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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.05.1992
Aktenzeichen: C-195/90
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 5
EWGV Art. 76
EWGV Art. 95
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine nationale Regelung, mit der eine Gebühr für die Benutzung von Strassen mit schweren Lastfahrzeugen eingeführt wird, die von allen Benutzern unabhängig von deren Staatsangehörigkeit zu zahlen ist, und gleichzeitig eine nur den inländischen Verkehrsteilnehmern zugute kommende Senkung der Kraftfahrzeugsteuer vorgenommen wird, bewirkt, daß die Lage der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten im Vergleich zu der der inländischen Verkehrsunternehmen in einem für erstere ungünstigen Sinne verändert wird.

Sie verstösst daher gegen Artikel 76 EWG-Vertrag, auch wenn ihre Geltungsdauer in der Erwartung eines Tätigwerdens des Rates zur Durchführung einer gemeinsamen Politik auf diesem Gebiet beschränkt ist und sie zum Umweltschutz, der ein wesentliches Ziel der Gemeinschaft ist, beitragen soll, indem sie durch die Erhöhung des Beitrags der schweren Lastfahrzeuge zu den Wegekosten die Verlagerung des Strassenverkehrs auf andere Verkehrsträger begünstigt. Um zu verhindern, daß die Einführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik erschwert wird, sieht Artikel 76 nämlich vor, daß ein Mitgliedstaat bis zum Erlaß der in Artikel 75 Absatz 1 genannten Vorschriften die verschiedenen, bei Inkrafttreten dieses Vertrages auf diesem Gebiet geltenden Vorschriften in ihren unmittelbaren oder mittelbaren Auswirkungen auf die Verkehrsunternehmer anderer Mitgliedstaaten im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmern nicht ungünstiger gestalten darf, es sei denn, daß der Rat einstimmig etwas anderes billigt; im Hinblick auf sein Ziel ist Artikel 76 so zu verstehen, daß er es einem Mitgliedstaat auch verbietet, den Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten den Vorteil etwaiger Maßnahmen zu entziehen, durch die die Lage dieser Unternehmen im Vergleich zur Lage der inländischen Verkehrsunternehmen günstiger gestaltet werden soll.

2. Da Artikel 76 EWG-Vertrag im Bereich des Verkehrs die Konkretisierung der allgemeinen, den Mitgliedstaaten durch Artikel 5 EWG-Vertrag auferlegten Verpflichtung darstellt, alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele des Vertrages gefährden könnten, bewirkt die Feststellung, daß ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 76 verstossen hat, daß ein eigenständiger Verstoß dieses Mitgliedstaats gegen Artikel 5 EWG-Vertrag nicht mehr festgestellt zu werden braucht.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 19. MAI 1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - VERKEHR - STRASSENBENUTZUNGSGEBUEHREN FUER SCHWERE LASTFAHRZEUGE. - RECHTSSACHE C-195/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 23. Juni 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland durch den Erlaß des Gesetzes über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 (BGBl. 1990 I S. 826; nachstehend: Gesetz vom 30. April 1990) gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 76, 95 und 5 EWG-Vertrag verstossen hat.

2 Mit Artikel 1 des Gesetzes vom 30. April 1990 wird, vorbehaltlich bestimmter Befreiungen, eine Gebühr für die Benutzung von Bundesautobahnen und Bundesstrassen ausserhalb geschlossener Ortschaften mit Lastfahrzeugen eingeführt, deren zulässiges oder tatsächliches Gesamtgewicht 18 Tonnen übersteigt.

3 Die Gebühr kann für jeden Zeitraum entrichtet werden, der nach Tagen, Wochen oder Monaten bestimmbar ist, jedoch nicht für mehr als ein Jahr. Die Gebühr für ein Jahr beträgt je nach Gesamtgewicht des Fahrzeugs 1 000 bis 9 000 DM. Die Gebühr für einen Monat, eine Woche oder einen Tag beträgt jeweils den 10ten, 35sten oder 150sten Teil der Gebühr für ein Jahr, mindestens jedoch 10 DM.

4 Über die Entrichtung der Gebühr wird eine Bescheinigung ausgegeben, die im Fahrzeug mitzuführen ist. Die erforderlichen Kontrollen werden u. a. durch die Polizei- und Zolldienststellen durchgeführt; Kontrollen an den Grenzen zu Mitgliedstaaten dürfen jedoch nur stichprobenweise aus Anlaß anderer Kontrollen durchgeführt werden.

