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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.09.1990
Aktenzeichen: C-192/89
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177 Abs. 1
EWG-Vertrag Art. 228
EWG-Vertrag Art. 238
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Bestimmungen, die der durch ein Assoziierungsabkommen zwischen der Gemeinschaft und einem Drittstaat geschaffene Assoziationsrat zur Durchführung dieses Abkommens erlässt, sind ebenso wie das Abkommen selbst von ihrem Inkrafttreten an integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung. Daher hat der Gerichtshof, der gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag für die Entscheidung über das Abkommen als eine Handlung der Organe zuständig ist, auch die Befugnis, über die Auslegung dieser Bestimmungen zu entscheiden; dies trägt dazu bei, die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu sichern.

2. Die Bestimmungen, die ein Assoziationsrat erlässt, der durch ein Assoziierungsabkommen geschaffen worden ist, um die Durchführung dieses Abkommens sicherzustellen, sind ebenso wie die Bestimmungen der von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommen als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie im Hinblick auf ihren Wortlaut, Sinn und Zweck sowie unter Berücksichtigung von Wortlaut, Sinn und Zweck des Assoziierungsabkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthalten, deren Erfuellung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen. Diese Voraussetzungen werden durch die Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b und 7 des Beschlusses Nr. 2/76 sowie durch die Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich und 13 des Beschlusses Nr. 1/80 erfuellt. Diese beiden Beschlüsse wurden von dem durch das Assoziierungsabkommen EWG-Türkei geschaffenen Assoziationsrat erlassen, um die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, die in Bestimmungen des Abkommens mit Programmcharakter vorgesehen ist. Diese Artikel haben somit in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft unmittelbare Wirkung.

In diesem Zusammenhang spielt die Regelung, wonach gegebenenfalls nationale Durchführungsmaßnahmen getroffen werden können, keine Rolle, da insoweit keine ermessensmässige Entscheidungsbefugnis besteht. Irrelevant ist auch, daß die betreffenden Beschlüsse nicht veröffentlicht wurden, da die fehlende Veröffentlichung nur zur Folge haben kann, daß die Beschlüsse nicht den einzelnen entgegengehalten werden können. Schließlich ist unbeachtlich, daß die Mitgliedstaaten von Schutzklauseln Gebrauch machen können, da diese nur unter bestimmten Umständen anwendbar sind.

3. Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, die beide von dem durch das Assoziierungsabkommen EWG-Türkei geschaffenen Assoziationsrat erlassen wurden, gewähren einem türkischen Arbeitnehmer nach einem bestimmten Zeitraum ordnungsgemässer Beschäftigung in einem Mitgliedstaat dort Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn - oder Gehaltsverhältnis. Die Ordnungsmässigkeit der Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmungen setzt allerdings, selbst wenn sie nicht notwendigerweise vom Besitz einer ordnungsgemässen Aufenthaltserlaubnis abhängen sollte, eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt voraus. Der Begriff "ordnungsgemässe Beschäftigung" in diesen Bestimmungen kann daher nicht den Fall eines türkischen Arbeitnehmers erfassen, der eine Beschäftigung ausüben darf, solange die Vollziehung einer Entscheidung ausgesetzt ist, mit der ihm das Aufenthaltsrecht verweigert wurde und gegen die er erfolglos Klage erhoben hat.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 20. SEPTEMBER 1990. - S. Z. SEVINCE GEGEN STAATSSECRETARIS VAN JUSTITIE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: RAAD VAN STATE - NIEDERLANDE. - ASSOZIIERUNGSABKOMMEN EWG-TUERKEI - BESCHLUESSE DES ASSOZIATIONSRATES - UNMITTELBARE WIRKUNG. - RECHTSSACHE C-192/89.

Entscheidungsgründe:

1 Der niederländische Raad van State hat mit Entscheidung vom 1. Juni 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung einiger Bestimmungen der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 des Assoziationsrates vom 20. Dezember 1976 bzw. 19. September 1980, der durch das am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 ( ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685 ) geschlossene Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei ( im folgenden : Abkommen ) geschaffen worden ist, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens, einem türkischen Staatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie wegen dessen Weigerung, dem Kläger eine Erlaubnis zum Aufenthalt in den Niederlanden zu erteilen.

