Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.10.2006
Aktenzeichen: C-232/05
Rechtsgebiete: EG, Entscheidung 2002/14/EG, Verordnung (EG) Nr. 659/1999


Vorschriften:

EG Art. 88 Abs. 2 Unterabs. 2
EG Art. 249 Abs. 4
Entscheidung 2002/14/EG Art. 2
Entscheidung 2002/14/EG Art. 3
Verordnung (EG) Nr. 659/1999 Art. 14 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)

5. Oktober 2006

"Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Staatliche Beihilfen - Zugunsten von Scott Paper SA/Kimberly-Clark gewährte staatliche Beihilfen - Rückforderungspflicht - Nichtvollstreckung aufgrund der Anwendung des nationalen Verfahrens - Nationale Verfahrensautonomie - Grenzen - Nationales Verfahren, das die 'sofortige und tatsächliche Vollstreckung' im Sinne von Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 ermöglicht - Nationales Verfahren, das die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen vorsieht, die gegen Zahlungsbescheide der nationalen Behörden eingelegt werden"

Parteien:

In der Rechtssache C-232/05

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 88 Absatz 2 Unterabsatz 2 EG, eingereicht am 26 Mai 2005,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch C. Giolito als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues und S. Ramet als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter) sowie des Richters K. Schiemann, der Richterin N. Colneric und der Richter K. Lenaerts und E. Juhász,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Mai 2006

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit ihrer Klage begehrt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Feststellung, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 249 Absatz 4 EG und den Artikeln 2 und 3 der Entscheidung 2002/14/EG der Kommission vom 12. Juli 2000 betreffend die von Frankreich zugunsten von Scott Paper SA/Kimberly-Clark gewährte staatliche Beihilfe (ABl. 2002, L 12, S. 1) verstoßen hat, dass sie dieser Entscheidung nicht innerhalb der festgesetzten Frist nachgekommen ist.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

2 Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88] des EG-Vertrags (ABl. L 83, S. 1) stellt die Regeln für die Rückforderung von für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärten staatlichen Beihilfen auf:

"Unbeschadet einer Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften nach Artikel 185 des Vertrags [jetzt Artikel 242 EG] erfolgt die Rückforderung unverzüglich und nach den Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats, sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglicht wird. Zu diesem Zweck unternehmen die betreffenden Mitgliedstaaten im Fall eines Verfahrens vor nationalen Gerichten unbeschadet des Gemeinschaftsrechts alle in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verfügbaren erforderlichen Schritte einschließlich vorläufiger Maßnahmen."

Nationales Recht

3 Artikel L4 des Code de justice administrative (Verwaltungsprozessordnung) bestimmt:

"Vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Regelungen haben Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung, sofern das Gericht nichts anderes bestimmt."

4 Als eine solche besondere gesetzliche Regelung bestimmt Artikel 6 des Dekrets Nr. 92-1369 vom 29. Dezember 1992 zur Änderung des Dekrets Nr. 62-1587 vom 29. Dezember 1962 über die allgemeine Regelung der öffentlichen Rechnungsführung und die Festlegung der Bestimmungen, die auf die Beitreibung der in Artikel 80 dieses Dekrets genannten staatlichen Forderungen anwendbar sind (JORF vom 30. Dezember 1992, S. 17954), in Bezug auf die vom Staat oder nationalen öffentlichen Einrichtungen erlassenen Zahlungsbescheide:

"Die Zahlungsbescheide, die in Artikel 85 des oben genannten Dekrets vom 29. Dezember 1962 aufgeführt sind, können vom Schuldner entweder durch Einspruch gegen den Bescheid angefochten werden, wenn er das Bestehen, den Betrag oder die Fälligkeit der Forderung bestreitet, oder durch Einspruch gegen die Beitreibung, wenn er die formelle Gültigkeit einer Beitreibungsmaßnahme bestreitet.

Andere Einziehungsanordnungen können durch Einspruch gegen die Beitreibung angefochten werden.

Diese Einsprüche haben die Aussetzung der Beitreibung zur Folge."

