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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 22.03.2002
Aktenzeichen: C-24/02
Rechtsgebiete: EGV, Verfahrensordnung, Brüsseler Übereinkommen, Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof in der Fassung der Beitrittsübereinkommen, Verordnung (EG) Nr. 44/2001


Vorschriften:

EGV Art. 234
Verfahrensordnung Art. 92 § 1
Brüsseler Übereinkommen
Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof in der Fassung der Beitrittsübereinkommen
Verordnung (EG) Nr. 44/2001
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Beschluss des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 22. März 2002. - Marseille Fret SA gegen Seatrano Shipping Company Ltd. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de commerce de Marseille - Frankreich. - Brüsseler Übereinkommen - Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof - Verordnung (EG) Nr. 44/2001 - Nationale Gerichte, die den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersuchen können - Offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofes. - Rechtssache C-24/02.

Parteien:

In der Rechtssache C-24/02

betreffend ein dem Gerichtshof vom Tribunal de commerce Marseille (Frankreich) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Marseille Fret SA

gegen

Seatrano Shipping Company Ltd

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1), des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) und des Übereinkommens vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl. 1997, C 15, S. 1) sowie der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter) sowie der Richter M. Wathelet und A. Rosas,

Generalanwalt: L. A. Geelhoed

Kanzler: R. Grass

nach Anhörung des Generalanwalts,

folgenden

Beschluss

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de commerce Marseille hat mit Urteil vom 22. Januar 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2002, vier Fragen nach der Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1), des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) und des Übereinkommens vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl. 1997, C 15, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen und Beitrittsübereinkommen) sowie der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Marseille Fret SA (im Folgenden: Marseille Fret) mit Sitz in Marseille und der Seatrano Shipping Company Ltd (im Folgenden: Seatrano Shipping) mit Sitz in Limassol (Zypern).

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

3 Am 6. November 2000 erhob Marseille Fret gegen Seatrano Shipping beim Tribunal de commerce Marseille Klage auf Ersatz des finanziellen Schadens, der ihr durch die Schädigungsabsicht entstanden sei, die Seatrano Shipping im Rahmen eines früheren Rechtsstreits, der im Oktober 1999 zu einem Zwischenurteil eines Schiedsgerichts in London (Vereinigtes Königreich) führte, bekundet habe.

4 Am 20. März 2001 erließ der High Court of Justice (Vereinigtes Königreich) auf Antrag von Seatrano Shipping eine Anti-suit injunction", mit der er Marseille Fret unter Androhung von Sanktionen im Vereinigten Königreich aufgab, die beim Tribunal de commerce Marseille erhobene Klage zurückzunehmen.

5 Marseille Fret beschloss daraufhin, ihre Klage zurückzunehmen. Dem widersetzte sich Seatrano Shipping und beantragte im Wege der Widerklage Schadensersatz wegen Verfahrensmissbrauchs.

6 Unter diesen Umständen hat das Tribunal de commerce Marseille unter Berufung auf Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Erlaubt es das Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968, das in die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2001 aufgenommen wurde, durch die Bestimmungen seines Titels II dem Gericht eines Mitgliedstaats, einem Staatsangehörigen eines anderen Vertragsstaats zu untersagen, die Gerichte seines Staates anzurufen, und zwar in Bezug auf sein nationales Recht wie in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht?

2. Kann ein englisches Gericht mit dem Verfahren der Anti-suit injunction" einen wie auch immer gearteten Zugang zu einem anderen Gericht in der Gemeinschaft verwehren, das aber nach dem Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968, das in die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 aufgenommen wurde, zuständig sein könnte?

3. Kann ein englisches Gericht mit diesem Verfahren den anderen Gerichten in der Gemeinschaft die Befugnis verwehren, über ihre eigene Zuständigkeit zu entscheiden, obwohl sich diese Befugnis anscheinend aus den Bestimmungen des Kapitels II der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 ergibt?

4. Ist es mit dem fundamentalen Rechtsgrundsatz des Zugangs zu den Gerichten, wie er vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geschützt wird, vereinbar, wenn ein Gemeinschaftsangehöriger unter Androhung von in dem englischen Verfahren der Anti-suit injunction" vorgesehen Strafmaßnahmen gezwungen wird, eine bereits bei einem französischen Gericht erhobene selbständige Klage zurückzunehmen?

Zuständigkeit des Gerichtshofes

7 Ist der Gerichtshof für eine Klage offensichtlich unzuständig oder ist eine Klage offensichtlich unzulässig, so kann er gemäß Artikel 92 § 1 der Verfahrensordnung nach Anhörung des Generalanwalts, ohne das Verfahren fortzusetzen, durch Beschluss entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist.

8 Zunächst ist festzustellen, dass die vier dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zwar unterschiedlich formuliert sind, aber denselben Gegenstand haben. Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht nämlich im Wesentlichen wissen, welche Wirkungen die vom High Court of Justice erlassene Anti-suit injunction" nach dem Übereinkommen und der Verordnung Nr. 44/2001 im Rahmen des bei ihm anhängigen Verfahrens haben kann.

9 Die Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Auslegung des Übereinkommens ist im Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof (ABl. 1975, L 204, S. 28) in der Fassung der Beitrittsübereinkommen (im Folgenden: Protokoll) geregelt.

10 Im Unterschied zu Artikel 234 EG, der hier nicht anwendbar ist, behält das Protokoll bestimmten, in Artikel 2 aufgeführten Gerichten die Befugnis vor, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Übereinkommens zur Vorabentscheidung vorzulegen, so dass unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen ist, ob der Gerichtshof für die Beantwortung der vorgelegten Fragen zuständig ist.

11 Artikel 2 Nummern 1 und 3 des Protokolls zählt ausdrücklich und abschließend - Nummer 1 direkt und Nummer 3 durch Verweisung auf Artikel 37 des Übereinkommens - die Gerichte auf, die den Gerichtshof anrufen können. Nummer 2 fügt hinzu, dass dazu auch die Gerichte der Vertragsstaaten befugt sind, sofern sie als Rechtsmittelinstanz entscheiden.

12 Die französischen Tribunaux de commerce sind weder in Artikel 2 Nummer 1 des Protokolls noch in Artikel 37 des Übereinkommens erwähnt. Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich im Übrigen, dass das Vorlageurteil im Rahmen eines erstinstanzlichen Verfahrens erlassen wurde.

13 Daraus folgt, dass das Tribunal de commerce Marseille im Ausgangsverfahren nicht befugt ist, den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung des Übereinkommens zu ersuchen.

14 In Bezug auf die Verordnung Nr. 44/2001 genügt der Hinweis, dass sie erst am 1. März 2002, also nach Verkündung des Vorlageurteils, in Kraft getreten ist. Zudem ist zu bemerken, dass diese Verordnung auf der Grundlage des Artikels 61 Buchstabe c EG erlassen wurde und aus Artikel 68 Absatz 1 EG hervorgeht, dass nur die Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung dieser Verordnung ersuchen können.

15 Unter diesen Umständen ist gemäß Artikel 92 § 1 der Verfahrensordnung festzustellen, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über die ihm vom Tribunal de commerce Marseille vorgelegten Fragen offensichtlich unzuständig ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

beschlossen:

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist für die Beantwortung der ihm vom Tribunal de commerce Marseille mit Urteil vom 22. Januar 2002 vorgelegten Fragen offensichtlich unzuständig.

Ende der Entscheidung

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