3 Wie sich aus den Verfahrensakten ergibt, wurde dem Kläger am 11. September 1980 eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, die ihm am 22. Februar 1979 erteilt worden war, unter Hinweis darauf verweigert, daß die familiären Gründe für die Gewährung dieser Erlaubnis nicht mehr bestuenden. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage, die von Rechts wegen aufschiebende Wirkung hatte, wurde vom Raad van State am 12. Juni 1986 rechtskräftig abgewiesen. Für die Dauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage erhielt der Kläger eine Arbeitsbescheinigung, die bis zu dem Urteil des Raad van State vom 12. Juni 1986 gültig blieb.

4 Am 13. April 1987 beantragte der Kläger unter Berufung darauf, daß er mehrere Jahre lang in den Niederlanden als Arbeitnehmer tätig gewesen sei, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Er stützte seinen Antrag auf Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des vorerwähnten Beschlusses Nr. 2/76, wonach ein türkischer Arbeitnehmer nach fünf Jahren ordnungsgemässer Beschäftigung in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft dort freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn - oder Gehaltsverhältnis hat, sowie auf Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des vorerwähnten Beschlusses Nr. 1/80, wonach ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat nach vier Jahren ordnungsgemässer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn - oder Gehaltsverhältnis hat. Dieser Antrag wurde von den niederländischen Behörden stillschweigend abgelehnt.

5 Der Raad van State, bei dem Klage gegen diesen Ablehnungsbescheid erhoben wurde, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"1 ) Ist Artikel 177 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß ein Gericht eines Mitgliedstaats berechtigt ( oder, wie im vorliegenden Fall, verpflichtet ) ist, eine Frage nach der Auslegung der hier in Rede stehenden Beschlüsse des Assoziationsrates, nämlich des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder des Beschlusses Nr. 1/80, dem Gerichtshof vorzulegen, wenn ihm eine derartige Frage gestellt wird und es eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält?

2 ) Bei Bejahung der Frage 1 :

Sind Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sowie Artikel 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 als in den Staaten der Europäischen Gemeinschaften geltende Vorschriften, die unmittelbar anwendbar sind, anzusehen?

3 ) Bei Bejahung der Frage 2 :

Was ist unter dem Begriff 'ordnungsgemässe Beschäftigung' in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu verstehen ( auch aufgrund von Artikel 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 )? Ist hierunter eine Beschäftigung zu verstehen, die ausgeuebt wurde, während der Betroffene im Besitz einer auf den ausländerrechtlichen Vorschriften beruhenden Aufenthaltserlaubnis war - mit der Nebenfrage, ob hierunter im weiteren Sinne auch eine Beschäftigung fällt, die der Betroffene in der Zeit ausüben konnte und durfte, in der er den Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung über eine Aufenthaltserlaubnis erwartete -, oder nur eine Beschäftigung, die nach den Vorschriften über die Beschäftigung von Ausländern als rechtlich erlaubt anzusehen ist?"

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

7 Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht im Kern dahin, ob die Auslegung der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 in den Anwendungsbereich des Artikels 177 EWG-Vertrag fällt.

8 Hierzu ist vorab darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes die Bestimmungen eines vom Rat gemäß den Artikeln 228 und 238 EWG-Vertrag geschlossenen Abkommens von dessen Inkrafttreten an einen integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung bilden ( vergleiche Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnr. 7, und Urteil vom 14. November 1989 in der Rechtssache 30/88, Griechenland/Kommission, Slg. 1989, 3711, Randnr. 12 ).

9 Der Gerichtshof hat auch entschieden, daß die Beschlüsse des Assoziationsrates aufgrund ihres unmittelbaren Zusammenhangs mit dem Abkommen, zu dessen Durchführung sie ergehen, ebenso wie das Abkommen selbst von ihrem Inkrafttreten an integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind ( vergleiche Urteil vom 14. November 1989, Griechenland/Kommission, a. a. O., Randnr. 13 ).

10 Da der Gerichtshof zur Vorabentscheidung über das Abkommen als eine Handlung eines Gemeinschaftsorgans befugt ist ( vergleiche Urteil vom 30. April 1974 in der Rechtssache 181/73, Hägeman, Slg. 1974, 449 ), ist er auch befugt, über die Auslegung von Beschlüssen des durch das Abkommen geschaffenen und mit dessen Durchführung beauftragten Organs zu entscheiden.

