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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.09.1996
Aktenzeichen: C-236/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 169
EG-Vertrag Art. 5
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Auf dem Gebiet der Umsetzung von Richtlinien ist es für die Erfuellung des Erfordernisses der Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung, daß die Rechtslage für den einzelnen hinreichend bestimmt und klar ist und ihn in die Lage versetzt, von allen seinen Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.

Dies ist nicht der Fall, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats nationale Rechtsvorschriften im Einklang mit der Richtlinie 89/665 des Rates betreffend die Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge auslegt und darin ein ausreichendes System des vorläufigen Rechtsschutzes im Sinne der Richtlinie sieht, obwohl diese Rechtsvorschriften die in Artikel 2 der Richtlinie enthaltenen Anforderungen betreffend die Befugnis der Nachprüfungsinstanzen der Mitgliedstaaten, unabhängig von einer vorherigen Klageerhebung vorläufige Maßnahmen auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge zu erlassen, nicht ordnungsgemäß umsetzen.

2. Soweit Privatpersonen im Rahmen der Vergabe von Aufträgen, die unter die Richtlinie 89/665 des Rates betreffend die Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge fallen, die Aufgaben der Vergabebehörden übertragen werden können, genügt die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit und Mitwirkung, die den Mitgliedstaaten nach Artikel 5 des Vertrages obliegt, um der Kommission die Erfuellung ihrer Aufgabe zu erleichtern, nicht, um eine Durchführung von Artikel 3 der Richtlinie zu gewährleisten, der ein Verfahren für das Tätigwerden der Kommission gegenüber den zuständigen Stellen des betreffenden Mitgliedstaats und des betreffenden öffentlichen Auftraggebers in Fällen regelt, in denen bei einem Vergabeverfahren ein klarer und eindeutiger Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 19. September 1996. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Griechenland. - Vertragsverletzung - Nichtumsetzung der Richtlinie 89/665/EWG innerhalb der vorgeschriebenen Frist - Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge. - Rechtssache C-236/95.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission hat mit Klageschrift, die am 6. Juli 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Griechische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag und aus der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) verstossen hat, indem sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen bzw. der Kommission mitgeteilt hat, um dieser Richtlinie vollständig nachzukommen.

2 Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie sieht vor, daß die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, daß hinsichtlich der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und vor allem möglichst rasch auf Verstösse gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können. Nach Artikel 1 Absatz 3 haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, daß das eingeführte Nachprüfungsverfahren zumindest jedem zur Verfügung steht, der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Liefer- oder Bauauftrag hat oder hatte und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.

3 Nach Artikel 2 der Richtlinie müssen die Nachprüfungsinstanzen ermächtigt werden, vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, um ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags oder die Durchführung jeder sonstigen Entscheidung der öffentlichen Auftraggeber auszusetzen, rechtswidrige Entscheidungen aufzuheben und diejenigen, die durch einen Rechtsverstoß geschädigt worden sind, zu entschädigen.

4 Ausserdem kann die Kommission, wenn sie zu der Auffassung gelangt, daß bei einem Vergabeverfahren ein klarer und eindeutiger Verstoß vorliegt, nach Artikel 3 der Richtlinie bei der zuständigen Stelle des betreffenden Mitgliedstaats und der betreffenden Vergabebehörde mit dem Ziel tätig werden, daß ein behaupteter Verstoß umgehend behoben wird.

5 Schließlich verpflichtet Artikel 5 der Richtlinie die Mitgliedstaaten, vor dem 21. Dezember 1991 die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um dieser Richtlinie nachzukommen, und der Kommission die wichtigsten innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften mitzuteilen, die sie auf dem unter die Richtlinie fallenden Gebiet erlassen.

6 Da die Kommission keine Mitteilung über die getroffenen Maßnahmen erhalten hatte und über keine anderen Informationen verfügte, aus denen sich ergeben hätte, daß die Griechische Republik ihren Verpflichtungen nachgekommen wäre, forderte sie diese am 20. Mai 1992 schriftlich zur Äusserung auf. Mit Schreiben vom 17. Juni 1993 teilte die griechische Regierung der Kommission mit, daß am 15. Januar 1993 das Präsidialdekret Nr. 23 zur Umsetzung der Richtlinie im Hinblick auf öffentliche Bauaufträge erlassen worden sei. Da im Bereich der öffentlichen Lieferaufträge keine Maßnahmen getroffen worden waren, gab die Kommission am 4. Juli 1994 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Mit Schreiben vom 18. August 1994 teilte die griechische Regierung der Kommission mit, daß ein Präsidialdekret zur Umsetzung in Vorbereitung sei. Daraufhin hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

7 Vorab ist festzustellen, daß die Klage sich, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, nur auf die Nichtumsetzung derjenigen Vorschriften der Richtlinie bezieht, die die Vergabe öffentlicher Lieferaufträge betreffen.

