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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.11.1993
Aktenzeichen: C-20/93
Rechtsgebiete: Richtlinie 74/561/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 74/561/EWG Art. 3 Abs. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 74/561 über den Zugang zum Beruf des Güterkraftverkehrsunternehmers im innerstaatlichen und grenzueberschreitenden Verkehr in der bis zum 31. Dezember 1989 geltenden Fassung ist dahin auszulegen, daß er nicht bestimmt, welche Forderungen durch eine Bürgschaft gesichert sein müssen, wenn ein Mitgliedstaat die Einführung eines solchen Systems beschließt, um die finanzielle Leistungsfähigkeit der Güterkraftverkehrsunternehmer zu gewährleisten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 16. NOVEMBER 1993. - DEUTSCHER KRAFTVERKEHR ERNST GRIMMKE GBMH & CO. KG UND MOBIL OIL BV GEGEN SA GENERALE DE BANQUE UND SA AG DE 1824, VORMALS AG DE 1830. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DE COMMERCE DE BRUXELLES - BELGIEN. - GUETERKRAFTVERKEHR - BERUFLICHE BEFAEHIGUNG - FINANZIELLE LEISTUNGSFAEHIGKEIT. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-20/93 UND C-21/93.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de commerce Brüssel hat mit Urteilen vom 11. Januar 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Januar 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 3 Absatz 3 der Richtlinie 74/561/EWG des Rates vom 12. November 1974 über den Zugang zum Beruf des Güterkraftverkehrsunternehmers im innerstaatlichen und grenzueberschreitenden Verkehr (ABl. L 308, S. 18) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen (Rechtssache 20/93) der Gesellschaft Deutscher Kraftverkehr Ernst Grimmke (im folgenden: DKV) und der Gesellschaft Générale de Banque (im folgenden: SGB) sowie (Rechtssache 21/93) zwischen der DKV und der Mobil Oil (im folgenden: Mobil) einerseits und der SGB sowie der AG de 1824, vormals AG de 1830 (im folgenden: AG de 1824) andererseits; zum letztgenannten Rechtsstreit wurde der belgische Staat beigeladen.

3 Die DKV lieferte dem belgischen Güterkraftverkehrsunternehmer Zelltrans Treibstoff (Rechtssache 20/93). Sie und Mobil lieferten ebenfalls Treibstoff an die Beförderungsgesellschaft Lechien et Fils (im folgenden: Lechien) (Rechtssache 21/93).

4 Die SGB übernahm für die beiden Beförderungsunternehmen Zelltrans und Lechien eine Mitbürgschaft; die AG de 1824 übernahm eine Bürgschaft für die an zweiter Stelle genannte Gesellschaft.

5 Nachdem diese beiden Gesellschaften durch die Tribunaux de commerce Brüssel und Charleroi für im Konkurs befindlich erklärt worden waren, teilten die DKV und Mobil der SGB und der AG de 1824 mit, sie hätten aus unbezahlten Rechnungen für Treibstofflieferungen noch Ansprüche gegenüber den Gesellschaften Zelltrans und Lechien (DKV) bzw. allein gegen Lechien (Mobil), und sie forderten zur Freigabe der Bürgschaften auf. Da dies nicht geschah, erhoben die DKV und Mobil beim Tribunal de commerce Brüssel Klagen gegen die SGB und AG de 1824.

6 Die Bürgschaften wurden gemäß der zur Umsetzung der Richtlinie 74/561 ergangenen Königlichen Verordnung vom 5. September 1978 (Moniteur belge vom 19. Oktober 1978, S. 12464) in der Fassung der Königlichen Verordnung vom 14. Juli 1982 (Moniteur belge vom 18. Februar 1983, S. 2334) sowie der Königlichen Verordnung vom 11. September 1987 (Moniteur belge vom 22. Oktober 1987, S. 15301) gestellt.

7 Artikel 37 dieser Königlichen Verordnung hat folgenden Wortlaut:

"Der Antragsteller oder der Inhaber einer Beförderungsbescheinigung oder einer allgemeinen Genehmigung für den innerstaatlichen Verkehr muß seine finanzielle Leistungsfähigkeit durch die Stellung einer Bürgschaft in Höhe von 250 000 Franken für jede Beförderungsbescheinigung oder für jede allgemeine Genehmigung für den innerstaatlichen Verkehr belegen."