5 Ebenso sieht der mit Gesetz Nr. 96-314 vom 12. April 1996 (JORF vom 13. April 1996, S. 5707) eingefügte Artikel L1617-5 Nummer 1 Absatz 2 des Code général des collectivités territoriales für Zahlungsbescheide der Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Einrichtungen vor: "Die Einlegung eines Rechtsbehelfs vor einem Gericht, mit dem die Begründetheit einer von einer Gebietskörperschaft oder einer örtlichen öffentlichen Einrichtung festgesetzten und erhobenen Forderung bestritten wird, führt ... zur Aussetzung der Vollstreckung des Bescheides."

Vorverfahren

Vorgeschichte der Entscheidung 2002/14

6 1969 kaufte die Gesellschaft amerikanischen Rechts Scott Paper Company die Gesellschaft französischen Rechts Bouton Brochard und gründete eine eigenständige Gesellschaft, die Bouton Brochard Scott SA (im Folgenden: Bouton Brochard Scott), die das Geschäft von Bouton Brochard übernahm.

7 1986 beschloss Bouton Brochard Scott, ein Werk in Frankreich zu errichten, und wählte hierfür ein Grundstück im Departement Loiret im Gewerbegebiet von La Saussaye in Orléans.

8 Am 31. August 1987 räumten die Stadt Orléans und das Departement Loiret Bouton Brochard Scott bestimmte Vergünstigungen ein. Zum einen verkauften sie dem Unternehmen ein Grundstück von 48 ha Größe in dem betreffenden Gewerbegebiet zu Vorzugsbedingungen. Zum anderen verpflichteten sie sich, die Abwassergebühr ebenfalls nach einem Vorzugstarif zu berechnen.

9 Bouton Brochard Scott wurde im November 1987 in "Scott S.A." umbenannt (im Folgenden: Scott).

10 Im Januar 1996 wurden die Aktien von Scott von der Kimberley-Clark Corporation (im Folgenden: Kimberley Clark) gekauft.

11 Im Januar 1998 kündigte Kimberley-Clark die Schließung des betreffenden Werkes an, dessen Aktiva, nämlich das Grundstück und die Papierwarenfabrik, Procter & Gamble im Juni 1998 erwarb.

12 Am 12. Juli 2000 erließ die Kommission die Entscheidung 2002/14, die in Artikel 1 die staatlichen Beihilfen in Form des Vorzugspreises für ein Grundstück (aktualisierter Wert: 12,3 Millionen Euro) und eines Vorzugstarifs für die Abwasserentsorgung (von den französischen Behörden zu bestimmender Betrag), die die Französische Republik zugunsten von Scott gewährt hat (im Folgenden: fragliche Beihilfen), für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärte.

13 Artikel 2 der Entscheidung 2002/14 bestimmt:

"(1) Frankreich ergreift alle erforderlichen Maßnahmen, um von dem Begünstigten die [fraglichen] im Artikel 1 genannte[n] und ihm bereits rechtswidrig zur Verfügung gestellte[n] Beihilfe[n] zurückzufordern.

(2) Die Rückforderung erfolgt unverzüglich nach nationalem Verfahrensrecht, soweit die Verfahren die sofortige Durchführung dieser Entscheidung tatsächlich ermöglichen. ..."

14 Artikel 3 dieser Entscheidung lautet:

"Frankreich teilt der Kommission innerhalb von zwei Monaten nach der Bekanntgabe dieser Entscheidung die Maßnahmen mit, die es getroffen hat, um der Entscheidung nachzukommen."

15 Am 31. Juli 2000 wurde die Entscheidung 2002/14 der Französischen Republik bekannt gegeben.

16 Am 30. November bzw. 4. Dezember 2000 erhoben Scott und das Departement Loiret vor dem Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften jeweils Nichtigkeitsklage gegen diese Entscheidung. Eine Aussetzung der Durchführung der Entscheidung gemäß Artikel 242 EG beantragten die Parteien nicht.

Die von der Französischen Republik im Anschluss an die Entscheidung 2002/14 eingeleiteten Schritte in Bezug auf die Beihilfe in Form eines Vorzugspreises für das Grundstück

17 Wegen der Beihilfe in Form eines Vorzugspreises für das Grundstück erließ der Conseil général von Loiret am 15. Dezember 2000 einen Einziehungsbescheid über 5 054 721 Euro. Am 2. Januar 2001 erließ die Stadt Orléans einen Einziehungsbescheid über 8 002 231 Euro.

