Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 01.07.1993
Aktenzeichen: C-20/92
Rechtsgebiete: EWGV, ZPO


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 59
EWGV Art. 7
EWGV Art. 60
ZPO § 110 Abs. 1 S. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Grundsatz der Gleichbehandlung des Artikels 59 des Vertrages greift immer dann ein, wenn eine in Ausübung ihres Berufes handelnde Person in der Regel gegen Entgelt Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen anbietet, in dem sie niedergelassen ist, und zwar unabhängig vom Niederlassungsort der Empfänger dieser Dienstleistungen.

Es stellt eine durch die Artikel 59 und 60 des Vertrages verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, wenn ein Mitgliedstaat von einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der als Testamentsvollstrecker vor einem inländischen Gericht klagt, nur wegen seiner Eigenschaft als Ausländer die Zahlung einer Prozeßkostensicherheit verlangt.

2. Der im Gemeinschaftsrecht verankerte Anspruch auf Gleichbehandlung kann nicht davon abhängen, daß zwischen den Mitgliedstaaten internationale Abkommen, die auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit beruhen, bestehen.

3. Die Geltung des Gemeinschaftsrechts kann nicht davon abhängen, auf welchem Gebiet des innerstaatlichen Rechts es seine Wirkungen zeitigt. Der Umstand, daß ein Ausgangsrechtsstreit dem Erbrecht zuzuordnen ist, kann die Anwendung des im Gemeinschaftsrecht verankerten Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr gegenüber einer in Ausübung ihres Berufes handelnden Person, die mit der Angelegenheit betraut ist, nicht ausschließen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 1. JULI 1993. - ANTHONY HUBBARD (TESTAMENTVOLLSTRECKER) GEGEN PETER HAMBURGER. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: LANDGERICHT HAMBURG - DEUTSCHLAND. - GLEICHBEHANDLUNG - FREIER DIENSTLEISTUNGSVERKEHR - TESTAMENTSVOLLSTRECKER. - RECHTSSACHE C-20/92.

Entscheidungsgründe:

1 Das Landgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 11. Dezember 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Januar 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag Fragen zu den Artikeln 7 Absatz 1 und 59 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer Klage des Anthony Hubbard gegen Peter Hamburger im Zusammenhang mit der Auskehr des Vermögens eines Nachlasses.

3 Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein englischer Solicitor, hat in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker im Sinne seines nationalen Rechts beim Landgericht Hamburg auf Auskehr von Vermögensgegenständen geklagt, die Teil eines in der Bundesrepublik Deutschland gelegenen Nachlasses sind. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hat daraufhin die Leistung einer Prozeßkostensicherheit gemäß § 110 Absatz 1 Satz 1 ZPO verlangt.

4 Nach dieser Bestimmung haben Angehörige fremder Staaten, die als Kläger vor einem deutschen Gericht auftreten, dem Beklagten auf sein Verlangen wegen der Prozeßkosten Sicherheit zu leisten. § 110 Absatz 2 Satz 1 bestimmt jedoch, daß diese Verpflichtung nicht gilt, wenn der Kläger Angehöriger eines Staates ist, der von einem deutschen Staatsangehörigen keine solche Sicherheitsleistung verlangt.

5 Artikel 14 des deutsch-britischen Abkommens über den Rechtsverkehr vom 20. März 1928, das mit Wirkung vom 1. Januar 1953 (BGBl. 1953 II S. 116) wieder in Kraft gesetzt wurde, sieht vor, daß die Angehörigen eines Vertragsstaats von der Zahlung der Prozeßkostensicherheit im anderen Vertragsstaat nur dann befreit sind, wenn sie dort ihren Wohnsitz haben. Im übrigen befreit das Pariser Europäische Niederlassungsabkommen vom 13. Dezember 1955 (BGBl. 1959 II S. 998) alle Angehörigen der Vertragsstaaten von diesem Erfordernis unter der blossen Voraussetzung, daß sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem der Vertragsstaaten haben. Diese Bestimmung gilt jedoch nicht für die Angehörigen von Staaten, die im Rahmen von Artikel 27 des Abkommens einen Vorbehalt gemacht haben, was beim Vereinigten Königreich der Fall ist.

