knoors (a. a. O., Randnr. 20) ausgeführt hat, stellen die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und das Niederlassungsrecht, die durch die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag garantiert werden, im System der Gemeinschaft grundlegende Freiheiten dar, die nicht voll verwirklicht wären, wenn die Mitgliedstaaten die Anwendung des Gemeinschaftsrechts denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürften, die von den im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Erleichterungen Gebrauch gemacht und dank dieser Erleichterungen berufliche Qualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erworben haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

17 Die gleiche Erwägung gilt aber auch für den Fall, daß ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat eine seine Grundausbildung ergänzende akademische Qualifikation erworben hat, auf die er sich nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland berufen will.

18 Auch wenn nämlich ein akademischer Grad, der aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworben worden ist, normalerweise keine Zugangsvoraussetzung für einen unselbständig oder selbständig ausgeuebten Beruf ist, stellt sein Besitz doch für denjenigen, der ihn führen darf, einen Vorteil sowohl für den Zugang zu einem solchen Beruf als auch für das berufliche Fortkommen dar.

19 Ein akademischer Grad der im Ausgangsverfahren bezeichneten Art belegt den Besitz einer zusätzlichen beruflichen Qualifikation und bestätigt mithin, daß sein Inhaber für eine bestimmte Stelle geeignet ist, sowie gegebenenfalls, daß er die Sprache des Landes beherrscht, in dem der Grad verliehen wurde. Insofern kann ein solcher Grad den Zugang zu einem Beruf erleichtern, indem er die Einstellungschancen seines Inhabers gegenüber den Bewerbern verbessert, die sich auf keine Qualifikation berufen können, welche die zur Besetzung der fraglichen Stelle verlangte Grundausbildung ergänzt.

20 In bestimmten Fällen kann der Besitz eines in einem anderen Staat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades sogar eine Zugangsvoraussetzung für bestimmte Berufe darstellen, wenn für diese spezifische Kenntnisse wie diejenigen verlangt werden, die durch den fraglichen Grad belegt werden. Das kann beispielsweise bei einem aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen rechtswissenschaftlichen Grad der Fall sein, der für den Zugang zu einer akademischen Laufbahn im Bereich des internationalen Rechts oder der Rechtsvergleichung verlangt wird.

21 Ausserdem kann sich der Inhaber eines Grades der im Ausgangsverfahren bezeichneten Art bei der Ausübung seiner Berufstätigkeit insoweit in einer vorteilhaften Lage befinden, als der Besitz dieses Grades ihm eine höhere Vergütung oder einen schnelleren Aufstieg sichern oder ihm während seiner Laufbahn zu bestimmten spezifischen Stellen Zugang verschaffen kann, die Personen mit besonders hohen Qualifikationen vorbehalten sind.

22 Ebenso werden die Niederlassung als Selbständiger und jedenfalls die Ausübung einer entsprechenden beruflichen Tätigkeit durch die Möglichkeit erheblich erleichtert, im Ausland erworbene akademische Grade vorzuweisen, die die inländischen Diplome, die den Zugang zum Beruf eröffnen, ergänzen.

23 Aus alledem folgt, daß die Situation eines Gemeinschaftsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades ist, der den Zugang zu einem Beruf, zumindest aber die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit erleichtert, auch insofern dem Gemeinschaftsrecht unterliegt, als es um die Beziehungen des Betreffenden zu dem Mitgliedstaat geht, dessen Staatsangehöriger er ist.

24 Es ist jedoch festzustellen, daß die dem Gerichtshof vorgelegte Frage somit zwar in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags fällt, aber beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts von keiner spezifischen Regelung erfasst wird.

25 Die Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (ABl. 1989, L 19, S. 16), erfasst nämlich nicht einen akademischen Grad der vor dem vorlegenden Gericht streitigen Art, der am Ende nur eines Studienjahres erworben wurde.

26 Demgegenüber erweitert die Richtlinie 92/51/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG (ABl. L 209, S. 25) die Anerkennungsregelung auf Diplome, die einen mindestens einjährigen Ausbildungsgang abschließen. Diese Richtlinie ist jedoch nach den Vorgängen ergangen, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegen, und die Frist für ihre Umsetzung in nationales Recht ist noch nicht abgelaufen.