5 Artikel 2 des Gesetzes vom 30. April 1990 ändert das Kraftfahrzeugsteuergesetz und führt für die Zeit vom 1. Juli 1990 bis zum 31. Dezember 1993 besondere Kraftfahrzeugsteuersätze, gestaffelt nach dem Gesamtgewicht, ein; der jährliche Hoechstsatz beträgt für schwere Lastfahrzeuge 3 500 DM und für Anhänger 300 DM. Aufgrund dieser Beschränkung wirkt sich das Gesetz vom 30. April 1990 für schwere Lastfahrzeuge mit einem Gesamtgewicht über 16 Tonnen und für Anhänger mit einem Gesamtgewicht über 2,6 Tonnen kraftfahrzeugsteuersenkend aus.

6 Gemäß seinem Artikel 5 tritt das Gesetz vom 30. April 1990 am 1. Juli 1990 in Kraft und mit Ablauf des Jahres 1993 ausser Kraft.

7 Nach der Gesetzesbegründung (Drucksache 11/6336, Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode, S. 10) werden mit dem Gesetz vom 30. April 1990 zwei Ziele verfolgt: Zum einen soll die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen den Güterkraftverkehrsunternehmen aus der Bundesrepublik Deutschland und denen aus anderen Ländern ermöglichen, und zum anderen sollen durch die Einführung der Strassenbenutzungsgebühr der Beitrag der deutschen Lastkraftwagen zu den Kosten der Verkehrswege auf dem gegenwärtigen Niveau beibehalten und der für unzureichend gehaltene Beitrag der gebietsfremden Lastkraftwagen zu diesen Kosten erhöht werden. Das Ausserkrafttreten des Gesetzes zum 31. Dezember 1993 ist im Hinblick darauf vorgesehen, daß bis dahin eine Richtlinie des Rates zur Anlastung der Wegekosten auf Gemeinschaftsebene erlassen und in nationales Recht umgesetzt worden sein soll.

8 Aus den Akten geht hervor, daß der Entwurf des fraglichen Gesetzes gemäß der Entscheidung des Rates vom 21. März 1962 über die Einführung eines Verfahrens zur vorherigen Prüfung und Beratung künftiger Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Verkehrs (ABl. 1962, Nr. 23, S. 720) in der durch die Entscheidung 73/402/EWG des Rates vom 22. November 1973 (ABl. L 347, S. 48) geänderten Fassung am 21. März 1989 der Kommission zur Beratung übermittelt worden war.

9 In ihrer Stellungnahme, die sie am 15. Juni 1989 gemäß der genannten Entscheidung abgab, gelangte die Kommission zu dem Ergebnis, daß die Einführung einer Strassenbenutzungsgebühr in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit einer entsprechenden Senkung der deutschen Kraftfahrzeugsteuer, die sich wegen der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten abgeschlossenen bilateralen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Kraftfahrzeugen (nachstehend: bilaterale Abkommen) nur zugunsten der deutschen Verkehrsunternehmen auswirke, nicht mit den Artikeln 76 und 95 EWG-Vertrag vereinbar sei und daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch ihre

Verpflichtungen zur Zusammenarbeit und Gemeinschaftstreue im Sinne von Artikel 5 EWG-Vertrag verletze, da sie die Kommissionvorschläge zur Verwirklichung der Vertragsziele auf dem Gebiet der gemeinsamen Verkehrspolitik in Gefahr bringe.

10 Nachdem die Kommission im März 1990 vom Beschluß des Gesetzes durch den Bundestag erfahren hatte, hat sie gegen die Bundesrepublik Deutschland das Verfahren des Artikels 169 EWG-Vertrag eingeleitet und mit der vorliegenden Klage den Gerichtshof angerufen.

11 Mit Beschlüssen des Gerichtshofes vom 4. Juli 1990 sind das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg und das Königreich der Niederlande als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

12 Mit Beschluß vom 12. Juli 1990 hat der Gerichtshof einem von der Kommission gemäß Artikel 186 EWG-Vertrag gestellten Antrag auf einstweilige Anordnung stattgegeben und angeordnet, daß die Bundesrepublik Deutschland "die Erhebung der im Gesetz über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 vorgesehenen Strassenbenutzungsgebühr für die in den anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeuge bis zum Erlaß des Urteils zur Hauptsache [aussetzt]".

