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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.03.1996
Aktenzeichen: C-238/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, EWG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 57 Abs. 2
EWG-Vertrag Art. 66
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239 und 88/357 ist so auszulegen, daß Systeme der sozialen Sicherheit wie die gesetzlichen Systeme der französischen sozialen Sicherheit, zu denen die Kranken- und Mutterschaftsversicherung der Selbständigen nichtlandwirtschaftlicher Berufe, die Rentenversicherung der handwerklichen Berufe und die Rentenversicherung der Berufe in Industrie und Handel gehören, vom Geltungsbereich der Richtlinie 92/49 ausgeschlossen sind. Diese Vorschrift bestimmt nämlich eindeutig, daß sie vom Geltungsbereich der Richtlinie nicht nur die Träger der sozialen Sicherheit ausschließt, sondern auch die Versicherungen und Geschäftsvorgänge, mit denen sich diese in diesem Zusammenhang befassen. Ferner haben die Mitgliedstaaten die Befugnis behalten, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten und somit Pflichtsysteme einzurichten, die auf dem Solidaritätsgrundsatz beruhen und die nicht fortbestehen könnten, wenn die Richtlinie, die die Beseitigung der Versicherungspflicht beinhaltet, auf sie angewandt werden müsste.


Urteil des Gerichtshofes vom 26. März 1996. - José García e.a. gegen Mutuelle de prévoyance sociale d'Aquitaine e.a.. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal des affaires de sécurité sociale de Tarn-et-Garonne - Frankreich. - Schadenversicherung - Richtlinie 92/49/EWG des Rates - Geltungsbereich. - Rechtssache C-238/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal des affaires de sécurité sociale du Tarn-et-Garonne hat mit Urteil vom 7. Juni 1994, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 22. August 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) (ABl. L 228, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in verschiedenen Widerspruchsverfahren gegen Vollstreckungsanordnungen, die mehrere Sozialversicherungskassen den Klägern des Ausgangsverfahrens zur Beitreibung nicht entrichteter Beiträge zugestellt hatten.

3 Bei den in Rede stehenden Systemen der sozialen Sicherheit handelt es sich um die Kranken- und Mutterschaftsversicherung der Selbständigen nichtlandwirtschaftlicher Berufe, die Rentenversicherung der handwerklichen Berufe und die Rentenversicherung der Berufe in Industrie und Handel.

4 Nach Ansicht der Kläger des Ausgangsverfahrens ist das durch die französischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung eingeführte Monopol mit der Gemeinschaftsregelung, genauer, mit der Richtlinie 92/49, unvereinbar.

5 Das vorlegende Gericht stellt fest, daß die Richtlinie 92/49 nach ihrem Artikel 2 Absatz 2 "weder auf Versicherungen und Geschäftsvorgänge noch auf Unternehmen und Institutionen, auf die die Richtlinie 73/239/EWG keine Anwendung findet, noch auf die in Artikel 4 derselben Richtlinie genannten Anstalten anwendbar [ist]". Jedoch betrifft gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe d der Ersten Richtlinie des Rates 73/239/EWG vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) (ABl. L 228, S. 3) diese Richtlinie nicht "die Versicherungen im Rahmen eines gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit".

6 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob unter Berücksichtigung bestimmter Begründungserwägungen der Richtlinie 92/49 deren Artikel 2 Absatz 2 nicht so auszulegen ist, daß er nur die Strukturen der Systeme der sozialen Sicherheit betrifft, während der Inhalt dieser Systeme, also die Versicherung gegen die in Rede stehenden Risiken (Alter, Krankheit und Invalidität), weiterhin der Richtlinie unterliegt und daher dem in den französischen Rechtsvorschriften verankerten Monopol entzogen ist.

7 Hierfür beruft sich das nationale Gericht auf die 1., 3., 10., 15., 20., 22. und 23. Begründungserwägung, die wie folgt lauten:

"(1) Der Binnenmarkt in der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) muß unter dem doppelten Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs vollendet werden, um es den Versicherungsunternehmen mit Sitz in der Gemeinschaft zu erleichtern, in der Gemeinschaft belegene Risiken zu decken.

