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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.03.1990
Aktenzeichen: C-201/89
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 178
EWG-Vertrag Art. 183
Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften Art. 1
Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments Art. 26
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Weder nach Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften noch nach einer anderen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ist der Gerichtshof allein deshalb zur Entscheidung über eine Klage wegen ausservertraglicher Haftung zuständig, weil das schadensstiftende Ereignis in den Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments stattfand.

2. Die Verteilung einer angeblich verleumderischen Broschüre durch eine Fraktion im Sinne des Artikels 26 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments hat nicht die ausservertragliche Haftung der Gemeinschaft zur Folge. Diese Geschäftsordnung ermächtigt die Fraktionen nämlich nicht dazu, im Namen des Parlaments gegenüber anderen Organen oder Dritten tätig zu werden. Auch sonst enthält das Gemeinschaftsrecht keine Bestimmung, wonach Handlungen einer Fraktion dem Europäischen Parlament als Gemeinschaftsorgan zugerechnet werden könnten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 22. MAERZ 1990. - JEAN-MARIE LE PEN UND FRONT NATIONAL GEGEN DETLEF PUHL UND ANDERE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR D'APPEL DE COLMAR - FRANKREICH. - PROTOKOLL UEBER DIE VORRECHTE UND BEFREIUNGEN - IMMUNITAET DER EUROPAEISCHEN ABGEORDNETEN - ZUSTAENDIGKEIT DES GERICHTSHOFES. - RECHTSSACHE C-201/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour d' appel Colmar hat mit Urteil vom 2. Juni 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts über die jeweiligen Zuständigkeiten des Gerichtshofes und der nationalen Gerichte vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Jean-Marie Le Pen und der französischen Partei "Front national" ( Kläger ) gegen Personen, Firmen und Parteien, die ihres Erachtens für die Abfassung, Übersetzung, Herausgabe, den Druck und die Verteilung einer Broschüre über das Wiederaufleben des Rassismus und des Faschismus in Europa verantwortlich sind. Diese Broschüre wurde auf Veranlassung der sozialistischen Fraktion des Europäischen Parlaments erstellt, nachdem das Parlament eine Erklärung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit angenommen hatte; sie wurde in mehreren Sprachfassungen in den Räumlichkeiten dieses Organs in Straßburg verteilt.

3 Die Kläger fühlen sich durch diese Broschüre verleumdet. Sie haben deshalb vor dem Tribunal de grande instance Straßburg Detlef Puhl und Andrew Bell als Verfasser der Broschüre, Rudi Arndt als Präsidenten der sozialistischen Fraktion des Europäischen Parlaments, die Thomas Druck GmbH mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland und die Firma Printéclair mit Sitz in Belgien als Drucker der Broschüre sowie die Parteien, die die sozialistische Fraktion bilden, auf Schadensersatz verklagt.

4 Das angegangene Gericht hat sich für die Klage gegen den Beklagten Arndt mit der Begründung für unzuständig erklärt, dieser habe in Ausübung seiner Funktionen als Mitglied des Europäischen Parlaments gehandelt; deshalb stehe ihm gemäß Artikel 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften ( Protokoll ) die Unverletzlichkeit zu. Die Klagen gegen die übrigen Beklagten hat das Gericht mit der Begründung abgewiesen, sie hafteten nach französischem Recht neben dem verantwortlichen Herausgeber nur subsidiär; dieser sei aber im vorliegenden Fall wohlbekannt, nämlich die sozialistische Fraktion des Europäischen Parlaments. Diese habe freilich nach französischem Recht keine Rechtspersönlichkeit.

5 Die Cour d' appel Colmar als Berufungsgericht ist insbesondere der Auffassung der Beklagten nachgegangen, nur der Gerichtshof sei für die Entscheidung über die Klage zuständig, da es sich dabei um eine Klage wegen ausservertraglicher Haftung nach Artikel 215 Absatz 2 EWG-Vertrag handele. Die Beklagten haben hierzu zweierlei vorgebracht. Zum einen sei die gerügte Verleumdung nicht auf französischem Hoheitsgebiet erfolgt, da die Broschüre nur in den Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments verteilt worden sei. Zum anderen sei der Gerichtshof für die Entscheidung von Schadensersatzklagen gegen die Gemeinschaftsorgane und ihre Beauftragten ausschließlich zuständig.

6 Angesichts dieses Vorbringens hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Vorlagefrage gestellt :

"Ist der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften für die Entscheidung über den vorstehend dargestellten Sachverhalt deshalb zuständig, weil er sich in den Räumen des Europäischen Parlaments zu Straßburg abspielte?"

Aus dem Vorlageurteil ergibt sich, daß unter dem "vorstehend geschilderten Sachverhalt" die Verbreitung einer angeblich verleumderischen Veröffentlichung zu verstehen ist.