13 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zu Artikel 76 EWG-Vertrag

14 Die Kommission und mit ihr die belgische, die französische und die niederländische Regierung sind der Auffassung, durch die Einführung einer Strassenbenutzungsgebühr für alle Benutzer, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, und die gleichzeitige Senkung der Kraftfahrzeugsteuer, die wegen der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten geschlossenen bilateralen Abkommen in Wirklichkeit nur von den in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Verkehrsunternehmen zu zahlen sei, werde eine Artikel 76 EWG-Vertrag zuwiderlaufende Diskriminierung zwischen diesen und den Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten hervorgerufen, da die in der Strassenbenutzungsgebühr liegende neue Belastung für letztere nicht durch die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer ausgeglichen werde.

15 Die Kommission führt ausserdem aus, daß die Bundesrepublik Deutschland gegen die Stillhaltebestimmung des Artikels 76 EWG-Vertrag verstossen habe, die es den Mitgliedstaaten "bis zum Erlaß der in Artikel 75 Absatz 1 genannten Vorschriften..., es sei denn, daß der Rat einstimmig etwas anderes billigt", verbiete, eine Maßnahme wie das Gesetz vom 30. April 1990 zu erlassen.

16 Die deutsche Regierung macht geltend, daß Artikel 76 nicht den Erlaß aller nationalen Maßnahmen verbiete, die zu einer Besserstellung der inländischen Verkehrsunternehmen oder zu einer Schlechterstellung der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten führten, sondern nur den Erlaß von "Vorschriften", die sich auf die Lage der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten, wie sie sich aus den bei Inkrafttreten des Vertrages geltenden nationalen Vorschriften ergebe, ungünstiger auswirkten als auf die der inländischen Verkehrsunternehmen.

17 Die Ursache für die Verschlechterung der Lage der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten liege jedoch nicht in dem Gesetz vom 30. April 1990, sondern in den zwischen der Bundesrepublik Deutschland und allen anderen Mitgliedstaaten geschlossenen bilateralen Abkommen. Diese Abkommen seien zum einen keine "Vorschriften" im Sinne des Artikels 76 EWG-Vertrag, und zum anderen seien einige dieser Abkommen nach Inkrafttreten des Vertrages geschlossen worden, so daß sich die Lage der Verkehrsunternehmen aus den betreffenden Mitgliedstaaten gegenüber der vor Inkrafttreten des Vertrages bestehenden nicht verschlechtert, sondern im Gegenteil verbessert habe. Was ausserdem die vor Inkrafttreten des Vertrages geschlossenen Abkommen betreffe, so entspreche das Gesetz vom 30. April 1990 in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen einer blossen Teilkündigung, einer Maßnahme also, die ebenso wie der Abschluß der Abkommen nicht unter das Verbot des Artikels 76 falle.

18 Um über die Begründetheit des Vorwurfs der Kommission zu entscheiden, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Mitgliedstaaten die Ziele des Vertrages auf dem Gebiet des Verkehrs gemäß Artikel 74 EWG-Vertrag "im Rahmen einer gemeinsamen Verkehrspolitik" verfolgen. Zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Politik obliegt dem Rat der Erlaß einer Reihe von Maßnahmen, die in Artikel 75 Absatz 1 vorgesehen sind.

19 Nach Artikel 76 darf ein Mitgliedstaat "bis zum Erlaß der in Artikel 75 Absatz 1 genannten Vorschriften... die verschiedenen, bei Inkrafttreten dieses Vertrages auf diesem Gebiet geltenden Vorschriften in ihren unmittelbaren oder mittelbaren Auswirkungen auf die Verkehrsunternehmer anderer Mitgliedstaaten im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmern nicht ungünstiger gestalten, es sei denn, daß der Rat einstimmig etwas anderes billigt".

20 Mit dieser Vorschrift soll verhindert werden, daß die Einführung der gemeinsamen Verkehrspolitik durch den Rat dadurch erschwert oder behindert wird, daß ohne Billigung des Rates nationale Maßnahmen erlassen werden, die unmittelbar oder mittelbar bewirken würden, daß die Lage, in der sich in einem Mitgliedstaat die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten befinden, im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmen in einem für erstere ungünstigen Sinne verändert wird.

21 Dagegen hindert Artikel 76 einen Mitgliedstaat nicht am Erlaß von Maßnahmen, die sich für die inländischen Verkehrsunternehmen und die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten gleich ungünstig auswirken.

22 Im vorliegenden Fall ist jedoch zum einen unstreitig, daß der Rat zur Zeit des Erlasses des Gesetzes vom 30. April 1990 keine Regelung über Gebühren für die Strassenbenutzung durch schwere Lastfahrzeuge nach Artikel 75 Absatz 1 erlassen hatte.