8 In Artikel 38 § 1 dieser Verordnung heisst es ferner:

"§ 1. Die Bürgschaft dient der Sicherung von Forderungen, die sich aus der Ausübung der durch eine Beförderungsbescheinigung, eine allgemeine Genehmigung für den innerstaatlichen Verkehr oder eine allgemeine Genehmigung für den grenzueberschreitenden Verkehr gedeckten Tätigkeiten ergeben.

Nur die Gläubiger der in Absatz 1 genannten Forderungen können die Bürgschaft in Anspruch nehmen..."

9 Da die Klägerinnen der Ausgangsverfahren unter Hinweis auf Artikel 3 der Richtlinie 74/561 die Ansicht vertraten, die nach der erwähnten Königlichen Verordnung notwendige Bürgschaft decke nicht nur Ansprüche aus einem Beförderungsvertrag, sondern alle Ansprüche, die sich aus der Ausübung der Berufstätigkeit eines Güterkraftverkehrsunternehmers ergäben, also auch Ansprüche aus Treibstofflieferungen, beschloß das Tribunal de commerce Brüssel, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof eine Vorabentscheidung über folgende Frage erlassen hat:

Wenn die Mitgliedstaaten in Anwendung des Artikels 3 Absatz 3 der Richtlinie 74/561/EWG des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 12. November 1974 über den Zugang zum Beruf des Güterkraftverkehrsunternehmers im innerstaatlichen und grenzueberschreitenden Verkehr zur Erfuellung der Voraussetzung der finanziellen Leistungsfähigkeit die Übernahme einer Garantie für den Güterkraftverkehrsunternehmer (in Belgien in Form einer selbstschuldnerischen Bürgschaft) vorschreiben, gelangen dann nur die Gläubiger in den Genuß der übernommenen Garantie, die mit dem Verkehrsunternehmer, für den die Bürgschaft übernommen wurde, einen Beförderungsvertrag abgeschlossen haben, oder erstreckt sich die verlangte Garantie auf alle Forderungen, die sich aus der Ausübung der beruflichen Tätigkeiten des betreffenden Güterkraftverkehrsunternehmers ergeben?

10 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der einschlägigen Rechtsvorschriften, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

11 Die Richtlinie 74/561 ist ein erster Schritt zur Vereinheitlichung der für den Zugang zum Beruf des Güterkraftverkehrsunternehmers geltenden Vorschriften. Nach Artikel 3 gelten für diesen Zugang verschiedene Voraussetzungen, die sich insbesondere auf die Zuverlässigkeit, die finanzielle Leistungsfähigkeit und die fachliche Eignung des Beförderungsunternehmers beziehen. Absatz 3 dieses Artikels sah ausserdem ausdrücklich eine weitere Koordinierung der Vorschriften über die finanzielle Leistungsfähigkeit der Beförderungsunternehmer vor.

12 Diese Koordinierung erfolgte durch die Richtlinie 89/438/EWG des Rates vom 21. Juni 1989, mit der die Richtlinie 74/561, die Richtlinie 74/562/EWG über den Zugang zum Beruf des Personenkraftverkehrsunternehmers im innerstaatlichen und grenzueberschreitenden Verkehr und die Richtlinie 77/796/EWG über die gegenseitig Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise für die Beförderung von Gütern und die Beförderung von Personen im Strassenverkehr und über Maßnahmen zur Beförderung der tatsächlichen Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Verkehrsunternehmer geändert wurden (ABl. L 212, S. 101). Durch Artikel 1 Nummer 5 dieser Richtlinie wurde Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 74/561 geändert; letzterer enthält nunmehr genauere Vorschriften zur finanziellen Leistungsfähigkeit der Unternehmen.