27 Solange nicht die Voraussetzungen harmonisiert worden sind, unter denen Inhaber eines aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbenen akademischen Grades diesen Grad in anderen Mitgliedstaaten als dem führen dürfen, in dem er verliehen wurde, bleiben die Mitgliedstaaten grundsätzlich befugt, die Führung eines solchen Grades in ihrem Gebiet im einzelnen zu regeln.

28 Jedoch setzt das Gemeinschaftsrecht der Ausübung dieser Befugnis durch die Mitgliedstaaten insoweit Grenzen, als die hierzu ergangenen nationalen Rechtsvorschriften kein Hindernis für die tatsächliche Ausübung der durch die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten darstellen dürfen (in diesem Sinn Urteil vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86, Heylens, Slg. 1987, 4097, Randnr. 11).

29 Denn wie der Gerichtshof festgestellt hat (insbesondere Urteil vom 7. Juli 1976 in der Rechtssache 118/75, Watson und Belmann, Slg. 1976, 1185, Randnr. 16; Urteil Heylens, a. a. O., Randnr. 8; Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnr. 15), führen die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag einen fundamentalen Grundsatz aus, der in Artikel 3 Buchstabe c EWG-Vertrag verankert ist; dort heisst es, daß die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten umfasst.

30 Indem die Artikel 48 und 52 festlegen, daß die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit bis zum Ende der Übergangszeit herzustellen sind, begründen sie eine klar umrissene Pflicht zur Herbeiführung eines bestimmten Ergebnisses, deren Erfuellung durch die Durchführung von Gemeinschaftsmaßnahmen zwar erleichtert, nicht aber bedingt werden sollte. Der Umstand, daß derartige Maßnahmen noch nicht erlassen worden sind, berechtigt einen Mitgliedstaat nicht, einer dem Gemeinschaftsrecht unterstehenden Person die tatsächliche Ausübung der durch den Vertrag garantierten Freiheiten zu verwehren.

31 Ausserdem sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfuellung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus dem Vertrag ergeben, und alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele des Vertrages gefährden könnten.

32 Daher stehen die Artikel 48 und 52 jeder nationalen Regelung über die Voraussetzungen für die Führung eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen ergänzenden akademischen Grades entgegen, die zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, die aber geeignet ist, die Ausübung der durch den EWG-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten durch die Gemeinschaftsangehörigen einschließlich der Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der die Regelung erlassen hat, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Anders verhielte es sich nur, wenn mit einer solchen Regelung ein berechtigter Zweck verfolgt würde, der mit dem EWG-Vertrag vereinbar und aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre (in diesem Sinn Urteil vom 28. April 1977 in der Rechtssache 71/76, Thieffry, Slg. 1977, 765, Randnrn. 12 und 15). In einem solchen Fall müsste jedoch darüber hinaus die Anwendung der fraglichen nationalen Regelung geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zwecks zu gewährleisten, und sie dürfte nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich ist (vgl. Urteil vom 20. Mai 1992 in der Rechtssache C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351, Randnrn. 29 f.).

33 Hierzu ist zunächst festzustellen, daß eine nationale Regelung wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene, wie das Land Baden-Württemberg in seinen Erklärungen dargelegt hat, bezweckt, die Öffentlichkeit vor der irreführenden Verwendung akademischer Grade zu schützen, die ausserhalb des Gebiets des betreffenden Mitgliedstaats erworben wurden.

34 Sodann ist festzustellen, daß das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, in Ermangelung einer Harmonisierung Maßnahmen zu erlassen, die verhindern sollen, daß die durch den EWG-Vertrag geschaffenen Erleichterungen mißbräuchlich und in einer dem berechtigten Interesse dieses Staates zuwiderlaufenden Weise in Anspruch genommen werden (vgl. Urteil Knoors, a. a. O., Randnr. 25).

35 Die Notwendigkeit, eine nicht unbedingt sachkundige Öffentlichkeit vor der mißbräuchlichen Führung akademischer Grade zu schützen, die nicht in Übereinstimmung mit den entsprechenden Vorschriften des Landes verliehen wurden, in dem der Inhaber des Grades diesen führen will, stellt ein berechtigtes Interesse dar, das eine Beschränkung der durch den EWG-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten seitens des betreffenden Mitgliedstaats rechtfertigen kann.

36 Folglich ist es für sich genommen nicht mit den zwingenden Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar, wenn ein Mitgliedstaat ein Verfahren für die Erteilung behördlicher Genehmigungen zur Führung akademischer Grade, die in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworben worden sind, vorsieht und die Nichtbeachtung dieses Verfahrens unter Strafe stellt.

