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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.02.1996
Aktenzeichen: C-202/94
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/409/EWG vom 2. April 1979


Vorschriften:

Richtlinie 79/409/EWG vom 2. April 1979
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Richtlinie 79/409 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten gilt für Vogelunterarten, die nur ausserhalb des europäischen Gebietes der Mitgliedstaaten wildlebend vorkommen, sofern die Art, zu der sie gehören, oder andere Unterarten dieser Art in diesem Gebiet wildlebend vorkommen.

Denn zum einen geht aus der zweiten und dritten Begründungserwägung der Richtlinie wie aus ihrem Artikel 1 und allgemein aus der Richtlinie als Ganzem hervor, daß sie auf den wirksamen Schutz der europäischen Vogelwelt abzielt und daß dieser Schutz auf dem Begriff der Art aufbaut, der in der Vogeltaxonomie alle Unterteilungen einer Art wie Rassen und Unterarten umfasst. Zum anderen wäre die Richtlinie angesichts des Umstands, daß der Begriff der Unterart nicht auf Unterscheidungskriterien beruht, die ebenso streng und objektiv sind wie diejenigen, die zur Abgrenzung der Arten voneinander dienen, in den Mitgliedstaaten schwer anzuwenden, wenn ihr Geltungsbereich auf im europäischen Gebiet lebende Unterarten beschränkt wäre und sich nicht auf nichteuropäische Unterarten erstrecken würde, und es könnte daher zu einer uneinheitlichen Anwendung in der Gemeinschaft kommen.

Ausserdem könnte, wenn nichteuropäische Unterarten frei in die Gemeinschaft eingeführt werden könnten, die Gefahr nicht ausgeschlossen werden, daß dort Vögel exotischer Unterarten freigelassen würden mit der Folge einer künstlichen Veränderung der natürlichen Vogelwelt der Gemeinschaft. Dies ist mit dem Ziel der Erhaltung des biologischen Gleichgewichts, wie es sich aus der zweiten Begründungserwägung der Richtlinie ergibt, nicht vereinbar.


Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 8. Februar 1996. - Strafverfahren gegen Godefridus van der Feesten. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Gerechtshof 's-Hertogenbosch - Niederlande. - Richtlinie 79/409/EWG des Rates über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Geltungsbereich - Geschützte Art - Geltung der Richtlinie für eine Unterart, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten nicht wildlebend vorkommt. - Rechtssache C-202/94.

Entscheidungsgründe:

1 Der Gerechtshof 's-Hertogenbosch hat mit Entscheidung vom 5. Juli 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juli 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 1 Absatz 1 und 14 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren, das gegen G. van der Feesten nach der Vogelwet vom 31. Dezember 1936 (Gesetz über Vögel) eingeleitet wurde. Nachdem in seinem Haus eine Anzahl aus Dänemark eingeführter Vögel der Unterart Carduelis cardülis caniceps (Grauköpfiger Stieglitz) beschlagnahmt worden war, wandte er sich gegen diese Maßnahme, um die Rückgabe der Vögel zu erreichen.

3 Aus den Akten geht hervor, daß es nach der Vogelwet vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen verboten ist, Vögel, die zu einer der in Europa wildlebenden Arten gehören, oder Erzeugnisse, die aus diesen Vögeln gewonnen wurden, zu halten, ihren Kauf anzubieten, sie zu kaufen, zum Kauf anzubieten, zu verkaufen, zu liefern, zu transportieren, zum Transport anzubieten, einzuführen, durchzuführen oder aus dem niederländischen Hoheitsgebiet auszuführen.

4 Nach der Richtlinie, insbesondere nach ihren Artikeln 5 und 6, sind das Halten von Vögeln aller wildlebenden Arten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf das der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind, sowie der Handel mit solchen Vögeln generell und vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen untersagt.

5 In seinem Vorlagebeschluß führt das nationale Gericht aus, daß der Carduelis cardülis oder Stieglitz als Vogelart selbst wie auch in mehreren Unterarten im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf das der Vertrag Anwendung finde, wildlebend vorkomme. Jedoch sei der Carduelis cardülis caniceps eine Unterart, die nur ausserhalb dieses europäischen Gebietes wildlebend vorkomme.

6 Da das vorlegende Gericht Zweifel hat, ob die niederländische Regelung, aufgrund deren die betreffenden Vögel beschlagnahmt worden waren, eine ordnungsgemässe Umsetzung der Richtlinie darstellt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist eine nationale Regelung, die (im Sinne der später mehrmals geänderten Richtlinie 79/409/EWG vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten) Vögel, die nachweislich zu einer Unterart gehören, die als solche im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten nicht wildlebend vorkommt, allein deshalb schützt, weil die (Haupt-)Art und/oder andere Unterarten dieser Art in diesem Gebiet bzw. im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats wildlebend vorkommen, mit dem Wortlaut und/oder dem Zweck dieser Richtlinie und insbesondere mit Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 14 vereinbar?

2. Ist es für die Beantwortung der Frage 1 erheblich, ob die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats annehmen können, daß die betreffende Unterart für Strafverfolgungsbehörden mit der erforderlichen Sachkunde nicht oder kaum von Vögeln der (Haupt-)Art, anderen Unterarten dieser Art oder anderen (Unter-)Arten zu unterscheiden ist?

3. Falls in der angesprochenen nationalen Regelung eine strengere Maßnahme im Sinne von Artikel 14 der Richtlinie zu sehen ist, ist es dann von Bedeutung, ob die in dem betreffenden Mitgliedstaat aufgefundenen Vögel der Unterart aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt worden sind, der eine strengere Maßnahme derselben Art hätte treffen können, aber im konkreten Fall zum Zeitpunkt dieser Ereignisse (noch) nicht getroffen hat?