(3) Die Richtlinie 88/357/EWG stellt folglich einen bedeutenden Abschnitt bei der Verschmelzung der einzelstaatlichen Märkte zu einem einheitlichen Binnenmarkt dar: dieser Abschnitt muß durch weitere Gemeinschaftsinstrumente ergänzt werden, damit es allen Versicherungsnehmern, unabhängig von ihrer Eigenschaft, ihrer Bedeutung oder der Art der zu deckenden Risiken ermöglicht wird, jeden Versicherer mit Sitz in der Gemeinschaft zu wählen, der in ihr seine Geschäftstätigkeit im Rahmen der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit ausübt, wobei ihnen gleichzeitig ein angemessener Schutz zu gewährleisten ist.

(10) Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen und beeinhaltet den Zugang zu allen Versicherungstätigkeiten ° mit Ausnahme der Lebensversicherung ° in der ganzen Gemeinschaft und damit die Möglichkeit für jeden zugelassenen Versicherer, jedes im Anhang zur Richtlinie 73/239/EWG genannte Risiko zu decken. Deshalb müssen Monopole gewisser Anstalten, die in einigen Mitgliedstaaten bestimmte Risiken decken, aufgehoben werden.

(15) In Erwartung einer Richtlinie über Wertpapierdienstleistungen, durch die unter anderem die Definition des Begriffs 'geregelter Markt' harmonisiert wird, muß dieser Begriff für die Zwecke der vorliegenden Richtlinie unbeschadet der künftigen Harmonisierung vorläufig definiert werden; diese vorläufige Definition wird durch die auf Gemeinschaftsebene harmonisierte Definition ersetzt werden, aufgrund deren die einschlägigen Befugnisse, die durch die vorliegende Richtlinie vorübergehend dem Herkunftsmitgliedstaat des Versicherungsunternehmens übertragen werden, an den Herkunftsmitgliedstaat des Marktes übergehen.

(20) Die Mitgliedstaaten müssen in der Lage sein, darauf zu achten, daß die angebotenen Versicherungsleistungen und die zur Versicherung der auf ihrem Staatsgebiet belegenen Risiken verwendeten Vertragsdokumente den besonderen gesetzlichen und zum Schutz des Allgemeininteresses erlassenen Vorschriften entsprechen, wobei es gleichgültig ist, ob die betreffenden Versicherungsgeschäfte im Rahmen der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit getätigt werden. Die hierfür angewandten Aufsichtssysteme müssen im Sinne des Binnenmarktes ausgestaltet werden, aber keine Vorbedingung für die Ausübung der Versicherungstätigkeit darstellen. In dieser Hinsicht erscheinen Systeme der Vorabgenehmigung von Versicherungsbedingungen nicht gerechtfertigt. Es ist folglich angebracht, andere Systeme vorzusehen, die den Erfordernissen des Binnenmarktes besser entsprechen und es den Mitgliedstaaten trotzdem erlauben, einen angemessenen Schutz der Versicherungsnehmer zu gewährleisten.

(22) In einigen Mitgliedstaaten tritt die private oder freiwillige Krankenversicherung ganz oder teilweise an die Stelle des durch die Sozialversicherungssysteme gebotenen Schutzes im Krankheitsfall.

(23) Die Art und die soziale Wirkung der Krankenversicherungsverträge rechtfertigen es, daß die Behörden des Mitgliedstaats, in dem das Risiko belegen ist, eine systematische Mitteilung der allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen verlangen können, um zu prüfen, ob diese Verträge ganz oder teilweise den Schutz ersetzen können, der durch das Sozialversicherungssystem gewährt wird. Eine solche Überprüfung soll aber keine Vorbedingung für den Vertrieb des Produkts sein. Die besondere Art der Krankenversicherung, die ganz oder teilweise an die Stelle des durch das Sozialversicherungssystem gebotenen Schutzes im Krankheitsfall tritt, unterscheidet sie von anderen Zweigen der Schadensversicherung und der Lebensversicherung insofern, als sicherzustellen ist, daß die Versicherungsnehmer unabhängig von ihrem Alter oder Risikoprofil tatsächlich eine private oder freiwillige Krankenversicherung in Anspruch nehmen können."