18 Die Kommission korrigierte jedoch diese Beihilfe wegen eines bei der Berechnung ihrer Höhe unterlaufenen Rechenfehlers und übersandte der Französischen Republik im März 2001 eine Berichtigung.

19 Daraufhin wurden die Einziehungsbescheide vom 15. Dezember 2000 und 2. Januar 2001 am 23. März 2001 aufgehoben.

20 In der Folge erließ der Conseil général von Loiret am 5. Oktober 2001 einen neuen Einziehungsbescheid über 4 691 370 Euro. Die Stadt Orléans erließ am 18. Oktober 2001 ebenfalls einen neuen Einziehungsbescheid über 7 621 937 Euro.

21 Diese beiden Einziehungsbescheide wurden von Kimberley-Clark beim Tribunal administratif Orléans am 29. Oktober und 27. November 2001 angefochten.

22 Da derartige Rechtsbehelfe nach französischem Recht automatisch aufschiebende Wirkung haben, wurden die betreffenden Beträge nicht eingezogen.

Die von der Französischen Republik im Anschluss an die Entscheidung 2002/14 eingeleiteten Schritte in Bezug auf die Beihilfe in Form eines Vorzugstarifs für die Abwasserentsorgung

23 Wegen der Beihilfe in Form eines Vorzugstarifs für die Abwasserentsorgung erließ die Stadt Orléans in den Monaten Januar und August 2001 sechs Einziehungsbescheide über einen Gesamtbetrag von 1 046 903 Euro.

24 Einer dieser Bescheide betraf einen Betrag von 165 887 Euro, der von Procter & Gamble gezahlt wurde, nachdem diese mittlerweile das Werk von Orléans übernommen hatte.

25 Die fünf weiteren Einziehungsbescheide wurden durch drei Bescheide vom 5. Dezember 2001 über insgesamt 881 015 Euro ersetzt.

26 Gegen diese legte Kimberly-Clark beim Tribunal administratif Orléans am 8. März 2002 Rechtsbehelf ein.

27 Da derartige Rechtsbehelfe automatisch aufschiebende Wirkung haben, wurden die in diesen Einziehungsbescheiden genannten Beträge nicht gezahlt.

Das Verfahren vor dem Tribunal administratif Orléans

28 Mit Schreiben vom 2. Juli 2003 wies die französische Regierung darauf hin, dass das Tribunal administratif Orléans das Verfahren ausgesetzt habe, bis das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften über die Frage der Gültigkeit der Entscheidung 2002/14 entschieden habe. In ihrer Klagebeantwortung räumte die Regierung jedoch ein, dass diese Aussage unzutreffend gewesen sei.

Der Meinungsstreit vor Erhebung der vorliegenden Klage

29 Mit Schreiben vom 8. Mai, 31. Juli und 8. Oktober 2001, 13. März, 26. August und 23. Dezember 2002, 13. Februar, 16. Mai und 21. November 2003, 27. Januar, 9. März und 29. April 2004 ersuchte die Kommission die französischen Behörden, sie über die weiteren Schritte zur Rückforderung der geschuldeten Beträge zu unterrichten und ihr bestimmte Unterlagen und Informationen über die Verfahren beim Tribunal administratif Orléans zukommen zu lassen. In diesen Schreiben unterstrich die Kommission die Bedeutung einer sofortigen und tatsächlichen Vollstreckung und wies darauf hin, dass sie die Möglichkeit habe, den Gerichtshof unmittelbar nach Artikel 88 Absatz 2 EG anzurufen. In ihrem letzten Schreiben vom 29. April 2004 setze sie der französischen Regierung eine letzte Nachfrist von 20 Tagen.

30 Da die Antworten der Französischen Republik in ihren Schreiben vom 13. November 2001, 27. November 2002, 25. März und 2. Juli 2003 die Kommission nicht zufrieden stellten, beschloss diese, die vorliegende Klage zu erheben.

Zur Klage

31 Die Kommission stützt ihre Klage auf einen einzigen Klagegrund, mit dem sie im Wesentlichen einen Verstoß gegen Artikel 249 Absatz 4 EG und die Artikel 2 und 3 der Entscheidung 2002/14 rügt, weil die Französische Republik dieser Entscheidung nicht innerhalb der festgesetzten Frist nachgekommen sei.

