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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.06.2003
Aktenzeichen: C-234/01
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, EStG 1996


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 43
EG-Vertrag Art. 49
EG-Vertrag Art. 50
EStG 1996 § 50a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 12. Juni 2003. - Arnoud Gerritse gegen Finanzamt Neukölln-Nord. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Finanzgericht Berlin - Deutschland. - Einkommensteuer - Gebietsfremde - Artikel 59 EGVertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und Artikel 60 EGVertrag (jetzt Artikel 50 EG) - Grundfreibetrag - Abzug der Betriebsausgaben. - Rechtssache C-234/01.

Parteien:

In der Rechtssache C-234/01

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Finanzgericht Berlin (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Arnoud Gerritse

gegen

Finanzamt Neukölln-Nord

"vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG)

erlässt

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Wathelet (Berichterstatter) sowie der Richter C. W. A. Timmermans, D. A. O. Edward, P. Jann und A. Rosas,

Generalanwalt: P. Léger,

Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Herrn Gerritse, vertreten durch Rechtsanwalt H. Grams und D. Molenaar, belastingadviseur,

- des Finanzamts Neukölln-Nord, vertreten durch W. Czarnetzki und S. Wolff als Bevollmächtigte,

- der finnischen Regierung, vertreten durch T. Pynnä als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und W. Mölls als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Gerritse und der Kommission in der Sitzung vom 9. Januar 2003,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. März 2003

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Finanzgericht Berlin hat mit Beschluss vom 28. Mai 2001, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2001, gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung von Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Gerritse (nachstehend: Kläger) und dem Finanzamt Neukölln-Nord (nachstehend: Beklagter) über die Besteuerung von Einkünften, die der Kläger in Deutschland als Gebietsfremder erzielte.

Nationales Recht

3 § 50a des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der Fassung von 1996 regelt die Besteuerung von "beschränkt Steuerpflichtigen", d. h. Personen, die in Deutschland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und dort nur mit ihren inländischen Einkünften besteuert werden. § 50a Absatz 4 lautet:

"Die Einkommensteuer wird bei beschränkt Steuerpflichtigen im Wege des Steuerabzugs erhoben

1. bei Einkünften, die durch künstlerische, sportliche, artistische oder ähnliche Darbietungen im Inland oder durch deren Verwertung im Inland erzielt werden, einschließlich der Einkünfte aus anderen mit diesen Leistungen zusammenhängenden Leistungen, unabhängig davon, wem die Einnahmen zufließen...

...

Der Steuerabzug beträgt 25 vom Hundert der Einnahmen..."

4 Gemäß § 50 Absatz 5 Satz 4 EStG in der Fassung von 1997, rückwirkend anwendbar auf 1996 zugeflossene Vergütungen, sind Abzüge von Werbungskosten oder Betriebsausgaben grundsätzlich nicht zulässig, es sei denn, sie sind höher als die Hälfte der Einnahmen.

5 Der Steuerabzug stellt grundsätzlich die definitive Besteuerung dar, wie aus § 50 Absatz 5 EStG 1996 hervorgeht, wo es heißt:

"Die Einkommensteuer für Einkünfte, die dem Steuerabzug... unterliegen, gilt bei beschränkt Steuerpflichtigen durch den Steuerabzug als abgegolten."

6 Gemäß § 1 Absatz 3 EStG 1996 können jedoch bestimmte Personen, die in den Anwendungsbereich von § 50a fallen, einen Antrag auf Behandlung als unbeschränkt Einkommensteuerpflichtige stellen. Ihre Besteuerung wird dann nach einer Einkommensteuererklärung in einem Veranlagungsverfahren nachträglich derjenigen eines unbeschränkt Steuerpflichtigen angeglichen.

7 Beschränkt Steuerpflichtige haben diese Möglichkeit jedoch nur unter einer der folgenden Voraussetzungen: entweder wenn ihre Einkünfte im Kalenderjahr mindestens zu 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen oder wenn die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte im Kalenderjahr höchstens 12 000 DM betragen.

