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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.03.1996
Aktenzeichen: C-243/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, VO 1408/71 EWG, AFG


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
VO 1408/71 EWG Art. 74
AFG § 117
AFG § 119
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Als "arbeitsloser Arbeitnehmer..., der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht", im Sinne des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71, wonach der Anspruch eines arbeitslosen Arbeitnehmers auf Familienleistungen vom Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit abhängt, ist auch ein bei der zuständigen nationalen Behörde gemeldeter Arbeitsloser anzusehen, dessen Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen der Berücksichtigung einer ihm vom Arbeitgeber aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Einhaltung der Kündigungsfrist gezahlten Abfindung oder wegen des Eintritts einer Sperrzeit ruht, wenn er während dieses Zeitraums nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegen Krankheit und Unfall versichert ist.

Denn im Fall des Ruhens des Anspruchs auf Arbeitslosengeld kann die erhaltene Abfindung einer Leistung bei Arbeitslosigkeit gleichgestellt werden, da sie sich unmittelbar auf das in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 genannte Risiko der Arbeitslosigkeit bezieht, und hinsichtlich der Sperrzeit ist festzustellen, daß Artikel 74 den Begriff "Leistungen bei Arbeitslosigkeit" verwendet, ohne zwischen Geldleistungen und anderen Leistungen zu unterscheiden und ohne vorauszusetzen, daß der Betroffene alle in den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für die Zeit der Arbeitslosigkeit vorgesehenen Leistungen bezieht.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 28. März 1996. - Alejandro Rincón Moreno gegen Bundesanstalt für Arbeit. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Sozialgericht Stuttgart - Deutschland. - Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Familienleistungen - Artikel 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71. - Rechtssache C-243/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Sozialgericht Stuttgart hat mit Beschluß vom 29. August 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 8. September 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung, erneut geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 (ABl. L 331, S. 1), (im folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger Alejandro XX Moreno und der Bundesanstalt für Arbeit, weil diese sich weigerte, dem Kläger Kindergeld für die Monate Januar und Februar 1993 zu zahlen.

3 Der Kläger, der spanischer Staatsangehöriger ist, war von 1966 bis zum 15. Dezember 1992 als Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt und bezog als solcher von der Bundesanstalt für Arbeit Kindergeld für seine beiden Söhne, die in Spanien in der Ausbildung stehen.

4 Das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde zum 15. Dezember 1992 beendet. Für die Beendigung galt allerdings wegen der Dauer des Arbeitsverhältnisses nach deutschem Recht eine Kündigungsfrist. Diese wurde jedoch mit Zustimmung des Klägers nicht eingehalten, dem von seinem Arbeitgeber eine Abfindung gezahlt wurde.

5 Deshalb erließ die Bundesanstalt für Arbeit gegenüber dem Kläger zwei Bescheide gemäß dem Arbeitsförderungsgesetz vom 25. Juni 1969 (BGBl. 1969 I S. 582; AFG).

6 Sie entschied erstens, daß der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 16. Dezember 1992 bis zum 21. Februar 1993 gemäß § 117 Absätze 2 und 3 AFG ruhte. Nach diesen Vorschriften ruht der Arbeitslosengeldanspruch des Arbeitslosen, dessen Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung der Kündigungsfrist beendet worden ist und der von seinem Arbeitgeber eine Abfindung erhalten hat, während eines Zeitraums, der von dem Betrag der gezahlten Abfindung abhängt.

7 Zweitens verhängte die Bundesanstalt für Arbeit für die Zeit vom 16. Dezember 1992 bis zum 9. März 1993 gemäß § 119 in Verbindung mit § 119a AFG eine Sperrzeit. Nach diesen Vorschriften ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld während einer Sperrzeit, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlaß für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat.

8 Während des Zeitraums des Ruhens und der Sperrzeit ist der Arbeitslose jedoch gemäß § 19 Absatz 2 des Sozialgesetzbuches V und der §§ 155 und 155a AFG krankenversichert und gemäß § 165 AFG unfallversichert.

9 Die Bundesanstalt für Arbeit lehnte mit Bescheid vom 6. April 1993 die Gewährung von Kindergeld an den Kläger für die Monate Januar und Februar 1993 mit der Begründung ab, nach Artikel 74 der Verordnung Nr. 1408/71 hänge die Gewährung von Kindergeld davon ab, daß dem Betroffenen tatsächlich Arbeitslosengeld gezahlt worden sei. Da der Kläger während des streitigen Zeitraums wegen der von der Bundesanstalt für Arbeit gegen ihn verhängten Maßnahmen kein Arbeitslosengeld bezogen habe, habe er auch keinen Anspruch auf Kindergeld.

10 Nach Zurückweisung seines Widerspruchs erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Stuttgart. Er macht geltend, sein Kindergeldanspruch bestehe sowohl während des Zeitraums des Ruhens als auch während der Sperrzeit fort, denn diese Zeiten würden von der Gesamtdauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld abgezogen, so daß er so zu behandeln sei, als hätte er im Sinne des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71 Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezogen. Dies gelte um so mehr, als er während der Sperrzeit aufgrund der vorgenannten Vorschriften des Sozialgesetzbuches und des Arbeitsförderungsgesetzes weiterhin der Krankenversicherungspflicht unterliege.

11 Da das Sozialgericht Stuttgart der Auffassung ist, daß der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71 abhängt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen, daß als arbeitsloser Arbeitnehmer, der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht, auch beim Arbeitsamt gemeldete Arbeitslose anzusehen sind, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen Berücksichtigung einer ihnen vom Arbeitgeber wegen der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses gezahlten Abfindung nach § 117 AFG oder wegen des Eintritts einer Sperrzeit nach § 119 AFG ruht?