6 Wegen dieses Vorbehalts kommt dem Kläger die Befreiung nach dem Pariser Abkommen nicht zugute. Da er in Deutschland keinen Wohnsitz hat, kann er sich auch nicht auf das bilaterale deutsch-britische Abkommen berufen.

7 Da das Landgericht Hamburg der Auffassung ist, daß der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhängt, hat es dem Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfragen vorgelegt:

1) Wird ein britischer Solicitor, der als Testamentsvollstrecker nach englischem Recht (executor) in Deutschland tätig wird und durch Klageerhebung im eigenen Namen vor einem deutschen Gericht die Auskehr von Nachlaßvermögen begehrt, in seinen aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Rechten ° insbesondere in seinem Recht auf Dienstleistungsfreiheit ° verletzt, wenn das deutsche Gericht in Anwendung von § 110 Absatz 1 Satz 1 der deutschen Zivilprozessordnung auf Verlangen der Beklagtenseite die Leistung einer Prozeßkostensicherheit anordnet mit der Rechtsfolge, daß der Beklagte sich vor Leistung der Sicherheit nicht zur Sache einzulassen braucht?

2) Ergeben sich für die Anwendung des EWG-Vertrags Besonderheiten daraus, daß im Verhältnis deutscher Gerichte zu britischen Klägern ohne Wohnsitz und Grundvermögen in der Bundesrepublik Deutschland die Frage der Sicherheitsleistung einerseits in Artikel 14 des deutsch-britischen Abkommens über den Rechtsverkehr vom 20. März 1928 (RGBL. II S. 623; wieder in Kraft gesetzt mit Wirkung vom 1. Januar 1953 [BGBl. II S. 116]) und andererseits in Artikel 9 des Pariser Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (BGBl. 1959 II S. 998) eine Regelung erfahren hat?

3) Führt der in Frage 1 genannte Sachverhalt zu einem Verstoß gegen Artikel 7 Absatz 1 EWG-Vertrag?

4) Führt der Umstand, daß die vom Kläger geltend gemachte Forderung materiell-rechtlich nach Klägervortrag möglicherweise auch dem Erbrecht zuzuordnen sein könnte, zu einer hier maßgeblichen Beschränkung des Anwendungsbereichs des EWG-Vertrags oder anderer gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen?

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Bericht des Berichterstatters verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten und zur dritten Frage

9 Mit der ersten und der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 7 Absatz 1, 59 und 60 EWG-Vertrag es einem Mitgliedstaat verbieten, von einer in Ausübung ihres Berufs handelnden Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, die vor einem inländischen Gericht klagt, die Zahlung einer Prozeßkostensicherheit zu verlangen, nur weil sie Angehörige eines anderen Mitgliedstaats ist.

10 Vorab ist daran zu erinnern, daß das Diskriminierungsverbot nach Artikel 7 EWG-Vertrag seine Wirkungen im Anwendungsbereich des EWG-Vertrags "unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages" entfaltet. Mit dieser Wendung verweist Artikel 7 insbesondere auf andere Bestimmungen des Vertrages, die das allgemeine Verbot des Artikels 7 für besondere Anwendungsfälle konkretisieren. So verhält es sich u. a. mit den Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr (vgl. Urteil vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache C-186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 14).

11 Für die Beantwortung der gestellten Vorabentscheidungsfragen ist also zunächst festzustellen, ob Tätigkeiten der im Ausgangsverfahren vorliegenden Art, bei denen der Erbringer und der Empfänger im selben Mitgliedstaat niedergelassen sind, die Dienstleistung selbst jedoch in einem anderen Mitgliedstaat erbracht wird, in den Anwendungsbereich der Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag fallen.

12 Insoweit ist auf die sogenannten Fremdenführer-Urteile vom 26. Februar 1991 in den Rechtssachen C-154/89 (Kommission/Frankreich, Slg. 1991, I-659, Randnr. 10), C-180/89 (Kommission/Italien, Slg. 1991, I-709, Randnr. 9) und C-198/89 (Kommission/Griechenland, Slg. 1991, I-727, Randnr. 10) hinzuweisen, in denen der Gerichtshof entschieden hat, daß Artikel 59 immer dann eingreift, wenn ein Leistungserbringer Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen anbietet, in dem er niedergelassen ist, und zwar unabhängig vom Niederlassungsort der Empfänger dieser Dienstleistungen.