8 Wird, wie im Allgemeinen bei unbeschränkt Steuerpflichtigen der Fall, eine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt, so dient bei Einkünften aus einer selbständigen Tätigkeit als Besteuerungsgrundlage der Nettogewinn, wie er sich nach Abzug der Betriebsausgaben ergibt (vgl. § 50 Absätze 1 und 2 EStG). Außerdem findet der progressive Steuertarif nach § 32a EStG 1996 Anwendung, der einen Grundfreibetrag umfasst, der für 1996 12 095 DM beträgt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

9 Der Kläger, ein in den Niederlanden wohnhafter niederländischer Staatsangehöriger, erhielt im Jahr 1996 für einen Auftritt als Schlagzeuger bei einem Radiosender in Berlin 6 007,55 DM. Aus den Akten geht hervor, dass er für diesen Auftritt Betriebsausgaben in Höhe von 968 DM hatte.

10 Im gleichen Jahr hatte der Kläger außerdem Einkünfte in Höhe von insgesamt brutto 55 000 DM in seinem Wohnsitzstaat und in Belgien.

11 Vom Honorar von 6 007,55 DM wurde entsprechend dem Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete (BGBl. 1960 II, S. 1782, nachstehend: Doppelbesteuerungsabkommen) und gemäß § 50a Absatz 4 EStG 1996 ein Anteil von 25 % (d. h. 1 501,89 DM) als pauschale Einkommensteuer abgezogen.

12 Im September 1998 reichte der Kläger beim Beklagten gemäß § 1 Absatz 3 EStG 1996 eine Einkommensteuererklärung ein, um als unbeschränkt Steuerpflichtiger behandelt zu werden. Der Beklagte lehnte jedoch eine Veranlagung zur Einkommensteuer mit der Begründung ab, die angegebenen weiteren Einkünfte überschritten die Obergrenze von 12 000 DM. Der Einspruch des Klägers wurde ebenfalls zurückgewiesen.

13 Der Kläger erhob gegen diesen abschlägigen Bescheid beim Finanzgericht Berlin Klage und berief sich auf den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Er machte geltend, ein unbeschränkt steuerpflichtiger Gebietsansässiger in vergleichbarer Situation müsse wegen des Grundfreibetrags in Höhe von 12 095 DM keine Steuer entrichten.

14 Nach Auffassung des Beklagten würde der Kläger bei Anwendung der Einkommensteuer-Grundtabelle der Progression des deutschen Einkommensteuertarifs entgehen, obwohl die durch das Welteinkommen manifestierte Leistungsfähigkeit die Anwendung eines höheren Steuersatzes gebieten würde. Der Kläger würde auf diese Weise gegenüber unbeschränkt steuerpflichtigen Gebietsansässigen bevorzugt, für die der Steuersatz gemäß § 32b Absatz 1 Nr. 3 EStG 1996 unter Berücksichtigung des Welteinkommens bestimmt werde.

15 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die in § 50a Absatz 4 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 EStG 1996 vorgesehene definitive Besteuerung zum Satz von 25 % mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.

16 Die Befugnis des Wohnsitzstaats aufgrund des Doppelbesteuerungsabkommens, die im Tätigkeitsstaat erzielten Einkünfte in die Besteuerung des restlichen Welteinkommens miteinzubeziehen, könne zu einer zusätzlichen Belastung des Steuerpflichtigen führen, da etwaige Sprünge im Einkommensteuertarif durch den Steuerabzug im Wohnsitzstaat, der sich rein abstrakt nach dem Verhältnis der in Deutschland erzielten Einkünfte zum Welteinkommen des Steuerpflichtigen errechne, nicht völlig ausgeglichen würden.

17 Die definitive Besteuerung des Klägers mit einem Steuersatz von 25 % sei auch nicht durch den Grundsatz der Kohärenz des Steuersystems gerechtfertigt, denn es fehle an dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Steuervorteil - hier der Gewährung des Grundfreibetrags - und der definitiven Besteuerung, wie er in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes gefordert werde.