Zu dem für die Beurteilung der Vertragsverletzung maßgebenden Zeitpunkt

32 Nach ständiger Rechtsprechung ist für die Anwendung von Artikel 88 Absatz 2 Unterabsatz 2 EG auf jenen Zeitpunkt abzustellen, der in der Entscheidung genannt ist, deren Nichtdurchführung beanstandet wird, oder gegebenenfalls auf jenen Zeitpunkt, der von der Kommission später festgesetzt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 2001 in der Rechtssache C-378/98, Kommission/Belgien, Slg. 2001, I-5107, Randnr. 26, vom 2. Juli 2002 in der Rechtssache C-499/99, Kommission/Spanien, Slg. 2002, I-6031, Randnr. 28, und vom 1. Juni 2006 in der Rechtssache C-207/05, Kommission/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 31).

33 Im vorliegenden Fall war der französischen Regierung in den Artikeln 2 und 3 der Entscheidung 2002/14 eine Frist von zwei Monaten nach Bekanntgabe gesetzt worden, um die zur Rückforderung der fraglichen Beihilfen erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und diese der Kommission mitzuteilen. Nach langen Diskussionen zwischen den Parteien setzte die Kommission mit Schreiben vom 29. April 2004 eine letzte Frist, die 20 Tage nach diesem Datum ablief.

34 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die in Artikel 3 der Entscheidung 2002/14 gesetzte Frist durch diejenige ersetzt worden ist, die sich aus dem Schreiben vom 29. April 2004 ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, Randnr. 35). Die Frist ist somit bis zum 19. Mai 2004 verlängert worden.

Zum Klagegrund

Vorbringen der Parteien

35 Die Kommission macht geltend, dass mehr als fünf Jahre nach Erlass der Entscheidung 2002/14 die von den französischen Behörden eingeleiteten Maßnahmen nicht zur Rückforderung der fraglichen Beihilfen geführt hätten. Die Entscheidung sei somit nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden.

36 Zwar lasse Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 659/1999 die Anwendung der im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren zu, doch gelte dies nur insoweit, als diese Verfahren die "sofortige und tatsächliche" Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglichten. Ein nationales Verfahren, das Rechtsbehelfen gegen zur Rückforderung einer gewährten Beihilfe erlassene Zahlungsbescheide automatisch eine aufschiebende Wirkung zuerkenne, erfülle diese Kriterien nicht.

37 Die französische Regierung erwidert, dass die französischen Behörden alles Erforderliche getan hätten, um der Entscheidung 2002/14 nachzukommen.

38 Sie hätten entsprechend den nationalen Verfahren an den Beihilfeempfänger mehrere Zahlungsbescheide gerichtet, die nach Abschluss des Verfahrens vor dem zuständigen nationalen Gericht vollstreckbar würden.

39 Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 659/1999 sehe nämlich ausdrücklich einen solchen Rückgriff auf nationale Verfahren vor, sofern diese die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglichten. Die im vorliegenden Fall angewandten nationalen Verfahrensvorschriften einschließlich der Vorschrift über die aufschiebende Wirkung der gegen Zahlungsbescheide eingelegten Rechtsbehelfe stünden einer solchen Vollstreckung nicht entgegen.

40 Die französische Regierung unterstreicht, dass ihrer Ansicht nach die "sofortige und tatsächliche" Vollstreckung der Kommissionsentscheidung nicht zwingend eine sofortige Rückerstattung der Beihilfe bedeute. Eine solche Vollstreckung impliziere indessen, dass der Mitgliedstaat sofort das nationale Verfahren einleite, das dann zur Rückforderung der gewährten Beihilfe führen müsse.

Würdigung durch den Gerichtshof

41 Gemäß Artikel 249 Absatz 4 EG sind Entscheidungen in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnen.

42 Nach ständiger Rechtsprechung hat der Mitgliedstaat, an den eine Entscheidung gerichtet ist, die ihn zur Rückforderung rechtswidriger Beihilfen verpflichtet, nach Artikel 249 EG alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Durchführung der Entscheidung sicherzustellen (vgl. Urteile vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C-209/00, Kommission/Deutschland, Slg. 2002, I-11695, Randnr. 31, und vom 26. Juni 2003 in der Rechtssache C-404/00, Kommission/Spanien, Slg. 2003, I-6695, Randnr. 21). Er muss erreichen, dass er die geschuldeten Beträge tatsächlich wiedererlangt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Mai 2005 in der Rechtssache C-415/03, Kommission/Griechenland, Slg. 2005, I-3875, Randnr. 44, und Kommission/Italien, Randnrn. 36 und 37).

