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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 28.06.1990
Aktenzeichen: C-195/90 R (1)
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
EWG-Vertrag Art. 76
EWG-Vertrag Art. 95
EWG-Vertrag Art. 5
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTSHOFES VOM 28. JUNI 1990. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. - VERKEHR - STRASSENBENUTZUNGSGEBUEHREN. - RECHTSSACHE C-195/90 R.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 23. Juni 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland durch die Verabschiedung des Gesetzes über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 76, 95 und 5 EWG-Vertrag verstossen hat.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der ebenfalls am 23. Juni 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gemäß Artikel 186 EWG-Vertrag beantragt, die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Vollzug dieses Gesetzes auszusetzen, bis der Gerichtshof in der Hauptsache entschieden hat.

3 Die Kommission hat ausdrücklich gemäß Artikel 84 § 2 der Verfahrensordnung beantragt, noch vor Eingang der Stellungnahme der Gegenpartei einen Beschluß zu erlassen, mit dem dem Antrag auf einstweilige Anordnung vorsorglich bis zur Verkündung des Beschlusses stattgegeben wird, durch den das Verfahren der einstweiligen Anordnung abgeschlossen wird.

4 Wie sich aus den Akten ergibt, tritt das Strassenbenutzungsgebührengesetz vom 30. April 1990 am 1. Juli 1990 in Kraft.

5 Mit Artikel 1 dieses Gesetzes wird, vorbehaltlich bestimmter Befreiungen, eine neue Gebühr für die Benutzung von Bundesautobahnen und Bundesstrassen ausserhalb geschlossener Ortschaften mit Lastfahrzeugen eingeführt, deren zulässiges oder tatsächliches Gesamtgewicht 18 t übersteigt.

6 Die Gebühr für ein Jahr beträgt je nach zulässigem Gesamtgewicht des Fahrzeugs 1 000 bis 9 000 DM. Die Gebühr kann, nach bestimmten Modalitäten, für einen nach Tagen ( 24 Stunden ), Wochen oder Monaten bestimmbaren Zeitraum entrichtet werden.

7 Über die Entrichtung der Gebühr wird eine Bescheinigung ausgegeben, die im Fahrzeug mitzuführen ist. Die erforderlichen Kontrollen werden unter anderem von der Polizei und den Zolldienststellen durchgeführt; Kontrollen an den Grenzen zu Mitgliedstaaten dürfen jedoch nur stichprobenweise aus Anlaß anderer Kontrollen durchgeführt werden.

8 Mit Artikel 2 dieses Gesetzes wird ferner das Kraftfahrzeugsteuergesetz geändert, und es werden für einen begrenzten Zeitraum ermässigte Kraftfahrzeugsteuersätze nach Maßgabe des Gesamtgewichts des Fahrzeugs, insgesamt jedoch nicht mehr als 3 500 DM jährlich, eingeführt.

9 Wie sich weiter aus den Akten ergibt, war der Entwurf dieses Gesetzes der Kommission am 21. März 1989 gemäß der Entscheidung des Rates vom 21. März 1962 über die Einführung eines Verfahrens zur vorherigen Prüfung und Beratung künftiger Rechts - und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Verkehrs ( ABl. 1962, Nr. 23, S. 720 ) zur Konsultation übermittelt worden.

10 Die Kommission führt in ihrer gemäß dieser Entscheidung abgegebenen Stellungnahme vom 15. Juni 1989 aus, daß die geplante Senkung der Kraftfahrzeugsteuer nur den deutschen Verkehrsunternehmen zugute komme, da die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten aufgrund zweiseitiger Abkommen von dieser Steuer befreit seien, und daß die geplante Senkung des Satzes dieser Steuer praktisch dem Betrag der geplanten Strassenbenutzungsgebühr entspreche. Die Einführung dieser Gebühr belaste somit nicht die deutschen Verkehrsunternehmen, sondern ausschließlich die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten, die diese Gebühr entrichten müssten, ohne in den Genuß der Senkung der Kraftfahrzeugsteuer zu kommen.

11 Die Kommission vertritt in dieser Stellungnahme die Auffassung, daß die von der Bundesrepublik Deutschland geplanten Bestimmungen gegen die Stillhalteverpflichtung aus Artikel 76 EWG-Vertrag verstießen, wonach ein Mitgliedstaat bis zur Einführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik gemäß Artikel 75 Absatz 1 die verschiedenen, bei Inkrafttreten des EWG-Vertrages auf diesem Gebiet geltenden Vorschriften in ihren unmittelbaren oder mittelbaren Auswirkungen auf die Verkehrsunternehmer anderer Mitgliedstaaten im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmern nicht ungünstiger gestalten darf, es sei denn, daß der Rat einstimmig etwas anderes billigt. Nach dieser Stellungnahme verstossen die geplanten Bestimmungen unter anderem auch gegen Artikel 95 EWG-Vertrag.