18 Außerdem führt das vorlegende Gericht aus, die Anwendung eines einheitlichen Steuersatzes von 25 % könne im Einzelfall zu einer krassen Benachteiligung des beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber dem Steuerinländer führen. So habe im Jahr 1996 ein allein stehender Steuerpflichtiger mit Wohnsitz in den Niederlanden und dortigen Nettoeinkünften in Höhe von umgerechnet 12 001 DM sowie Einkünften in Deutschland aus selbständiger künstlerischer Betätigung in Höhe von brutto 100 000 DM bzw. netto 50 001 DM einem definitiven Steuerabzug von 25 000 DM Einkommensteuer zuzüglich des anteiligen Solidaritätszuschlags unterlegen. Dies entspreche - bezogen auf sein Nettoeinkommen in der Bundesrepublik - einem durchschnittlichen Steuersatz von 49,99 %, wie er sonst nur für Spitzenverdiener gelte (der Grenzsteuersatz habe 1996 bei Ledigen 53 % für das oberhalb von 120 042 DM liegende zu versteuernde Einkommen betragen).

19 Hätte sich der Wohnsitz des Steuerpflichtigen in Deutschland befunden und hätte er dort sein Weltnettoeinkommen von 62 002 DM erzielt, so hätte er nach der Grundtabelle nur eine Einkommensteuer in Höhe von 15 123 DM entrichten müssen. In diesem Fall hätte der durchschnittliche Einkommensteuersatz nur 24,4 % betragen, d. h. knapp die Hälfte des in der vorstehenden Randnummer genannten Satzes.

20 Das vorlegende Gericht räumt jedoch ein, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Bestimmungen in einer Vielzahl von Fällen, insbesondere bei hohen inländischen Einkünften und geringen Betriebsausgaben oder Werbungskosten, zu einer tariflichen Begünstigung des dem Steuerabzug unterliegenden beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber dem in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen oder dem nach § 50 EStG 1996 zu veranlagenden beschränkt Steuerpflichtigen führten. Der Kläger gehöre aber nicht zu diesen Begünstigten, da seine Veranlagungsteuer für die im Inland bezogenen Einkünfte im Falle der unbeschränkten Steuerpflicht 0,00 DM betragen würde.

21 Im vorliegenden Fall könne eine Lösung des Rechtskonflikts darin liegen, dem Kläger einen Anspruch auf Einkommensteuerveranlagung mit Anwendung der Grundtabelle, jedoch ohne Berücksichtigung des Grundfreibetrags, zu gewähren, was eine geringfügig niedrigere Einkommensteuer als die festgesetzte ergeben würde. Insoweit stelle sich die Frage, ob geringfügige Besteuerungsunterschiede eine effektive Hürde für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat darstellten.

22 Das Finanzgericht Berlin hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verstößt es gegen Artikel 52 EG-Vertrag, dass nach § 50a Absatz 4 Satz 1 Nummer 1 sowie Satz 2 EStG 1996 ein niederländischer Staatsangehöriger, der in Deutschland steuerpflichtige Nettoeinkünfte aus selbständiger Tätigkeit im Kalenderjahr in Höhe von rund 5 000 DM erzielt, einem Steuerabzug in Höhe von 25 v. H. der (Brutto-) Einnahmen von rund 6 000 DM zuzüglich Solidaritätszuschlag durch den Schuldner der Honorarvergütung unterliegt und er keine Möglichkeit hat, die gezahlten Abgaben im Wege eines Erstattungsantrags oder eines Antrags auf Steuerveranlagung ganz oder teilweise zurückzuerlangen?

Zur Vorlagefrage

23 Vorab ist festzustellen, dass der in den Niederlanden wohnhafte Kläger in Deutschland eine vorübergehende Leistung erbrachte und damit Einkünfte erzielte, über deren Besteuerung vor dem vorlegenden Gericht gestritten wird. Unter diesen Umständen ist, wie der Kläger und die Kommission ausgeführt haben, die Vorlagefrage so zu verstehen, dass sie den freien Dienstleistungsverkehr und nicht die Niederlassungsfreiheit betrifft.

24 Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und Artikel 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der in der Regel zum einen bei Gebietsfremden die Bruttoeinkünfte, ohne Abzug der Betriebsausgaben, besteuert werden, während bei Gebietsansässigen die Nettoeinkünfte, nach Abzug der Betriebsausgaben, besteuert werden, und nach der zum anderen die Einkünfte Gebietsfremder einer definitiven Besteuerung zu einem einheitlichen Steuersatz von 25 % durch Steuerabzug unterliegen, während die Einkünfte Gebietsansässiger nach einem progressiven Steuertarif mit einem Grundfreibetrag besteuert werden.