7 Weitere Einzelheiten des Sachverhalts und des Verfahrens sowie eine Zusammenfassung der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen und der Antworten des Europäischen Parlaments auf vom Gerichtshof gestellte Fragen finden sich im Sitzungsbericht, auf den verwiesen wird. Der Inhalt der Akten ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Aus den Akten ergibt sich, worauf die Parteien und die Kommission zu Recht hinweisen, daß sich dem vorlegenden Gericht in Wahrheit zwei Fragen gestellt haben. Zum einen möchte es wissen, ob der Gerichtshof nach den Artikeln 178 und 183 EWG-Vertrag für die Entscheidung über eine Klage wegen ausservertraglicher Haftung ausschließlich zuständig ist, die sich aus der Verteilung einer verleumderischen Veröffentlichung in den Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments ergibt. Zum anderen fragt es sich, ob die Verteilung einer Veröffentlichung durch eine Fraktion des Europäischen Parlaments dessen ausservertragliche Haftung zur Folge hat.

9 Zur ersten Frage verweisen die Beklagten auf Artikel 1 des Protokolls, der die Unverletzlichkeit der Räumlichkeiten und Gebäude der Gemeinschaften regelt; sie tragen vor, die nationalen Gerichte seien nicht für die Entscheidung über einen Sachverhalt zuständig, der sich in diesen Räumlichkeiten und Gebäuden abgespielt habe, da insoweit ausschließlich der Gerichtshof zuständig sei.

10 Dem ist nicht zu folgen. Artikel 1 des Protokolls betrifft schon nach seinem Wortlaut die Unverletzlichkeit der Räumlichkeiten und Gebäude sowie anderer Vermögensgegenstände der Gemeinschaften gegenüber Zwangsmaßnahmen. Die Bestimmung regelt nicht die Zuständigkeiten des Gerichtshofes und der nationalen Gerichte für Fragen der ausservertraglichen Haftung.

11 Der Gerichtshof ist auch nach keiner anderen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts für Klagen wegen ausservertraglicher Haftung zuständig, die nicht gegen die Gemeinschaft oder ihre Organe gerichtet sind, selbst wenn sich solche Klagen auf die Verbreitung einer verleumderischen Veröffentlichung in den Räumlichkeiten eines dieser Organe stützen.

12 Die zweite Frage betrifft die Möglichkeit einer Haftung des Europäischen Parlaments für das Tun einer Fraktion. Nach Artikel 26 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments können die Mitglieder ihrer politischen Zugehörigkeit entsprechende Fraktionen bilden. Eine Fraktion gilt als gebildet, sobald dem Präsidenten des Parlaments eine Erklärung übermittelt wird, die die Bezeichnung der Fraktion, die Unterschriften ihrer Mitglieder, deren Mindestanzahl in diesem Artikel festgesetzt wird, sowie die Zusammensetzung ihres Vorstands enthält.

13 Nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments haben die Fraktionen gewisse Befugnisse bei der Vorbereitung von Entscheidungen und Stellungnahmen dieses Organs, beispielsweise die Befugnis, einen Misstrauensantrag zu übergeben ( Artikel 30 ) oder eine Aussprache zu verlangen ( Artikel 32 bis 35 ). Dieselben Befugnisse stehen einer Mindestzahl von Abgeordneten zu, die von Fall zu Fall unterschiedlich ist.

14 Die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments ermächtigt die Fraktionen hingegen nicht dazu, im Namen des Parlaments gegenüber anderen Organen oder gegenüber Dritten tätig zu werden. Auch sonst enthält das Gemeinschaftsrecht keine Bestimmung, wonach Handlungen einer Fraktion dem Europäischen Parlament als Gemeinschaftsorgan zugerechnet werden könnten.

15 Die Verteilung einer angeblich verleumderischen Broschüre durch eine Fraktion hat deshalb nicht die ausservertragliche Haftung der Gemeinschaften zur Folge.

16 Auf die Vorlagefrage ist somit wie folgt zu antworten : Nach den Artikeln 178 und 183 EWG-Vertrag sowie nach Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen

a ) ist der Gerichtshof nicht deshalb zur Entscheidung über eine Klage wegen ausservertraglicher Haftung zuständig, weil das schadensstiftende Ereignis in den Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments stattfand,

b ) hat die Verteilung einer angeblich verleumderischen Veröffentlichung durch eine Fraktion im Sinne des Artikels 26 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments nicht die ausservertragliche Haftung der Gemeinschaften zur Folge.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Parlaments sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )

auf die ihm von der Cour d' appel Colmar mit Beschluß vom 2. Juni 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Nach den Artikeln 178 und 183 EWG-Vertrag sowie nach Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen

a ) ist der Gerichtshof nicht deshalb zur Entscheidung über eine Klage wegen ausservertraglicher Haftung zuständig, weil das schadensstiftende Ereignis in den Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments stattfand,

b ) hat die Verteilung einer angeblich verleumderischen Veröffentlichung durch eine Fraktion im Sinne des Artikels 26 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments nicht die ausservertragliche Haftung der Gemeinschaften zur Folge.

Ende der Entscheidung

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