37 Um jedoch den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit zu genügen, muß eine solche nationale Regelung bestimmte Voraussetzungen erfuellen.

38 So darf zunächst das Genehmigungsverfahren nur bezwecken, zu überprüfen, ob der in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbene akademische Grad von einer hierfür zuständigen Hochschule im Anschluß an ein tatsächlich absolviertes Studium ordnungsgemäß verliehen worden ist.

39 Sodann muß das Genehmigungsverfahren für alle Betroffenen leicht zugänglich sein und darf insbesondere nicht von der Zahlung überhöhter Verwaltungsgebühren abhängen.

40 Ausserdem muß die in Randnummer 38 dieses Urteils genannte Überprüfung des akademischen Grades von den nationalen Behörden nach einem Verfahren vorgenommen werden, das mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an den effektiven Schutz der den Gemeinschaftsangehörigen durch den Vertrag verliehenen Grundrechte in Einklang steht. Deshalb muß jede Entscheidung, mit der die zuständige nationale Behörde eine Genehmigung ablehnt, gerichtlich auf ihre Rechtmässigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden können, und der Betroffene muß von den Gründen Kenntnis erlangen können, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht (Urteil Heylens, a. a. O., Randnrn. 14 bis 17, und Urteil vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-340/89, Vlassopoulou, Slg. 1991, I-2357, Randnr. 22).

41 Schließlich sind die nationalen Behörden zwar berechtigt, im Fall der Nichtbeachtung des Genehmigungsverfahrens Sanktionen zu verhängen; diese dürfen jedoch nicht ausser Verhältnis zu der Art des begangenen Verstosses stehen. Hierbei ist es Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die in der Regelung des betreffenden Mitgliedstaats insoweit vorgesehenen Sanktionen nicht so schwer sind, daß sie zum Hindernis für die vom Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten werden (vgl. Urteil vom 14. Juli 1977 in der Rechtssache 8/77, Sagulo, Slg. 1977, 1495, Randnrn. 12 f.).

42 Nach allem ist auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß es nicht im Widerspruch zu ihnen steht, wenn ein Mitgliedstaat es einem seiner Staatsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums verliehenen akademischen Grades ist, verbietet, diesen Grad in seinem Hoheitsgebiet ohne vorherige behördliche Genehmigung zu führen. Jedoch darf das Genehmigungsverfahren nur bezwecken, zu überprüfen, ob der aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbene akademische Grad ordnungsgemäß verliehen worden ist, das Verfahren muß leicht zugänglich sein und darf nicht von der Zahlung überhöhter Verwaltungsgebühren abhängen, jede Entscheidung, mit der eine Genehmigung abgelehnt wird, muß gerichtlich überprüft werden können, der Betroffene muß von den Gründen Kenntnis erlangen können, die dieser Entscheidung zugrunde liegen, und die für den Fall der Nichtbeachtung des Genehmigungsverfahrens vorgesehenen Sanktionen dürfen nicht ausser Verhältnis zur Schwere des Verstosses stehen.

Kostenentscheidung:

Kosten

43 Die Auslagen des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Verwaltungsgericht Stuttgart mit Beschluß vom 19. Dezember 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, daß es nicht im Widerspruch zu ihnen steht, wenn ein Mitgliedstaat es einem seiner Staatsangehörigen, der Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund eines Postgraduiertenstudiums verliehenen akademischen Grades ist, verbietet, diesen Grad in seinem Hoheitsgebiet ohne vorherige behördliche Genehmigung zu führen. Jedoch darf das Genehmigungsverfahren nur bezwecken, zu überprüfen, ob der aufgrund eines Postgraduiertenstudiums erworbene akademische Grad ordnungsgemäß verliehen worden ist, das Verfahren muß leicht zugänglich sein und darf nicht von der Zahlung überhöhter Verwaltungsgebühren abhängen, jede Entscheidung, mit der eine Genehmigung abgelehnt wird, muß gerichtlich überprüft werden können, der Betroffene muß von den Gründen Kenntnis erlangen können, die dieser Entscheidung zugrunde liegen, und die für den Fall der Nichtbeachtung des Genehmigungsverfahrens vorgesehenen Sanktionen dürfen nicht ausser Verhältnis zur Schwere des Verstosses stehen.

Ende der Entscheidung

Zurück