Zur Abziehbarkeit der Betriebsausgaben

25 Der Kläger und die Kommission tragen vor, während im Fall selbständiger Arbeit eines unbeschränkt Steuerpflichtigen nur der "Gewinn" der Einkommensteuer unterliege und Betriebsausgaben im Allgemeinen nicht in die Besteuerungsgrundlage eingingen, werde im Fall eines beschränkt Steuerpflichtigen die 25%ige Steuer auf die "Einnahmen" erhoben, und die Betriebsausgaben seien nicht abziehbar (es sei denn, sie seien höher als die Hälfte der Einnahmen, in welchem Fall die Steuer erstattet werde, soweit sie 50 % des Unterschiedsbetrags zwischen Einnahmen und Betriebsausgaben übersteige).

26 Der Kläger weist insbesondere auf die schwerwiegenden Folgen für gebietsfremde Künstler auf Tournee in Deutschland hin, die im Allgemeinen hohe Betriebsausgaben hätten.

27 Zunächst ist festzustellen, dass die fraglichen Betriebsausgaben unmittelbar mit der Tätigkeit zusammenhängen, aus der die in Deutschland zu versteuernden Einkünfte erzielt wurden, so dass Gebietsansässige und Gebietsfremde sich insoweit in einer vergleichbaren Situation befinden.

28 Daher besteht die Gefahr, dass sich nationale Rechtsvorschriften, die Gebietsfremden bei der Besteuerung den Abzug von Betriebsausgaben verweigern, der Gebietsansässigen hingegen gewährt wird, hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken und damit zu einer grundsätzlich gegen die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag verstoßenden mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit führen.

29 Da vor dem Gerichtshof keine konkrete Rechtfertigung für eine solche Ungleichbehandlung vorgetragen wurde, ist festzustellen, dass die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, soweit sie für beschränkt Steuerpflichtige die Möglichkeit, von ihren zu versteuernden Einkünften die Betriebsausgaben abzuziehen, ausschließt, während unbeschränkt Steuerpflichtigen diese Möglichkeit zugestanden wird.

Zum Steuerabzug in Höhe von 25 %

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

30 Nach Auffassung des Klägers sind die abgeltende Wirkung der Einkommensbesteuerung durch Steuerabzug und der damit verbundene Ausschluss Gebietsfremder von jeglicher Form der Erstattung zu viel gezahlter Steuern mit Artikel 60 Absatz 3 EG-Vertrag unvereinbar. Insbesondere führe die Nichtberücksichtigung des Grundfreibetrags zu einer gemeinschaftsrechtswidrigen Diskriminierung, da dies auf die Anwendung eines Mindeststeuersatzes hinauslaufe, die der Gerichtshof im Urteil vom 27. Juni 1996 in der Rechtssache C-107/94 (Asscher, Slg. 1996, I-3089, Randnr. 49) abgelehnt habe.

31 Es gebe keinen objektiven Rechtfertigungsgrund für eine solche Ungleichbehandlung von Gebietsansässigen. Insbesondere greife das Argument der Kohärenz des Steuersystems nicht durch, denn es bestehe kein Vorteil, durch den ein steuerlicher Nachteil kompensiert würde, wie es in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes gefordert werde.

32 Der Beklagte und die finnische Regierung machen dagegen geltend, das im Ausgangsverfahren fragliche Steuersystem stehe mit dem Gemeinschaftsrecht im Einklang.

33 Zunächst sei der Steuerabzug ein legitimes und sachgerechtes Mittel, um im Ausland ansässige beschränkt Steuerpflichtige steuerlich zu erfassen.

34 Sodann würde eine uneingeschränkte Anwendung der Grundtabelle im vorliegenden Fall dazu führen, dass keine deutsche Einkommensteuer erhoben würde und dass der Kläger der Progression des deutschen Einkommensteuertarifs entginge, obwohl sein Welteinkommen einen höheren Einkommensteuertarif gebiete. Der beschränkt Steuerpflichtige würde auf diese Weise gegenüber unbeschränkt Steuerpflichtigen bevorzugt, bei denen das Welteinkommen bei der Bemessung des Steuersatzes einzubeziehen sei.