11 Dies gilt um so mehr, als Artikel 177 EWG-Vertrag die einheitliche Anwendung aller zur Gemeinschaftsrechtsordnung gehörenden Bestimmungen innerhalb der Gemeinschaft sichern und damit verhindern soll, daß diese Bestimmungen je nach der Auslegung, die ihnen in den verschiedenen Mitgliedstaaten gegeben wird, unterschiedliche Rechtswirkungen entfalten ( vergleiche Urteil vom 26. Oktober 1982 in der Rechtssache 104/81, Kupferberg, Slg. 1982, 3641, und Urteil vom 16. März 1983 in den verbundenen Rechtssachen 267/81 bis 269/81, SPI und SAMI, Slg. 1983, 801 ).

12 Auf die erste Frage des Raad van State ist somit zu antworten, daß die Auslegung der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 in den Anwendungsbereich des Artikels 177 EWG-Vertrag fällt.

Zur zweiten Frage

13 Die zweite Frage des Raad van State geht dahin, ob die Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b und 7 des Beschlusses Nr. 2/76 sowie die Artikel 6 Absatz 1 und 13 des Beschlusses Nr. 1/80 im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung haben.

14 Den Bestimmungen eines Beschlusses des Assoziationsrates kann eine solche Wirkung nur dann zuerkannt werden, wenn sie dieselben Voraussetzungen erfuellen, wie sie für die Bestimmungen des Abkommens selbst gelten.

15 In seinem Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache Demirel ( a. a. O.) hat der Gerichtshof entschieden, daß eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens als unmittelbar anwendbar anzusehen ist, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfuellung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen ( Randnr. 14 ). Anhand derselben Kriterien ist zu ermitteln, ob die Bestimmungen eines Beschlusses des Assoziationsrates unmittelbare Wirkung haben können.

16 Zur Klärung der Frage, ob die in Rede stehenden Bestimmungen der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 diese Kriterien erfuellen, ist zunächst der Wortlaut dieser Bestimmungen zu untersuchen.

17 Insoweit ist festzustellen, daß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 nach ihrem Wortlaut klar, eindeutig, und ohne daß dies an Bedingungen geknüpft wäre, türkischen Arbeitnehmern nach einer bestimmten Anzahl von Jahren ordnungsgemässer Beschäftigung in einem Mitgliedstaat das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn - oder Gehaltsverhältnis verleihen.

18 Ebenso enthalten Artikel 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eine eindeutige Stillhalteklausel, die die Einführung neuer Beschränkungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Arbeitnehmer verbietet, deren Aufenthalt und Beschäftigung im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten ordnungsgemäß sind.

19 Die Feststellung, daß die im Ausgangsverfahren fraglichen Bestimmungen der Beschlüsse des Assoziationsrates geeignet sind, die Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören, unmittelbar zu regeln, wird durch eine Prüfung von Sinn und Zweck der Beschlüsse, in denen diese Bestimmungen enthalten sind, sowie des Abkommens, auf das sich die Beschlüsse beziehen, erhärtet.

20 Durch das Abkommen, das nach seinem Artikel 2 Absatz 1 zum Ziel hat, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels - und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern, wird eine Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei begründet. Diese Assoziation umfasst eine Vorbereitungsphase, die es der Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen, eine Übergangsphase, die der schrittweisen Errichtung einer Zollunion und der Annäherung der Wirtschaftspolitiken gewidmet ist, sowie eine Endphase, die auf der Zollunion beruht und eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken einschließt ( vergleiche Urteil vom 30. September 1987, Demirel, a. a. O., Randnr. 15 ). Was die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer anbelangt, so vereinbaren die Vertragsparteien gemäß Artikel 12 des Abkommens, der zu Titel II betreffend die Durchführung der Übergangsphase der Assoziation gehört, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 EWG-Vertrag leiten zu lassen, um untereinander diese Freizuegigkeit schrittweise herzustellen. Artikel 36 des am 23. November 1970 unterzeichneten und dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei als Anhang beigefügten Zusatzprotokolls, das durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 ( ABl. L 293, S. 1 ) ( im folgenden : Zusatzprotokoll ) abgeschlossen worden ist, bestimmt die Fristen für die schrittweise Herstellung dieser Freizuegigkeit und sieht vor, daß der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt.