12 Nach der am 6. April 1990 erfolgten Annahme des Gesetzentwurfs richtete die Kommission am 11. April 1990 eine Aufforderung zur Äusserung an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der sie am 1. Juni 1990 die mit Gründen versehene Stellungnahme gemäß Artikel 169 Absatz 1 EWG-Vertrag folgen ließ.

13 In ihren Antwortschreiben vom 30. April und 22. Juni 1990 auf die Aufforderung zur Äusserung und auf die mit Gründen versehene Stellungnahme führt die Bundesregierung aus, Ziel des Gesetzes sei es, zum einen die Kraftfahrzeugsteuer für schwere Lastkraftwagen, die im europäischen Vergleich sehr hoch sei, zu senken und damit die Wettbewerbsbedingungen anzugleichen und zum anderen den unzureichenden Beitrag der ausländischen Lastkraftwagen zu den Wegekosten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu erhöhen. Die erlassenen Maßnahmen verstießen auch nicht gegen Artikel 76 EWG-Vertrag, der keine Stillhalteverpflichtung enthalte, sondern eine Spezialbestimmung zum Diskriminierungsverbot sei; denn weder die neue Strassenbenutzungsgebühr noch die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer seien als solche diskriminierend.

14 Die Bundesregierung betont in diesen Antwortschreiben, daß die Strassenbenutzungsgebühr im Einklang mit den Orientierungen stehe, die die Kommission selbst in ihrem Vorschlag vom 8. Januar 1988 für eine Richtlinie des Rates zur Anlastung der Wegekosten an schwere Nutzfahrzeuge vorgeschlagen habe, und daß das Strassenbenutzungsgebührengesetz eine begrenzte Geltungsdauer habe und 1993 ausser Kraft gesetzt werde, wenn in der Zwischenzeit ein harmonisiertes Steuersystem geschaffen werde.

15 In ihrem Antrag auf einstweilige Anordnung macht die Kommission zur Frage der Dringlichkeit insbesondere geltend, die einseitige Einführung der vorgesehenen Strassenbenutzungsgebühr stelle eine nicht hinnehmbare Störung des Ordre public in der Gemeinschaft dar und rufe eine ernsthafte Störung des Gleichgewichts auf dem Verkehrsmarkt hervor, weil sie das Überleben einer erheblichen Zahl kleiner und mittlerer Verkehrsunternehmen aus den anderen Mitgliedstaaten gefährde.

16 Die Kommission betont in ihrem Antrag ferner, daß die Gefahr bestehe, daß die Einführung der Strassenbenutzungsgebühr zu Vergeltungsmaßnahmen seitens der anderen Mitgliedstaaten führe, wodurch die Störung des Marktes noch verstärkt und jeder Fortschritt hin zu einer gemeinsamen Politik illusorisch gemacht würde.

17 Gemäß Artikel 84 § 2 der Verfahrensordnung kann der Präsident einem Antrag auf einstweilige Anordnung stattgeben, bevor die Stellungnahme der Gegenpartei eingeht. Diese Entscheidung kann später, auch von Amts wegen, abgeändert oder aufgehoben werden.

18 Beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens konnte die Bundesrepublik Deutschland zu dem Antrag der Kommission auf einstweilige Anordnung noch nicht umfassend Stellung nehmen, so daß sich nicht entscheiden lässt, ob die Kommission die Notwendigkeit der von ihr beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ausreichend dargetan hat.

19 Das Vorbringen der Kommission erscheint jedoch auf den ersten Blick nicht unbegründet, und es ist nicht auszuschließen, daß sich aus den von der Kommission angeführten Umständen die für den Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung erforderliche Dringlichkeit ergibt.

20 Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Rechtsstreits, insbesondere des unmittelbar bevorstehenden Inkrafttretens des Strassenbenutzungsgebührengesetzes, erscheint es im Interesse einer geordneten Rechtspflege erforderlich, daß der Status quo für die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten bis zur Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung aufrechterhalten wird. Folglich ist vorsorglich anzuordnen, daß die Bundesrepublik Deutschland die Erhebung der im Gesetz vom 30. April 1990 vorgesehenen Strassenbenutzungsgebühr für in den anderen Mitgliedstaaten zugelassene Fahrzeuge bis zur Verkündung des Beschlusses aussetzt, durch den das vorliegende Verfahren der einstweiligen Anordnung abgeschlossen wird.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT

beschlossen :

1)Die Bundesrepublik Deutschland setzt die Erhebung der im Strassenbenutzungsgebührengesetz vom 30. April 1990 vorgesehenen Strassenbenutzungsgebühr für die in den anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeuge vorsorglich bis zur Verkündung des Beschlusses aus, durch den das vorliegende Verfahren der einstweiligen Anordnung abgeschlossen wird.

2 ) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 28. Juni 1990.

Ende der Entscheidung

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