35 Der Beklagte und die finnische Regierung fügen hinzu, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteile vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Randnrn. 31 bis 33, vom 14. September 1999 in der Rechtssache C-391/97, Gschwind, Slg. 1999, I-5451, Randnr. 22, und Asscher, Randnr. 44) falle die Pflicht zur Berücksichtigung persönlicher Verhältnisse eines Steuerpflichtigen grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich des Wohnsitzstaates und nicht den des Staates der Einkunftsquelle, es sei denn, der Wohnsitzstaat könne mangels ausreichender dort zu versteuernder Einkünfte dieser Besteuerungspflicht nicht nachkommen, so dass im wirtschaftlichen Ergebnis letztlich keiner der beiden Staaten der tatsächlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen bei der Veranlagung Rechnung tragen würde.

36 Zweck der Anwendung eines Grundfreibetrags sei der Schutz des Existenzminimums von Steuerpflichtigen mit niedrigem Einkommen; dafür sei grundsätzlich der Wohnsitzstaat zuständig, in dem der Steuerpflichtige in der Regel den größten Teil seines Einkommens erziele. Die deutschen Steuerbehörden berücksichtigten bei beschränkt Steuerpflichtigen das Existenzminimum, da diese, wenn ihre ausländischen Einkünfte unter 12 000 DM lägen, einer Steuerveranlagung nach den allgemeinen Bestimmungen unterlägen.

37 Schließlich entspricht nach Auffassung der finnischen Regierung der Steuersatz von 25 % oft dem tatsächlichen Steuersatz des Betroffenen in seinem Wohnsitzstaat, so dass der fragliche Steuerabzug kein ungewöhnliches Hindernis für die Freizügigkeit darstelle.

38 Die Kommission argumentiert ähnlich. Angesichts der Umstände des vorliegenden Falles sei der Grundfreibetrag außer Betracht zu lassen, also der Satz für die Besteuerung oberhalb des Freibetrags heranzuziehen.

39 Sie schlägt daher vor, die Nettoeinkünfte (A) zu dem Freibetrag (B) hinzuzählen, um eine Gesamtsumme (C) zu bilden. Den Steuerbetrag (D), den die einschlägige Steuertabelle für diese Gesamtsumme (C) ausweise, könne man als angemessene Steuer auf die genannten Nettoeinkünfte (A) ansehen. Der durchschnittliche Steuersatz, der als Referenz für eine nichtdiskriminierende Behandlung gelten könne, ergebe sich dann aus dem Verhältnis zwischen dem Steuerbetrag (D) gemäß der Tabelle und den Nettoeinkünften (A).

40 Im Fall des Klägers stelle sich die Rechnung wie folgt dar: Die Gesamtsumme (C) setze sich aus den Nettoeinkünften (A) in Höhe von 5 039,55 DM und dem Grundfreibetrag (B) von 12 095 DM zusammen, belaufe sich also auf 17 134,55 DM. Die einschlägige Steuertabelle weise für ein solches Einkommen einen Steuerbetrag (D) von 1 337 DM aus. Im Verhältnis zum Nettoeinkommen (A) ergebe sich für diesen Betrag ein durchschnittlicher Steuersatz von 26,5 %, der nahe an dem Steuersatz von 25 % liege, der auf den Kläger angewandt worden sei.

41 Nach Auffassung der Kommission liegt bis zur Höhe dieses Satzes keine Diskriminierung vor. Im vorliegenden Fall sei es daher nicht zu beanstanden, wenn die deutschen Behörden auf beschränkt Steuerpflichtige den einheitlichen Satz von 25 % anwendeten.

42 Sie schließt sich auch hinsichtlich der Anwendung des Grundfreibetrags den Auffassungen des Beklagten und der finnischen Regierung an. Dem Staat, der die umfassende Besteuerung des Betroffenen mit Rücksicht auf dessen gesamtes Weltnettoeinkommen vornehme, stehe es frei, soziale Gesichtspunkte, die einen Grundfreibetrag rechtfertigten, in sein System der Steuerprogression zu integrieren.