21 Der Assoziationsrat hat die Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 zur Durchführung von Artikel 12 des Abkommens und von Artikel 36 des Zusatzprotokolls erlassen, hinsichtlich deren der Gerichtshof in dem Urteil vom 30. September 1987 ( Demirel, a. a. O.) festgestellt hatte, daß sie im wesentlichen Programmcharakter haben. So verweist der Beschluß Nr. 2/76 in seiner Präambel ausdrücklich auf Artikel 12 des Abkommens und auf Artikel 36 des Zusatzprotokolls; in Artikel 1 dieses Beschlusses sind für eine erste Stufe die Durchführungsbestimmungen zu Artikel 36 des Zusatzprotokolls festgelegt. Durch den Beschluß Nr. 1/80 soll ausweislich seiner dritten Begründungserwägung im sozialen Bereich die Regelung zugunsten der Arbeitnehmer und Familienangehörigen gegenüber der mit dem Beschluß Nr. 2/76 eingeführten Regelung verbessert werden. Der Umstand, daß die vorerwähnten Bestimmungen des Abkommens und des Zusatzprotokolls im wesentlichen Programmcharakter haben, schließt nicht aus, daß den Beschlüssen des Assoziationsrates, durch die die in dem Abkommen vorgesehenen Programme in bestimmten Punkten verwirklicht werden, unmittelbare Wirkung zukommen kann.

22 Der Feststellung, daß die mit der zweiten Vorlagefrage angesprochenen Artikel der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 geeignet sind, unmittelbare Wirkung zu entfalten, steht nicht die in Artikel 2 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 2/76 und in Artikel 6 Absatz 3 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltene Regelung entgegen, wonach die Einzelheiten der Durchführung der den türkischen Arbeitnehmern zuerkannten Rechte durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt werden. Durch diese Regelung wird nämlich nur die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung zum Erlaß derjenigen Verwaltungsmaßnahmen konkretisiert, die zur Durchführung jener Bestimmungen gegebenenfalls erforderlich sind, ohne daß die Mitgliedstaaten dadurch ermächtigt würden, die Ausübung des genau bestimmten und an keine Bedingungen geknüpften Rechts, das den türkischen Arbeitnehmern aufgrund der Beschlüsse des Assoziationsrates zusteht, an Bedingungen zu binden oder einzuschränken.

23 Auch durch Artikel 12 des Beschlusses Nr. 2/76 und Artikel 29 des Beschlusses Nr. 1/80, wonach die Vertragsparteien jeweils für ihren Bereich die zur Durchführung des jeweiligen Beschlusses erforderlichen Maßnahmen treffen, wird lediglich die - im übrigen in Artikel 7 des Abkommens selbst formulierte - Verpflichtung bekräftigt, völkerrechtliche Abkommen nach Treu und Glauben zu erfuellen.

24 Den im Ausgangsverfahren fraglichen Bestimmungen kann auch nicht allein deshalb eine unmittelbare Wirkung abgesprochen werden, weil es an einer Veröffentlichung der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 fehlt. Die fehlende Veröffentlichung dieser Beschlüsse mag zwar der Begründung von Verpflichtungen für den einzelnen entgegenstehen;sie nimmt ihm jedoch nicht die Möglichkeit, sich gegenüber einer Behörde auf die ihm durch diese Beschlüsse zuerkannten Rechte zu berufen.

25 Was die Schutzklauseln betrifft, die den Vertragsparteien ein Abweichen von den Bestimmungen gestatten, die zugunsten der in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats ordnungsgemäß integrierten türkischen Arbeitnehmer bestimmte Rechte begründen, so ist zu bemerken, daß diese Klauseln nur unter bestimmten Umständen anwendbar sind. Abgesehen von den spezifischen Situationen, die ihre Anwendung zur Folge haben können, steht die blosse Existenz der Schutzklauseln der unmittelbaren Geltung derjenigen Bestimmungen, von denen nach diesen Klauseln abgewichen werden darf, nicht entgegen ( vergleiche Urteil vom 26. Oktober 1982, Kupferberg, a. a. O.).