23 Zum anderen ist festzustellen, daß das Gesetz vom 30. April 1990, indem es die neue Belastung, die in der von allen Verkehrsunternehmen zu zahlenden Strassenbenutzungsgebühr liegt, in erheblichem Umfang durch eine nur den inländischen Verkehrsunternehmen zugute kommende Senkung der Kraftfahrzeugsteuer ausgleicht, bewirkt, daß die Lage der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten im Vergleich zu der der inländischen Verkehrsunternehmen in einem für erstere ungünstigen Sinne verändert wird.

24 Zu den Argumenten, die die deutsche Regierung aus den von der Bundesrepublik Deutschland mit den anderen Mitgliedstaaten geschlossenen bilateralen Abkommen ableitet, ist zunächst festzustellen, daß die unmittelbare Ursache für die Verschlechterung der Lage der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten im Vergleich zur Lage der inländischen Verkehrsunternehmen nicht in diesen Abkommen, sondern in dem Gesetz vom 30. April 1990 liegt, ohne das sich die bestehende Lage nicht geändert hätte.

25 Des weiteren schließt der Wortlaut von Artikel 76 nicht aus, daß zu den "verschiedenen, bei Inkrafttreten dieses Vertrages auf diesem Gebiet geltenden Vorschriften" auch von einem Mitgliedstaat geschlossene bilaterale Abkommen gehören. Solche Abkommen sind im Gegenteil, da sich die zu diesem Zeitpunkt bestehende Lage auch nach ihnen bestimmt, bei der Prüfung, ob sich diese Lage geändert hat, zu berücksichtigen.

26 Schließlich würde das Ziel des Artikels 76, das darin besteht, dem Rat die Einführung der gemeinsamen Verkehrspolitik zu erleichtern, gefährdet, wenn Artikel 76 es einem Mitgliedstaat erlauben würde, den Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten den Vorteil etwaiger Maßnahmen zu entziehen, durch die die Lage dieser Unternehmen im Vergleich zur Lage der inländischen Verkehrsunternehmen günstiger gestaltet werden soll. Daher ist zwischen den bilateralen Abkommen nicht danach zu unterscheiden, ob sie vor oder nach Inkrafttreten des Vertrages geschlossen wurden.

27 Ausserdem bestimmt die Entscheidung 65/271/EWG des Rates vom 13. Mai 1965 über die Harmonisierung bestimmter Vorschriften, die den Wettbewerb im Eisenbahn-, Strassen- und Binnenschiffsverkehr beeinflussen (ABl. 1965, Nr. 88, S. 1500), die insbesondere auf der Grundlage des Artikels 75 EWG-Vertrag ergangen ist und mit der nach ihrer ersten Begründungserwägung "die Beseitigung der Unterschiede..., die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen im Verkehr wesentlich zu verfälschen", angestrebt wird, in ihrem Artikel 1 Buchstabe a ausdrücklich: "Es werden... mit Wirkung vom 1. Januar 1967 die Doppelbesteuerungen von Kraftfahrzeugen beseitigt, die sich aus deren Verwendung für Beförderungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ergeben, in dem sie zugelassen sind".

28 Die deutsche Regierung macht ferner geltend, das Gesetz vom 30. April 1990 sei dadurch gerechtfertigt, daß es nicht nur die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen den deutschen Verkehrsunternehmen und denen der anderen Mitgliedstaaten zum Ziel habe, sondern auch, und zwar gleichrangig, den Umweltschutz, indem es die Verlagerung des Strassenverkehrs auf die umweltverträglicheren Verkehrsträger Schiene und Binnenschiffahrt begünstigen wolle.

29 Insoweit ist zunächst festzustellen, daß der Umweltschutz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ein wesentliches Ziel der Gemeinschaft ist, dessen Bedeutung im übrigen durch die Einheitliche Europäische Akte bestätigt worden ist (vgl. Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 302/86, Kommission/Dänemark, Slg. 1988, 4607).

30 Wie sich aus Randnummer 21 des vorliegenden Urteils ergibt, verbietet Artikel 76 nicht nationale Maßnahmen, die ein solches Ziel durch Erhöhung des Beitrags der schweren Lastfahrzeuge zu den Wegekosten anstreben, sondern nur Maßnahmen, die wie das Gesetz vom 30. April 1990 bewirken, daß die Lage, in der sich die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten befinden, im Vergleich zu den inländischen Verkehrsunternehmen in einem für erstere ungünstigen Sinne verändert wird.