43 Nach Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 659/1999 hat die Rückforderung der für unvereinbar erklärten Beihilfe "unverzüglich" zu erfolgen.

44 Im vorliegenden Fall verpflichtet die Entscheidung 2002/14 die Französische Republik, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um vom Begünstigten die ihm zur Verfügung gestellten fraglichen Beihilfen zurückzufordern. Hierzu hat die Kommission der Französischen Republik eine Frist von zwei Monaten gesetzt. Diese Frist wurde durch die sich aus dem Schreiben vom 29. April 2004 ergebende Frist ersetzt und verlängerte sich dadurch bis zum 19. Mai 2004.

45 Bei Ablauf dieser letztgenannten Frist, d. h. fast vier Jahre nach Erlass der Entscheidung 2002/14, hatten die Maßnahmen der französischen Behörden nicht zu einer tatsächlichen Rückforderung der fraglichen Beihilfen geführt, wenn man von der Zahlung von 165 887 Euro absieht, die auf die Gesamtforderung von 13 350 000 Euro geleistet worden war.

46 Denn wie die französische Regierung selbst zugibt, können Zahlungsbescheide wegen der automatisch eintretenden aufschiebenden Wirkung der gegen sie eingelegten Rechtsbehelfe vor Erlass der Entscheidung des zuständigen nationalen Gerichtes keine konkrete Wirkung im Hinblick auf die Rückerstattung der genannten Beihilfen entfalten.

47 Folglich kann der Beihilfeempfänger die ihm durch die für unvereinbar erklärten Beihilfen zugeflossenen Gelder während dieser Zeit behalten und daraus einen unzulässigen Wettbewerbsvorteil ziehen.

48 Die französische Regierung macht jedoch geltend, diese Verzögerung sei der durch Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung 659/1999 ausdrücklich zugelassenen Anwendung der im französischen Recht vorgesehenen Verfahren zuzuschreiben.

49 Hierbei ist daran zu erinnern, dass nach Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 659/1999 die Anwendung nationaler Verfahren von der Bedingung abhängt, dass diese die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglichen; diese Bedingung spiegelt die Erfordernisse des in der Rechtsprechung bereits früher aufgestellten Effektivitätsgrundsatzes wider (vgl. Urteile vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 94/87, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 175, Randnr. 12, vom 20. März 1997 in der Rechtssache C-24/95, Alcan Deutschland, Slg. 1997, I-1591, Randnr. 24, und vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache Kommission/Deutschland, Randnrn. 32 bis 34).

50 Nach der 13. Begründungserwägung dieser Verordnung muss im Fall von rechtswidrigen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfen ein wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt werden und dazu die betreffende Beihilfe unverzüglich zurückgefordert werden. Die Anwendung der nationalen Verfahren darf somit die Wiederherstellung eines wirksamen Wettbewerbs nicht erschweren, indem sie die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung verhindert. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, müssen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit der Kommissionsentscheidung treffen.

51 Das im vorliegenden Fall angewandte französische Verfahren kann dadurch, dass es Rechtsbehelfen gegen zur Rückforderung einer gewährten Beihilfe erlassene Zahlungsbescheide eine aufschiebende Wirkung zuerkennt, nicht als ein Verfahren angesehen werden, das die "sofortige und tatsächliche" Vollstreckung der Entscheidung 2002/14 ermöglicht. Vielmehr kann es die Rückforderung der Beihilfen durch die Zuerkennung einer derartigen aufschiebenden Wirkung beträchtlich verzögern.

52 Da dieses nationale Verfahren die von den Gemeinschaftsvorschriften über staatliche Beihilfen verfolgten Ziele außer Betracht lässt, verhindert es die sofortige Wiederherstellung der früheren Lage und verlängert die Dauer des auf den fraglichen Beihilfen beruhenden unzulässigen Wettbewerbsvorteils.