Zur ersten Frage

7 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie für Vogelunterarten gilt, die nur ausserhalb des europäischen Gebietes der Mitgliedstaaten wildlebend vorkommen, sofern die Art, zu der sie gehören, oder andere Unterarten dieser Art in diesem Gebiet wildlebend vorkommen.

8 In der zweiten und der dritten Begründungserwägung der Richtlinie heisst es:

"[B]ei vielen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ist ein Rückgang der Bestände festzustellen, der in bestimmten Fällen sehr rasch vonstatten geht. Dieser Rückgang bildet eine ernsthafte Gefahr für die Erhaltung der natürlichen Umwelt, da durch diese Entwicklung insbesondere das biologische Gleichgewicht bedroht wird.

[Die] Zugvogelarten... stellen ein gemeinsames Erbe dar; daher ist der wirksame Schutz dieser Vogelarten ein typisch grenzuebergreifendes Umweltproblem, das gemeinsame Verantwortlichkeiten mit sich bringt."

9 Zum Anwendungsbereich der Richtlinie bestimmt ihr Artikel 1 Absatz 1: "[D]iese Richtlinie betrifft die Erhaltung sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Sie hat den Schutz, die Bewirtschaftung und die Regulierung dieser Arten zum Ziel und regelt die Nutzung dieser Arten."

10 Sowohl aus diesen Begründungserwägungen wie aus Artikel 1 der Richtlinie und allgemein aus der Richtlinie als Ganzem geht hervor, daß sie auf den wirksamen Schutz der europäischen Vogelwelt abzielt und daß dieser Schutz auf dem Begriff der Art aufbaut.

11 In der Vogeltaxonomie umfasst der Begriff der Art definitionsgemäß alle ihre Unterteilungen wie Rassen und Unterarten. Folglich gehört ein Individuum einer Unterart immer der Art an, zu der die betreffende Unterart gehört.

12 Aus der Annahme, daß der Geltungsbereich der Richtlinie durch den taxonomischen Begriff der Art bestimmt wird, folgt, daß, wenn eine Unterart im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf das der Vertrag Anwendung findet, wildlebend vorkommt, die Art, zu der diese Unterart gehört, als eine europäische Art anzusehen ist und daß demnach alle anderen Unterarten dieser Art, einschließlich der nichteuropäischen, von der Richtlinie erfasst werden.

13 Während der Begriff der Art eine biologische Ordnungseinheit erfasst, deren wissenschaftliche Definition weithin anerkannt ist und auf Merkmalen beruht, die Teil des Erbguts der Individün der betreffenden Art sind, gilt dies für den Begriff der Unterart nicht. Dieser Begriff bezeichnet nämlich eine Population, die sich innerhalb einer Art von anderen Populationen derselben Art durch Kriterien wie die Morphologie, den Lebensraum oder das Verhalten ihrer Individün unterscheidet.

14 Diese Überlegungen werden dadurch gestützt, daß, wie die französische Regierung und die Kommission ausgeführt haben, die Individün, die aus der Paarung von Individün verschiedener Arten hervorgegangen sind, im allgemeinen unfruchtbar sind, während die Individün, die durch Paarung von Individün entstanden sind, die zu Unterarten derselben Art gehören, fortpflanzungsfähig sind.

15 Somit beruht der Begriff der Unterart nicht auf Unterscheidungskriterien, die ebenso streng und objektiv sind wie diejenigen, die zur Abgrenzung der Arten voneinander dienen. Daher gibt es in Wissenschaftskreisen nicht selten unterschiedliche Auffassungen über die Möglichkeit, bestimmte Unterarten zu isolieren und voneinander zu unterscheiden.

16 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß die Richtlinie, wie die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission der Sache nach vorgetragen haben, in den Mitgliedstaaten schwer anzuwenden wäre und es daher zu einer uneinheitlichen Anwendung in der Gemeinschaft kommen könnte, wenn ihr Geltungsbereich auf im europäischen Gebiet lebende Unterarten beschränkt wäre und sich nicht auf nichteuropäische Unterarten erstrecken würde. Ein solches Ergebnis liefe zum einen dem Ziel des wirksamen Schutzes der europäischen Vogelwelt zuwider und könnte zum anderen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Gemeinschaft verursachen.

17 Ausserdem könnte, wenn nichteuropäische Unterarten frei in die Gemeinschaft eingeführt werden könnten, die insbesondere von der französischen Regierung und der Kommission erwähnte Gefahr nicht ausgeschlossen werden, daß dort Vögel exotischer Unterarten freigelassen würden mit der Folge einer künstlichen Veränderung der natürlichen Vogelwelt der Gemeinschaft. Dies ist mit dem Ziel der Erhaltung des biologischen Gleichgewichts, wie es sich aus der zweiten Begründungserwägung der Richtlinie ergibt, nicht vereinbar.

18 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, daß die Richtlinie für Vogelunterarten gilt, die nur ausserhalb des europäischen Gebietes der Mitgliedstaaten wildlebend vorkommen, sofern die Art, zu der sie gehören, oder andere Unterarten dieser Art in diesem Gebiet wildlebend vorkommen.

Zu den weiteren Fragen

19 Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage gegenstandslos.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Die Auslagen der niederländischen und der französischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Gerechtshof 's-Hertogenbosch mit Entscheidung vom 5. Juli 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Die Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten gilt für Vogelunterarten, die nur ausserhalb des europäischen Gebietes der Mitgliedstaaten wildlebend vorkommen, sofern die Art, zu der sie gehören, oder andere Unterarten dieser Art in diesem Gebiet wildlebend vorkommen.

Ende der Entscheidung

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