31 Ferner sollen mit dem Gesetz vom 30. April 1990 seiner Begründung zufolge zugleich der Beitrag der deutschen Lastkraftwagen zu den Kosten der Verkehrswege auf dem gegenwärtigen Niveau beibehalten und der für unzureichend gehaltene Beitrag der gebietsfremden Lastkraftwagen zu diesen Kosten erhöht werden. Unter diesen Umständen ist nicht erwiesen, daß das Gesetz vom 30. April 1990 geeignet ist, eine Verlagerung des Strassenverkehrs auf die Verkehrsträger Schiene und Binnenschiffahrt und nicht vielmehr eine Erhöhung der Marktanteile der deutschen Verkehrsunternehmen zu Lasten der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten herbeizuführen.

32 Schließlich hat die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, daß das Gesetz vom 30. April 1990 im Hinblick auf die Vertragsvorschriften über den Verkehr insofern gerechtfertigt sei, als seine Geltungsdauer in der Erwartung eines Tätigwerdens des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Durchführung einer gemeinsamen Politik auf diesem Gebiet beschränkt sei.

33 Dieses Argument ist zurückzuweisen. Der Umstand, daß eine gemeinsame Verkehrspolitik noch nicht verwirklicht worden ist, berechtigt die Mitgliedstaaten nämlich nicht zum Erlaß nationaler Rechtsvorschriften, und sei es auch solcher mit beschränkter Geltungsdauer, die mit den Anforderungen des Artikels 76 EWG-Vertrag unvereinbar sind. Eine einseitige Änderung der bestehenden Lage zu Lasten der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten ist im Gegenteil als Behinderung der Durchführung der im Vertrag vorgesehenen gemeinsamen Verkehrspolitik anzusehen, bei der die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme zu berücksichtigen und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten sind (vgl. Urteil vom 7. November 1991 in der Rechtssache C-17/90, Pinaud Wieger, Slg. 1991, I-5253, Randnr. 11).

34 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, daß die Rüge der Verletzung von Artikel 76 EWG-Vertrag begründet ist.

Zu Artikel 95 EWG-Vertrag

35 Zur Rüge der Verletzung von Artikel 95 EWG-Vertrag genügt es, festzustellen, daß die diskriminierenden Wirkungen, die das Gesetz vom 30. April 1990 möglicherweise auf eingeführte Waren hat, jedenfalls nur die unmittelbare Folge des Umstands wären, daß das Gesetz die Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten unter Verletzung von Artikel 76 EWG-Vertrag schwerer trifft als die inländischen Verkehrsunternehmen. Es braucht folglich nicht geprüft zu werden, ob das Gesetz auch Artikel 95 EWG-Vertrag zuwiderläuft.

Zu Artikel 5 EWG-Vertrag

36 Zur Rüge der Verletzung von Artikel 5 EWG-Vertrag ist zunächst festzustellen, daß Artikel 76 EWG-Vertrag im Bereich des Verkehrs die Konkretisierung der allgemeinen, den Mitgliedstaaten durch Artikel 5 EWG-Vertrag auferlegten Verpflichtung darstellt, alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele des Vertrages gefährden könnten, da Artikel 76 verhindern soll, daß die Einführung der allgemeinen Verkehrspolitik durch den Rat, eines der in Artikel 3 EWG-Vertrag aufgezählten Ziele, durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten erschwert wird.

37 Die verschiedenen Maßnahmen der Gemeinschaft, die die Bundesrepublik Deutschland nach dem Vorbringen der Kommission durch den Erlaß des Gesetzes vom 30. April 1990 behindert haben soll, fallen sämtlich in den Bereich des Verkehrs.

38 Da feststeht, daß die Bundesrepublik Deutschland durch den Erlaß des Gesetzes vom 30. April 1990 gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 76 EWG-Vertrag verstossen hat, braucht folglich ein eigenständiger Verstoß dieses Mitgliedstaats gegen Artikel 5 EWG-Vertrag nicht mehr festgestellt zu werden.

39 Nach alledem hat die Bundesrepublik Deutschland durch den Erlaß des Gesetzes über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 76 EWG-Vertrag verstossen.

Kostenentscheidung:

Kosten

40 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung aufzuerlegen. Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg und das Königreich der Niederlande tragen als Streithelfer nach Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Bundesrepublik Deutschland hat durch den Erlaß des Gesetzes über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstrassen mit schweren Lastfahrzeugen vom 30. April 1990 gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 76 EWG-Vertrag verstossen.

2) Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung.

3) Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg und das Königreich der Niederlande, Streithelfer, tragen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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