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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.07.1992
Aktenzeichen: C-243/91
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

Verordnung Nr. 1408/71/EWG Art. 2 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 2 und 3 der Verordnung Nr. 1408/71 sind dahin auszulegen, daß sich ein Staatsangehöriger eines Drittstaats, der Ehegatte eines die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzenden Arbeitnehmers ist, nicht auf sie berufen kann, um Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe für Behinderte zu erheben, die in den nationalen Rechtsvorschriften als eigener, nicht durch die Eigenschaft als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers begründeter Anspruch vorgesehen ist.

Den Familienangehörigen eines Arbeitnehmers stehen nämlich aufgrund dieser Verordnung nur abgeleitete Rechte zu, das heisst solche, die sie als Familienangehörige eines Arbeitnehmers erworben haben.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 8. JULI 1992. - BELGISCHER STAAT (MINISTRE DES AFFAIRES SOCIALES) GEGEN NOUSHIN TAGHAVI. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT - LEISTUNGEN FUER BEHINDERTE - EIGENES RECHT - FREIZUEGIGKEIT DER ARBEITNEHMER - SOZIALE VERGUENSTIGUNG. - RECHTSSACHE C-243/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die belgische Cour de cassation hat mit Urteil vom 9. September 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 20. September 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 2 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der geänderten und aktualisierten Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) vorgelegt.

2 Diese Frage stellte sich in einem Verfahren über ein vom belgischen Staat eingelegtes Rechtsmittel gegen ein Urteil der Cour du travail Brüssel, mit dem der Anspruch von Frau Taghavi auf Beihilfe für Behinderte nach dem belgischen Gesetz vom 27. Juni 1969 bestätigt wurde.

3 Dieses Gesetz beschränkte den Anspruch auf diese Beihilfe grundsätzlich auf belgische Staatsangehörige, die in Belgien wohnhaft waren.

4 Frau Noushin Taghavi, die die iranische Staatsangehörigkeit besitzt, ist mit Herrn Filippo Iannino, der italienischer Staatsangehöriger ist, verheiratet. Das Ehepaar wohnt in Belgien.

5 Die Cour de cassation hält zur Entscheidung des Rechtsstreits die Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 für erforderlich und hat das Verfahren ausgesetzt, um dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Artikel 2 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin auszulegen, daß die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die einen eigenen, rechtlich geschützten Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe für Behinderte vorsehen, zugunsten eines Behinderten anzuwenden sind, der zwar nicht Angehöriger eines der Mitgliedstaaten ist und auch nicht geltend macht, Arbeitnehmer zu sein, der aber im Gebiet des Mitgliedstaats wohnt, der den genannten eigenen Anspruch vorsieht, und Ehegatte eines Arbeitnehmers ist, der den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt und Angehöriger eines der anderen Mitgliedstaaten ist?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und der Vorgeschichte des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 gilt diese "für Arbeitnehmer..., für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind..., sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene". Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 23. November 1976 in der Rechtssache 40/76 (Kermaschek, Slg. 1976, 1669) festgestellt hat, stehen den Familienangehörigen eines Arbeitnehmers gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 nur abgeleitete Rechte zu, das heisst solche, die sie als Familienangehörige eines Arbeitnehmers erworben haben.

8 Aus den Akten geht hervor, daß die im belgischen Gesetz vom 27. Juni 1969 vorgesehene Beihilfe für Behinderte nicht aufgrund der Eigenschaft als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers gewährt wird. Zum einen wurde sie nämlich vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen als eigenes Recht qualifiziert. Zum anderen hat der belgische Staat auf die Frage des Gerichtshofes erklärt, daß eine Person, die alle im Gesetz von 1969 vorgesehenen Voraussetzungen erfuelle, jedoch nicht Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft sei, nicht allein aufgrund der Tatsache, daß ihr Ehegatte die belgische Staatsangehörigkeit besitze, Anspruch auf Beihilfe erheben könne.

9 Daraus ergibt sich, daß ein Staatsangehöriger eines Drittstaats, der Ehegatte eines Arbeitnehmers ist, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, sich nicht auf die Verordnung Nr. 1408/71, insbesondere Artikel 2 und 3, berufen kann, um einen Anspruch auf Beihilfe für Behinderte, wie sie im genannten belgischen Gesetz vorgesehen ist, geltend zu machen.

10 Die Kommission hat jedoch in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen geltend gemacht, die in Frage stehende Beihilfe sei eine "soziale Vergünstigung" im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2); eine Person in der Lage von Frau Taghavi könne sich also auf sie berufen.

11 Dazu genügt die Feststellung, daß - wie vorstehend bereits ausgeführt - dem Ehegatten eines belgischen Arbeitnehmers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft besitzt, kein Anspruch auf die in Frage stehende Beihilfe zusteht. Unter diesen Voraussetzungen kann, da eine "soziale Vergünstigung" für einheimische Arbeitnehmer nicht vorliegt, Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 keine Anwendung finden.

12 Auf die vorgelegte Frage ist deshalb zu antworten, daß die Artikel 2 und 3 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, daß sich ein Staatsangehöriger eines Drittstaats, der Ehegatte eines die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzenden Arbeitnehmers ist, nicht auf sie berufen kann, um Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe für Behinderte zu erheben, die in den nationalen Rechtsvorschriften als eigener, nicht durch die Eigenschaft als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers begründeter Anspruch vorgesehen ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

13 Die Auslagen der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

auf die ihm von der belgischen Cour de cassation mit Urteil vom 9. September 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Artikel 2 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der geänderten und aktualisierten Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 sind dahin auszulegen, daß sich ein Staatsangehöriger eines Drittstaats, der Ehegatte eines die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzenden Arbeitnehmers ist, nicht auf sie berufen kann, um Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe für Behinderte zu erheben, die in den nationalen Rechtsvorschriften als eigener, nicht durch die Eigenschaft als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers begründeter Anspruch vorgesehen ist.

Ende der Entscheidung

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