26 Nach alledem ist auf die zweite Frage des Raad van State zu antworten, daß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sowie Artikel 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unmittelbare Wirkung haben.

Zur dritten Frage

27 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff "ordnungsgemässe Beschäftigung" in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 den Fall eines türkischen Arbeitnehmers erfasst, der eine Beschäftigung ausüben darf, solange die Vollziehung einer Entscheidung ausgesetzt ist, mit der ihm das Aufenthaltsrecht verweigert wurde und gegen die er Klage erhoben hat.

28 Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzustellen, daß die genannten Bestimmungen lediglich die beschäftigungsrechtliche, nicht aber die aufenthaltsrechtliche Stellung der türkischen Arbeitnehmer regeln.

29 Diese beiden Aspekte der persönlichen Situation türkischer Arbeitnehmer sind jedoch eng miteinander verknüpft. Indem die fraglichen Bestimmungen diesen Arbeitnehmern nach einem bestimmten Zeitraum ordnungsgemässer Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn - oder Gehaltsverhältnis gewähren, implizieren sie zwangsläufig, daß den türkischen Arbeitnehmern zumindest zu diesem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht; anderenfalls wäre das Recht, das sie diesen Arbeitnehmern zuerkennen, völlig wirkungslos.

30 Die Ordnungsmässigkeit der Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmungen setzt allerdings, selbst wenn sie nicht notwendigerweise vom Besitz einer ordnungsgemässen Aufenthaltserlaubnis abhängen sollte, eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt voraus.

31 So kann es, wenngleich die ordnungsgemässe Ausübung einer Beschäftigung während eines bestimmten Zeitraums nach dessen Ablauf zum Erwerb des Aufenthaltsrechts führt, insbesondere nicht zulässig sein, daß ein türkischer Arbeitnehmer sich die Möglichkeit zur Erfuellung dieser Voraussetzung und somit zum Erwerb dieses Rechts allein dadurch verschafft, daß er, nachdem ihm von den nationalen Behörden eine für diesen Zeitraum gültige Aufenthaltserlaubnis verweigert wurde, den im nationalen Recht vorgesehenen Rechtsweg gegen diese Weigerung beschreitet und infolge der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bis zum Ausgang des Rechtsstreits vorläufig in dem betreffenden Mitgliedstaat bleiben und dort eine Beschäftigung ausüben darf.

32 Der Begriff "ordnungsgemässe Beschäftigung" in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 kann daher nicht den Fall erfassen, daß ein türkischer Arbeitnehmer die Ausübung einer Beschäftigung nur wegen der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bis zur rechtskräftigen Entscheidung des nationalen Gerichts über diese Klage rechtmässigerweise fortsetzen konnte, vorausgesetzt allerdings, daß dieses Gericht seine Klage abweist.

33 Auf die dritte Frage des vorlegenden Gerichts ist mithin zu antworten, daß der Begriff "ordnungsgemässe Beschäftigung" in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 nicht den Fall eines türkischen Arbeitnehmers erfasst, der eine Beschäftigung ausüben darf, solange die Vollziehung einer Entscheidung ausgesetzt ist, mit der ihm das Aufenthaltsrecht verweigert wurde und gegen die er erfolglos Klage erhoben hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

34 Die Auslagen der Bundesregierung, der niederländischen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom niederländischen Raad van State durch Entscheidung vom 1. Juni 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1 ) Die Auslegung der Beschlüsse Nrn. 2/76 und 1/80 des durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates vom 20. Dezember 1976 bzw. 19. September 1980 fällt in den Anwendungsbereich des Artikels 177 EWG-Vertrag.

2 ) Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sowie Artikel 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 haben in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unmittelbare Wirkung.

3 ) Der Begriff "ordnungsgemässe Beschäftigung" in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses Nr. 2/76 und/oder in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfasst nicht den Fall eines türkischen Arbeitnehmers, der eine Beschäftigung ausüben darf, solange die Vollziehung einer Entscheidung ausgesetzt ist, mit der ihm das Aufenthaltsrecht verweigert wurde und gegen die er erfolglos Klage erhoben hat.

Ende der Entscheidung

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