Antwort des Gerichtshofes

43 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, befinden sich Gebietsansässige und Gebietsfremde im Hinblick auf die direkten Steuern in einem Staat in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation, denn das Einkommen, das ein Gebietsfremder im Hoheitsgebiet eines Staates erzielt, stellt meist nur einen Teil seiner Gesamteinkünfte dar, deren Schwerpunkt an seinem Wohnort liegt, und die persönliche Steuerkraft des Gebietsfremden, die sich aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergibt, kann am leichtesten an dem Ort beurteilt werden, an dem der Mittelpunkt seiner persönlichen Interessen und seiner Vermögensinteressen liegt; dieser Ort ist in der Regel der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts der betroffenen Person (Urteile Schumacker, Randnrn. 31 und 32, Gschwind, Randnr. 22, und vom 16. Mai 2000 in der Rechtssache C-87/99, Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337, Randnr. 21).

44 Versagt ein Mitgliedstaat Gebietsfremden bestimmte Steuervergünstigungen, die er Gebietsansässigen gewährt, so ist dies in Anbetracht der objektiven Unterschiede zwischen der Situation der Gebietsansässigen und derjenigen der Gebietsfremden sowohl hinsichtlich der Einkunftsquelle als auch hinsichtlich der persönlichen Steuerkraft sowie der persönlichen Lage und des Familienstands im Allgemeinen nicht diskriminierend (Urteile Schumacker, Randnr. 34, und Gschwind, Randnr. 23).

45 Auch das geltende internationale Steuerrecht, und zwar insbesondere das Muster-Doppelbesteuerungsabkommen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, Bericht des Fiskalausschusses der OECD, 1977, Fassung vom 29. April 2000), knüpft für die Aufteilung der Steuerhoheit in Fällen mit Auslandsbeziehungen grundsätzlich an den Wohnsitz an.

46 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass der Kläger, der in den Niederlanden wohnt, im deutschen Hoheitsgebiet nur einen geringen Teil seiner Gesamteinkünfte erzielt.

47 Es stellt sich demnach die Frage, ob der objektive Unterschied zwischen der Situation eines solchen Gebietsfremden und derjenigen eines Gebietsansässigen es erlaubt, eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, nach der die Einkünfte Gebietsfremder zu einem einheitlichen Steuersatz von 25 % durch Steuerabzug endgültig besteuert werden, während die Einkünfte Gebietsansässiger einem progressiven Steuertarif mit einem Grundfreibetrag unterworfen werden, als nicht diskriminierend anzusehen.

48 Was zum einen den Grundfreibetrag angeht, ist es legitim, diese Vergünstigung Personen, die ihr zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen im Besteuerungsstaat erzielt haben, also in der Regel Inländern, vorzubehalten, denn sie dient, wie das Finanzgericht Berlin, die finnische Regierung und die Kommission hervorgehoben haben, einer sozialen Zielsetzung, da sie die Möglichkeit bietet, den Steuerpflichtigen ein von jeder Einkommensbesteuerung freies Existenzminimum zu sichern.

49 Zu beachten ist jedoch, dass ein beschränkt Steuerpflichtiger, der seine Einkünfte im Wesentlichen in Deutschland erzielt hat und eine der beiden oben in Randnummer 7 erwähnten Voraussetzungen erfuellt, nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung genauso wie ein unbeschränkt Steuerpflichtiger besteuert wird, indem seine Einkünfte einem progressiven Steuertarif mit einem Grundfreibetrag unterworfen werden.

50 Dies ist aber beim Kläger nicht der Fall.

51 Die niederländische Regierung hat hierzu auf eine Frage des Gerichtshofes ausgeführt, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens komme dem Steuerpflichtigen in seinem Wohnsitzstaat, den Niederlanden, der Einkommensfreibetrag zugute, der von den Gesamteinkünften abgezogen werde. Dem Kläger würde, mit anderen Worten, eine ähnliche Vergünstigung wie die von ihm in Deutschland beanspruchte in seinem Wohnsitzstaat gewährt, dessen Sache es grundsätzlich ist, die persönliche Lage und den Familienstand des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.