12 Nach Artikel 74 der Verordnung Nr. 1408/71 hat ein "arbeitsloser Arbeitnehmer..., der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht,... für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten".

13 Aus dieser Vorschrift folgt, daß der Arbeitslose für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, nur dann Anspruch auf Kindergeld hat, wenn er Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ° im Ausgangsverfahren: Deutschland ° bezieht.

14 Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob der Betroffene so zu behandeln ist, als hätte er im Sinne dieser Vorschrift Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezogen, obwohl ihm die Bundesanstalt für Arbeit im streitigen Zeitraum wegen des Ruhens des Anspruchs und der Verhängung einer Sperrzeit kein Arbeitslosengeld gezahlt hat.

Das Ruhen des Anspruchs

15 Während sein Anspruch ruhte, hat der Kläger zwar kein Arbeitslosengeld vom zuständigen Träger bezogen, er hat jedoch anläßlich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung von seinem Arbeitgeber erhalten. Somit stellt sich die Frage, ob diese Abfindung als Leistung bei Arbeitslosigkeit im Sinne des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist.

16 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, daß eine Leistung dann als Leistung der sozialen Sicherheit anzusehen ist, wenn sie den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung gewährt wird und sich auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. insbesondere Urteile vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-66/92, Acciardi, Slg. 1993, I-4567, Randnr. 14; vom 10. März 1993 in der Rechtssache C-111/91, Kommission/Luxemburg, Slg. 1993, I-817, Randnr. 29; vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-78/91, Hughes, Slg. 1992, I-4839, Randnr. 15, und vom 24. Februar 1987 in den Rechtssachen 379/85, 380/85, 381/85 und 93/86, Giletti u.a., Slg. 1987, 955, Randnr. 11).

17 Nach deutschem Recht hat ein Arbeitnehmer, der seinen Arbeitsplatz verliert, grundsätzlich Anspruch auf Arbeitslosengeld. § 117 AFG sieht jedoch vor, daß dieser Anspruch ruht, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung der Kündigungsfrist beendet und der Arbeitslose deshalb eine Abfindung erhalten oder zu beanspruchen hat.

18 Der Betrag dieser Abfindung wird nach § 117 AFG bei der Berechnung der Ruhenszeit berücksichtigt; schon aus dem Begriff des Ruhens der Leistungen ergibt sich, daß der Anspruch auf diese Leistungen fortbesteht, ihre Auszahlung durch den zuständigen Träger jedoch erst nach Ablauf des Zeitraums des Ruhens wieder einsetzt.

19 Schließlich tritt, wie die deutsche Regierung vorgetragen hat, die in § 117 AFG bezeichnete Abfindung teilweise an die Stelle des Arbeitslosengeldes, auf das der Arbeitslose grundsätzlich Anspruch hat. Sie bezieht sich somit unmittelbar auf das in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 genannte Risiko der Arbeitslosigkeit und kann daher einer Leistung bei Arbeitslosigkeit im Sinne des Artikels 74 dieser Verordnung gleichgestellt werden.

20 Demnach ist eine Abfindung wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wie sie in § 117 AFG vorgesehen ist, als eine Leistung bei Arbeitslosigkeit im Sinne des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen.

Die Sperrzeit

21 Hinsichtlich der gegen den Kläger verhängten Sperrzeit ist zu prüfen, ob diese Maßnahme ihn vom Bezug jedweder Leistung bei Arbeitslosigkeit ausschließt.

22 Artikel 74 der Verordnung Nr. 1408/71 verwendet den Begriff "Leistungen bei Arbeitslosigkeit", ohne zwischen Geldleistungen und anderen Leistungen zu unterscheiden und ohne für seine Anwendung vorauszusetzen, daß der Betroffene alle in den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für die Zeit der Arbeitslosigkeit vorgesehenen Leistungen bezieht. Diese Vorschrift stellt somit keine Voraussetzung hinsichtlich der Art der Leistungen bei Arbeitslosigkeit auf.

23 Ist der vom Bezug von Arbeitslosengeld ausgeschlossene Arbeitslose nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats weiter gegen Krankheit und Unfall versichert, so umfasst folglich die Wendung "Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats" in Artikel 74 der Verordnung Nr. 1408/71 auch diese Art von Leistungen.

24 Ein Arbeitsloser, der nach den nationalen Rechtsvorschriften während der Sperrzeit weiterhin gegen Krankheit und Unfall versichert ist, ist deshalb so zu behandeln, als bezöge er Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Sinne des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71.

25 Daher ist auf die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zu antworten, daß als "arbeitsloser Arbeitnehmer..., der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht", im Sinne des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71 auch ein bei der zuständigen nationalen Behörde gemeldeter Arbeitsloser anzusehen ist, dessen Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen der Berücksichtigung einer ihm vom Arbeitgeber aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Einhaltung der Kündigungsfrist gezahlten Abfindung oder wegen des Eintritts einer Sperrzeit ruht, wenn er während dieses Zeitraums nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegen Krankheit und Unfall versichert ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Die Auslagen der deutschen und der spanischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Sozialgericht Stuttgart mit Beschluß vom 29. August 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Als "arbeitsloser Arbeitnehmer..., der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht", im Sinne des Artikels 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, erneut geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989, ist auch ein bei der zuständigen nationalen Behörde gemeldeter Arbeitsloser anzusehen, dessen Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen der Berücksichtigung einer ihm vom Arbeitgeber aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Einhaltung der Kündigungsfrist gezahlten Abfindung oder wegen des Eintritts einer Sperrzeit ruht, wenn er während dieses Zeitraums nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegen Krankheit und Unfall versichert ist.

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