13 Wird eine solche Dienstleistung von einer in Ausübung ihres Berufs handelnden Person und somit, wie in Artikel 60 vorausgesetzt, in der Regel gegen Entgelt erbracht, kommt der Grundsatz der Gleichbehandlung des Artikels 59 zur Anwendung.

14 Sodann ist festzustellen, daß es eine durch die Artikel 59 und 60 verbotene unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt, wenn ein Mitgliedstaat von einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der als Testamentsvollstrecker eine Klage vor einem inländischen Gericht erhebt, die Zahlung einer Prozeßkostensicherheit verlangt, während eine solche Voraussetzung für seine Staatsangehörigen nicht gilt.

15 Daher ist auf die erste und dritte Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß sie es einem Mitgliedstaat verbieten, von einer in Ausübung ihres Berufs handelnden Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, die vor einem inländischen Gericht klagt, die Zahlung einer Prozeßkostensicherheit zu verlangen, nur weil sie Angehörige eines anderen Mitgliedstaats ist.

Zur zweiten Frage

16 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Bestehen internationaler Abkommen, die auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit beruhen und in bestimmten Fällen die Befreiung von der Zahlung der streitigen Sicherheitsleistung vorsehen, die Anwendung des EWG-Vertrags beeinflussen kann.

17 Auf diese Frage genügt die Antwort, daß der im Gemeinschaftsrecht verankerte Anspruch auf Gleichbehandlung nach ständiger Rechtsprechung nicht davon abhängen kann, daß zwischen den Mitgliedstaaten ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht (vgl. Urteile vom 22 Juni 1972 in der Rechtssache 1/72, Frilli, Slg. 1972, 457, und vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195).

Zur vierten Frage

18 Mit seiner letzten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Umstand, daß der Ausgangsrechtsstreit dem Erbrecht zuzuordnen ist, die Anwendung des EWG-Vertrags ausschließen kann.

19 Hierzu ist daran zu erinnern, daß die Geltung des Gemeinschaftsrechts, wie der Gerichtshof im Urteil vom 21. März 1972 in der Rechtssache 82/71 (Sail, Slg. 1972, 119, Randnr. 5) festgestellt hat, nicht davon abhängen kann, auf welchem Gebiet des innerstaatlichen Rechts es seine Wirkungen zeitigt. Im vorliegenden Fall ist von diesen Wirkungen nicht das Recht, dem der Ausgangsrechtsstreit zuzuordnen ist, sondern das innerstaatliche Prozeßrecht betroffen.

20 Daher ist auf diese Frage zu antworten, daß der Umstand, daß der Ausgangsrechtsstreit dem Erbrecht zuzuordnen ist, die Anwendung des im Gemeinschaftsrecht verankerten Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr gegenüber einer in Ausübung ihres Berufs handelnden Person, die mit der Angelegenheit betraut ist, nicht ausschließen kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Landgericht Hamburg mit Beschluß vom 11. Dezember 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, daß sie es einem Mitgliedstaat verbieten, von einer in Ausübung ihres Berufs handelnden Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, die vor einem inländischen Gericht klagt, die Zahlung einer Prozeßkostensicherheit zu verlangen, nur weil sie Angehörige eines anderen Mitgliedstaats ist.

2) Der im Gemeinschaftsrecht verankerte Anspruch auf Gleichbehandlung kann nicht davon abhängen, daß zwischen den Mitgliedstaaten ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht.

3) Der Umstand, daß der Ausgangsrechtsstreit dem Erbrecht zuzuordnen ist, kann die Anwendung des im Gemeinschaftsrecht verankerten Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr gegenüber einer in Ausübung ihres Berufs handelnden Person, die mit der Angelegenheit betraut ist, nicht ausschließen.

Ende der Entscheidung

Zurück