13 Diese Vorschriften gelten aber zeitlich nicht für die Ausgangsverfahren. Gemäß Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 89/438 gelten nämlich ihre Vorschriften erst vom 1. Januar 1990 an. Den Vorlageurteilen ist aber zu entnehmen, daß die SGB und die AG de 1824 vor diesem Zeitpunkt Mitbürgschaften für die fraglichen Beförderungsunternehmen übernommen haben.

14 Demnach ist allein die Richtlinie 74/561 in der vor dem 1. Januar 1990 geltenden Fassung von Bedeutung. Artikel 3 Absatz 3 dieser Richtlinie hatte damals folgenden Wortlaut:

"Die finanzielle Leistungsfähigkeit ist gegeben, wenn die zur Aufnahme und ordnungsgemässen Führung des Betriebes erforderlichen finanziellen Mittel verfügbar sind. Bis eine Koordinierung erfolgt ist, bestimmt jeder Mitgliedstaat, welche Vorschriften und welche Modalitäten des Nachweises hierfür festgelegt werden können."

15 Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift hat jeder Mitgliedstaat in bezug auf die Modalitäten des Nachweises für die finanzielle Leistungsfähigkeit der Beförderungsunternehmer einen weiten Beurteilungsspielraum. Sie schreibt insbesondere nicht vor, daß im Hinblick auf das Risiko der Zahlungsunfähigkeit des Beförderungsunternehmens eine Bürgschaftsregelung einzuführen sei. Sie kann daher nicht so verstanden werden, daß sie, wenn sich ein Mitgliedstaat zur Einführung einer solchen Regelung entschließt, festlegt, für welche Kategorien von Forderungen die Bürgschaft zu gelten hat.

16 Zur Begründung des Standpunkts, die Garantie müsse für alle Forderungen gelten, die dem Beförderungsunternehmer gegenüber aus der Ausübung seiner Berufstätigkeit entstehen, berufen sich die DKV und Mobil in erster Linie auf die dritte Begründungserwägung der Richtlinie 74/561. Dieser zufolge seien die gemeinsamen Regeln, die sich insbesondere auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Beförderungsunternehmen bezögen, im Interesse "der gesamten Wirtschaft" festgelegt worden und nicht nur im Interesse der Verkehrsnutzer und der Verkehrsunternehmen.

17 Ferner sind diese Gesellschaften der Meinung, die Beförderungsunternehmer könnten die Aufnahme und die ordnungsgemässe Führung ihres Betriebes ° wie in Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 74/561 vorgeschrieben ° nur gewährleisten, wenn sie die Begleichung aller ihrer Verbindlichkeiten, auch der sich aus der Lieferung von Treibstoff ergebenden, garantieren könnten.

18 Hierzu genügt die Feststellung, daß die von den Klägerinnen der Ausgangsverfahren angeführten allgemeinen Erwägungen nicht zu einer Einschränkung des Beurteilungsspielraums führen können, der den Mitgliedstaaten für die Verwirklichung der mit der Richtlinie 74/561 verfolgten Ziele ausdrücklich in Artikel 3 Absatz 3 eingeräumt worden ist.

19 Auf die gestellte Frage ist also zu antworten, daß Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 74/561 in der bis zum 31. Dezember 1989 geltenden Fassung so auszulegen ist, daß er nicht bestimmt, welche Forderungen durch eine Bürgschaft gesichert sein müssen, wenn ein Mitgliedstaat die Einführung eines solchen Systems beschließt, um die finanzielle Leistungsfähigkeit der Güterkraftverkehrsunternehmer zu gewährleisten.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Die Auslagen der belgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunal de commerce in Brüssel mit Urteilen vom 11. Januar 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 74/561/EWG des Rates vom 12. November 1974 über den Zugang zum Beruf des Güterkraftverkehrsunternehmers im innerstaatlichen und grenzueberschreitenden Verkehr in der bis zum 31. Dezember 1989 geltenden Fassung ist dahin auszulegen, daß er nicht bestimmt, welche Forderungen durch eine Bürgschaft gesichert sein müssen, wenn ein Mitgliedstaat die Einführung eines solchen Systems beschließt, um die finanzielle Leistungsfähigkeit der Güterkraftverkehrsunternehmer zu gewährleisten.

Ende der Entscheidung

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