52 Was zum anderen die Besteuerung Gebietsfremder zu einem einheitlichen Steuersatz von 25 % angeht, während Gebietsansässige einem progressiven Steuertarif unterworfen werden, so ist festzustellen, dass die Niederlande, wie die Kommission hervorgehoben hat, gemäß dem Doppelbesteuerungsabkommen als Wohnsitzstaat die Einkünfte, für die Deutschland das Besteuerungsrecht hat, gemäß der Progressionsregel in die Besteuerungsgrundlage einbeziehen. Sie berücksichtigen jedoch die in Deutschland erhobene Steuer, indem sie von der niederländischen Steuer einen Bruchteil abziehen, der dem Verhältnis zwischen den in Deutschland besteuerten Einkünften und den Welteinkünften entspricht.

53 Demnach befinden sich, was die Progressionsregel angeht, Gebietsfremde und Gebietsansässige in einer vergleichbaren Situation, so dass es eine nach dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere Artikel 60 EG-Vertrag, verbotene mittelbare Diskriminierung darstellen würde, wenn auf Gebietsfremde ein höherer Einkommensteuersatz angewandt würde, als er für Gebietsansässige und diesen gleichgestellte Personen gilt (vgl. entsprechend Urteil Asscher, Randnr. 49).

54 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall der auf die Einkünfte des Klägers angewandte Steuersatz von 25 % höher ist als derjenige, der sich bei Anwendung des progressiven Steuertarifs ergeben würde. Um vergleichbare Situationen zu vergleichen, ist hier, wie die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, zu den in Deutschland erzielten Nettoeinkünften des Betroffenen ein Betrag in Höhe des Grundfreibetrags hinzuzuzählen. Nach der Berechnung der Kommission würde die Anwendung des progressiven Steuertarifs in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens zu einem Steuersatz von 26,5 %, also einem höheren als dem tatsächlich angewandten Satz, führen.

55 Nach alledem ist dem Finanzgericht Berlin wie folgt zu antworten:

- Die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag stehen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegen, nach der in der Regel bei Gebietsfremden die Bruttoeinkünfte, ohne Abzug der Betriebsausgaben, besteuert werden, während bei Gebietsansässigen die Nettoeinkünfte, nach Abzug der Betriebsausgaben, besteuert werden.

- Dagegen stehen diese Artikel des EG-Vertrags einer solchen nationalen Regelung nicht entgegen, soweit nach ihr in der Regel die Einkünfte Gebietsfremder einer definitiven Besteuerung zu einem einheitlichen Steuersatz von 25 % durch Steuerabzug unterliegen, während die Einkünfte Gebietsansässiger nach einem progressiven Steuertarif mit einem Grundfreibetrag besteuert werden, sofern der Steuersatz von 25 % nicht höher ist als der Steuersatz, der sich für den Betroffenen tatsächlich aus der Anwendung des progressiven Steuertarifs auf die Nettoeinkünfte zuzüglich eines Betrages in Höhe des Grundfreibetrags ergeben würde.

Kostenentscheidung:

Kosten

56 Die Auslagen der finnischen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Finanzgericht Berlin mit Beschluss vom 28. Mai 2001 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

1. Die Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) stehen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegen, nach der in der Regel bei Gebietsfremden die Bruttoeinkünfte, ohne Abzug der Betriebsausgaben, besteuert werden, während bei Gebietsansässigen die Nettoeinkünfte, nach Abzug der Betriebsausgaben, besteuert werden.

2. Dagegen stehen diese Artikel des EG-Vertrags einer solchen nationalen Regelung nicht entgegen, soweit nach ihr in der Regel die Einkünfte Gebietsfremder einer definitiven Besteuerung zu einem einheitlichen Steuersatz von 25 % durch Steuerabzug unterliegen, während die Einkünfte Gebietsansässiger nach einem progressiven Steuertarif mit einem Grundfreibetrag besteuert werden, sofern der Steuersatz von 25 % nicht höher ist als der Steuersatz, der sich für den Betroffenen tatsächlich aus der Anwendung des progressiven Steuertarifs auf die Nettoeinkünfte zuzüglich eines Betrages in Höhe des Grundfreibetrags ergeben würde.

Ende der Entscheidung

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