8 Die griechische Regierung räumt ein, daß sie nicht innerhalb der gesetzten Frist die zur förmlichen Umsetzung der Richtlinie im Bereich der öffentlichen Lieferaufträge erforderlichen Maßnahmen erlassen hat. Sie trägt jedoch vor, die geltenden griechischen Rechtsvorschriften betreffend die Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in Verbindung mit den Vorschriften der Zivil- und Verwaltungsprozessordnung sowie der Satzung des Staatsrats, und zwar insbesondere mit Artikel 52 des Präsidialdekrets Nr. 18/89 mit dem Titel "Kodifizierung der Rechtsvorschriften über den Staatsrat", böten bereits einen den Anforderungen der Richtlinie genügenden Rechtsschutz, der durch die jüngsten Entwicklungen in der Rechtsprechung des Staatsrats noch verstärkt worden sei. Im übrigen sei ein Präsidialdekret ausgearbeitet und der Kommission am 22. Juli 1994 mitgeteilt worden, das sich im Stadium der endgültigen Unterzeichnung befinde. Die seither eingetretene Verzögerung bei der Annahme des Entwurfs sei auf formale und prozedurale Schwierigkeiten sowie auf die jüngste Entwicklung in der Rechtsprechung der Abteilung für Verwaltungsrechtsstreitigkeiten des Staatsrats zurückzuführen.

9 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

10 Hinsichtlich der in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie vorgesehenen Aussetzung der Vergabeverfahren ist nämlich festzustellen, daß die angeführten nationalen Rechtsvorschriften, insbesondere Artikel 52 des Präsidialdekrets Nr. 18/89, allgemeine Bestimmungen über das Verfahren zur Aussetzung des Vollzugs eines Verwaltungsakts, gegen den Anfechtungsklage erhoben ist, darstellen, die für sich allein genommen eine ordnungsgemässe Umsetzung der Richtlinie nicht gewährleisten können.

11 Insoweit genügt die Feststellung, daß Artikel 52 des Präsidialdekrets Nr. 18/89 sich nur auf Verfahren zur Aussetzung des Vollzugs bezieht und voraussetzt, daß eine Klage auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts anhängig ist, wogegen die Mitgliedstaaten nach Artikel 2 der Richtlinie ihren Nachprüfungsinstanzen ganz allgemein die Befugnis übertragen müssen, unabhängig von einer vorherigen Klageerhebung vorläufige Maßnahmen zu erlassen, einschließlich von "Maßnahmen, um das Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags auszusetzen oder die Aussetzung zu veranlassen".

12 Gewiß legt der Staatsrat Artikel 52 des Präsidialdekrets richtlinienkonform aus und sieht darin ein ausreichendes System des vorläufigen Rechtsschutzes im Sinne der Richtlinie.

13 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist es jedoch für die Erfuellung des Erfordernisses der Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung, daß die Rechtslage für den einzelnen hinreichend bestimmt und klar ist und ihn in die Lage versetzt, von allen seinen Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (siehe z. B. die Urteile vom 23. Mai 1985 in der Rechtssache 29/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 1661, Randnr. 23, vom 9. April 1987 in der Rechtssache 363/85, Kommission/Italien, Slg. 1987, 1733, Randnr. 7, und vom 30. Mai 1991 in der Rechtssache C-59/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-2607, Randnr. 18).

14 In Anbetracht des Wortlauts von Artikel 52 des Präsidialdekrets, der den vorläufigen Rechtsschutz ganz auf Verfahren zur Aussetzung des Vollzugs eines Verwaltungsakts beschränkt, gegen den Anfechtungsklage erhoben wurde, ist eine Rechtsprechung wie diejenige des Staatsrats jedenfalls nicht geeignet, derartige Rechtssicherheitserfordernisse zu erfuellen.

15 Im übrigen enthält die angeführte nationale Regelung nichts zu der in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie vorgesehenen Entschädigung der durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, geschädigten Personen.

16 Die angeführte nationale Regelung setzt auch nicht Artikel 3 der Richtlinie um, der das Verfahren für das Tätigwerden der Kommission gegenüber den zuständigen Stellen des betreffenden Mitgliedstaats oder des betreffenden öffentlichen Auftraggebers in Fällen regelt, in denen diese zu der Auffassung gelangt, daß bei einem Vergabeverfahren ein klarer und eindeutiger Verstoß vorliegt.

17 Sodann ist zu berücksichtigen, daß Privatpersonen und insbesondere Unternehmen, die öffentliche Gelder erhalten, im Rahmen der Vergabe von Aufträgen, die unter die Richtlinie fallen, unter bestimmten Voraussetzungen die Aufgaben der Vergabebehörden übertragen werden können. Insoweit genügt die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit und Mitwirkung, die den Mitgliedstaaten nach Artikel 5 EG-Vertrag obliegt, um der Kommission die Erfuellung ihrer Aufgabe zu erleichtern, nicht, um eine Durchführung von Artikel 3 der Richtlinie zu gewährleisten. Es obliegt daher den Mitgliedstaaten, diese Vorschrift durchzuführen, um auch ihre Beachtung durch diese Privatpersonen sicherzustellen.

18 Was schließlich die formalen und prozeduralen Schwierigkeiten angeht, auf die sich die Griechische Republik berufen hat, um die bei der Verabschiedung dieses Dekretentwurfs eingetretene Verzögerung zu rechtfertigen, ist festzustellen, daß ° wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat ° ein Mitgliedstaat sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen (siehe u. a. Urteile vom 6. April 1995 in der Rechtssache C-147/94, Kommission/Spanien, Slg. 1995, I-1015, Randnr. 5, vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C-259/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1947, Randnr. 5, und vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C-253/95, Kommission/Deutschland, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 12).

19 Folglich ist festzustellen, daß die Griechische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 5 der Richtlinie verstossen hat, indem sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um dieser Richtlinie vollständig nachzukommen.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Griechische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Griechische Republik hat gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 5 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge verstossen, indem sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um dieser Richtlinie vollständig nachzukommen.

2. Die Griechische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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