53 Daraus folgt, dass das im vorliegenden Fall im nationalen Recht vorgesehene Verfahren nicht die Voraussetzungen des Artikels 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 659/1999 erfüllt. Die französische Vorschrift über die aufschiebende Wirkung der gegen Zahlungsbescheide eingelegten Rechtsbehelfe hätte somit unangewandt bleiben müssen.

54 Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, auf die Frage einzugehen, ob der nationale Richter in bestimmten Fällen die Aussetzung der Vollstreckung von Zahlungsbescheiden bei Rechtsbehelfen anordnen kann, deren Rügen sich nicht auf die Kommissionsentscheidung beziehen.

55 Hinzuzufügen ist in diesem Zusammenhang, dass die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen, die bei nationalen Gerichten eingelegt werden, nicht als unabdingbar angesehen werden kann, um in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht einen effektiven gerichtlichen Schutz zu garantieren.

56 Ein solcher Schutz wird nämlich schon vollumfänglich durch die vom EG-Vertrag eröffneten Möglichkeiten gewährleistet, im vorliegenden Fall insbesondere durch die Nichtigkeitsklage nach Artikel 230 EG.

57 Da die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft ist, in der die Handlungen ihrer Organe daraufhin kontrolliert werden, ob sie mit dem Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar sind, hat der Vertrag ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorgesehen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe gewährleisten soll und dazu den Gemeinschaftsrichter mit dieser Aufgabe betraut hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2002 in der Rechtssache C-50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores/Rat, Slg. 2002, I-6677, Randnrn. 38 und 40).

58 Der Empfänger einer für unvereinbar erklärten Beihilfe ist berechtigt, eine Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 230 Absatz 2 EG zu erheben, selbst wenn die Entscheidung an einen Mitgliedstaat gerichtet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. September 1980 in der Rechtssache 730/79, Philip Morris/Kommission, Slg. 1980, 2671, und vom 9. März 1994 in der Rechtssache C-188/92, TWD Textilwerke Deggendorf, Slg. 1994, I-833, Randnr. 14).

59 Im Gegenzug kann der Empfänger einer für unvereinbar erklärten Beihilfe, der die Entscheidung der Kommission hätte anfechten können, diese nicht vor den nationalen Gerichten mit einem Rechtsbehelf gegen die von den nationalen Behörden getroffenen Durchführungsmaßnahmen erneut in Frage stellen. Ließe man in derartigen Fällen zu, dass sich der Betroffene vor dem nationalen Gericht unter Berufung auf die Rechtswidrigkeit der Gemeinschaftsentscheidung ihrer Durchführung widersetzen kann, würde ihm damit die Möglichkeit eingeräumt, die Bestandskraft zu umgehen, die die Entscheidung ihm gegenüber nach Ablauf der Klagefrist besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteile TWD Textilwerke Deggendorf, Randnrn. 17 und 18, und vom 15. Februar 2001 in der Rechtssache C-239/99, Nachi Europe, Slg. 2001, I-1197, Randnr. 37).

60 Es ist somit ausgeschlossen, dass die Kommissionsentscheidung über die Rückforderung der geschuldeten Beträge vor einem nationalen Gericht in Frage gestellt wird. Diese Frage ist dem Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vorbehalten, das hierüber im Rahmen einer bei ihm erhobenen Nichtigkeitsklage entscheidet. Nach Artikel 242 EG hat eine solche Klage keine aufschiebende Wirkung, sofern das Gericht erster Instanz nicht anders entscheidet.

61 In Anbetracht des Vorstehenden ist festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 249 Absatz 4 EG und den Artikeln 2 und 3 der Entscheidung 2002/14 verstoßen hat, dass sie nicht innerhalb der festgesetzten Frist alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um die in dieser Entscheidung angeführten Beihilfen vom Beihilfeempfänger zurückzufordern.

Kostenentscheidung:

Kosten

62 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Französische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem entsprechenden Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 249 Absatz 4 EG und den Artikeln 2 und 3 der Entscheidung 2002/14/EG der Kommission vom 12. Juli 2000 betreffend die von Frankreich zugunsten von Scott Paper SA/Kimberly-Clark gewährte staatliche Beihilfe verstoßen, dass sie nicht innerhalb der festgesetzten Frist alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um die in dieser Entscheidung angeführten Beihilfen vom Beihilfeempfänger zurückzufordern.

2. Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.



Ende der Entscheidung

Zurück