8 Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Betrifft Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie der Europäischen Gemeinschaften vom 18. Juni 1992 teilweise oder ganz die eigentliche Materie, die Gegenstand der Anwendung des in Frankreich bestehenden gesetzlichen Systems der sozialen Sicherheit ist?

9 Es ist festzustellen, daß es keinen Anhaltspunkt gibt, der es erlauben würde, Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49 so auszulegen, daß die Deckung der Risiken, die von den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Systemen der sozialen Sicherheit erfasst werden, in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt.

10 Diese Vorschrift bestimmt nämlich eindeutig, daß sie vom Geltungsbereich der Richtlinie nicht nur die Träger der sozialen Sicherheit ("Unternehmen und Institutionen") ausschließt, sondern auch die Versicherungen und Geschäftsvorgänge, mit denen sich diese in diesem Zusammenhang befassen.

11 Unter Berücksichtigung des klaren und präzisen Wortlauts von Artikel 2 Absatz 2 brauchen die Begründungserwägungen der Richtlinie 92/49 nicht zum Zweck der Bestimmung des Gegenstands oder der Tragweite dieser Bestimmung geprüft zu werden.

12 Jedenfalls ist, was insbesondere die 10., 22. und 23. Begründungserwägung angeht, zum einen darauf hinzuweisen, daß die Aufhebung der Monopole im Sinne der 10. Begründungserwägung nur diejenigen Monopole betrifft, deren Tätigkeiten von der Richtlinie 92/49 erfasst werden und die Unternehmen im Sinne der Artikel 85, 86 und 90 EG-Vertrag darstellen, und zum anderen, daß in den Mitgliedstaaten zwei Krankenversicherungssysteme bestehen bleiben, nämlich ein privates, auf das sich die 20. und 23. Begründungserwägung beziehen, und ein anderes, das den Charakter eines Systems der sozialen Sicherheit hat, das vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen ist.

13 Im übrigen konnte, wie der Generalanwalt in Nummer 9 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, die Richtlinie 92/49, die auf die Artikel 57 Absatz 2 und 66 EWG-Vertrag gestützt ist, den Bereich der sozialen Sicherheit nicht regeln, der anderen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unterliegt.

14 Schließlich erfordern, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Februar 1993 in den Rechtssachen C-159/91 und C-160/91 (Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Randnr. 13) ausgeführt hat, Systeme der sozialen Sicherheit, die, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, auf dem Solidaritätsgrundsatz beruhen, die Versicherungspflicht, damit die Anwendung dieses Grundsatzes sowie das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme gewährleistet sind. Wäre Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49 im Sinne der Ausführungen des nationalen Gerichts auszulegen, so würde die Versicherungspflicht beseitigt und dementsprechend der Fortbestand der betreffenden Systeme unmöglich gemacht.

15 Wie der Gerichtshof ebenfalls ausgeführt hat, behalten die Mitgliedstaaten die Befugnis, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten (vgl. Urteile Poucet und Pistre, a. a. O., Randnr. 6, und vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 238/82, Duphar u. a., Slg. 1984, 523, Randnr. 16).

16 Daher ist dem nationalen Gericht zu antworten, daß Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49 so auszulegen ist, daß Systeme der sozialen Sicherheit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vom Geltungsbereich der Richtlinie 92/49 ausgeschlossen sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der französischen, der deutschen, der spanischen, der niederländischen und der finnischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunal des affaires de sécurité sociale du Tarn-et-Garonne mit Urteil vom 7. Juni 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung) ist so auszulegen, daß Systeme der sozialen Sicherheit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vom Geltungsbereich der Richtlinie 92/49 ausgeschlossen sind.

Ende der Entscheidung

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