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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.10.1996
Aktenzeichen: C-245/94
Rechtsgebiete: (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971, Richtlinie 79/7/EWG Rates vom 19. Dezember 1978, BErzGG


Vorschriften:

(EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971
Richtlinie 79/7/EWG Rates vom 19. Dezember 1978 Artikel 3 Absatz 1
BErzGG § 1 Absatz 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen sind, und solchen, die von ihm erfasst werden, hängt im wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird.

Eine Leistung wie ein Erziehungsgeld, die unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt wird, die bestimmte objektive, gesetzlich festgelegte Voraussetzungen erfuellen, und die dem Ausgleich von Familienlasten sowie dazu dient, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls ° da es dem Berechtigten unabhängig davon zusteht, ob er Arbeitnehmer ist oder nicht ° die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein Vollerwerbseinkommen bedeutet, abzumildern, ist einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen.

2. Der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, hat aufgrund von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung Anspruch auf eine Leistung wie ein Erziehungsgeld. Diese Leistung kann dem Ehegatten nicht aufgrund der Unterscheidung zwischen eigenen Rechten des Arbeitnehmers und abgeleiteten Rechten des Familienangehörigen verweigert werden, da diese Unterscheidung nur maßgebend ist, wenn sich ein Familienangehöriger auf Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 beruft, die ausschließlich für Arbeitnehmer, also nicht für deren Familienangehörige, gelten, so z. B. die Bestimmungen betreffend Leistungen bei Arbeitslosigkeit, und grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt.

Diese Lösung ist deshalb geboten, weil mit Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 vor allem verhindert werden soll, daß ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, daß die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Mitgliedstaat wohnen ° auf diese Weise soll verhindert werden, daß der EG-Erwerbstätige davon abgehalten wird, von seinem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen ° und weil ein Arbeitnehmer, wenn ein Mitgliedstaat die Gewährung einer Leistung wie des Erziehungsgelds an seinen nicht in diesem Staat wohnenden Ehegatten an die Voraussetzung binden könnte, daß dieser dort beschäftigt ist, davon abgehalten werden könnte, von seinem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen, was dem Sinn und Zweck des Artikels 73 der Verordnung Nr. 1408/71 zuwiderliefe.

3. Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, der den sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie definiert, ist dahin auszulegen, daß ein Erziehungsgeld, das den Unterhalt der Familie in der Phase der Kindererziehung gewährleisten soll, nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt. Eine Familienleistung wie das Erziehungsgeld bietet nämlich keinen unmittelbaren und wirksamen Schutz gegen eines der in Artikel 3 Absatz 1 dieser Richtlinie genannten Risiken.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 10. Oktober 1996. - Ingrid Hoever und Iris Zachow gegen Land Nordrhein-Westfalen. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - Deutschland. - Soziale Sicherheit - Familienleistungen - Artikel 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG - Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68. - Verbundene Rechtssachen C-245/94 und C-312/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat mit Beschlüssen vom 17. Juni (Rechtssache C-245/94) und vom 19. August 1994 (Rechtssache C-312/94), beim Gerichtshof eingegangen am 12. September und am 28. November 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h und 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 (ABl. L 331, S. 1) geänderten Fassung (nachstehend: Verordnung Nr. 1408/71), des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) und des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Ingrid Höver (Rechtssache C-245/94) und Iris Zachow (Rechtssache C-312/94) auf der einen und dem Land Nordrhein-Westfalen auf der anderen Seite über die Zahlung von Erziehungsgeld.

3 Das Erziehungsgeld ist eine beitragsunabhängige Leistung, die zu einem Bündel familienpolitischer Maßnahmen gehört und nach dem Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub vom 6. Dezember 1985 (BGBl. I S. 2154; nachstehend: BErzGG) gewährt wird.

4 Nach § 1 Absatz 1 BErzGG in der Fassung vom 25. Juli 1989 (BGBl. I S. 1550), geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2823), hat Anspruch auf Erziehungsgeld, wer 1. einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, 2. mit einem Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, 3. dieses Kind selbst betreut und erzieht und 4. keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.

5 Nach § 1 Absatz 4 BErzGG hat Anspruch auf Erziehungsgeld auch ein Angehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft, der zwar nicht in Deutschland wohnt, aber ein Arbeitsverhältnis im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat und die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nrn. 2 bis 4 erfuellt.

6 Ein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 1 Absatz 4 BErzGG setzt insbesondere eine wöchentliche Arbeitszeit von mindestens 15 Stunden voraus; bei einer kürzeren Arbeitszeit liegt nach § 8 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (BGBl. I 1982 S. 1450) eine geringfügige Beschäftigung vor.

7 Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren und ihre Ehegatten sind deutsche Staatsangehörige und leben in Kerkrade in den Niederlanden. Die Klägerin Höver arbeitet seit Juni 1990 wöchentlich 10 Stunden in Aachen. Bei der Geburt ihres Sohnes nahm sie 18 Monate Erziehungsurlaub. Die Klägerin Zachow ist seit 1985 nicht mehr erwerbstätig. Die Ehemänner der Klägerinnen sind in Deutschland vollzeitbeschäftigt.

8 Die Klägerinnen beantragten am 30. Mai 1991 und am 28. Dezember 1987 Erziehungsgeld für ihre 1991 und 1987 geborenen Söhne. Das Land Nordrhein-Westfalen lehnte diese Anträge ab und wies ihre dagegen eingelegten Widersprüche zurück, weil die Klägerin Höver wegen ihrer geringfügigen Beschäftigung keine Arbeitnehmerin sei und weil die Klägerin Zachow ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden habe. Beide erhoben gegen diese Bescheide Klage beim Sozialgericht Münster, das die Klagen u. a. mit der Begründung abwies, daß die Klägerinnen keine Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 73 der Verordnung Nr. 1408/71 seien.

9 Die Klägerinnen legten gegen diese Urteile Berufung zum Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ein und machten insbesondere geltend, daß die Leistungen nach dem BErzGG Familienleistungen im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 seien und daß das Erziehungsgeld nach Artikel 73 dieser Verordnung an den im Ausland lebenden Ehegatten eines in Deutschland tätigen Arbeitnehmers zu zahlen sei.

10 Nach ihrem Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h gilt die Verordnung Nr. 1408/71 für alle Rechtsvorschriften... die... Familienleistungen [betreffen].

11 Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 definiert als "' Familienleistungen' : alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburtsbeihilfen".

12 Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet wie folgt:

Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.

13 Da das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen der Auffassung ist, daß die Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten davon abhänge, wie die Gemeinschaftsregelung auszulegen sei, hat es die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof in der Rechtssache C-245/94 folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Erziehungsgeld im Sinne der §§ 1 ff. des Gesetzes über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1989 (BGBl. I S. 1550) und des Gesetzes vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2823) ° BErzGG ° eine Familienleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71?

2. Wenn ja:

a) Kann der Ehegatte eines in der Bundesrepublik Deutschland Beschäftigten, deren Familie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, aufgrund des Artikels 73 der Verordnung Nr. 1408/71 die Zahlung von Erziehungsgeld verlangen?

b) Stellt § 1 Absatz 4 BErzGG eine gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG verstossende Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar, sofern danach Angehörige eines Mitgliedstaats, die ein Arbeitsverhältnis in der Bundesrepublik haben, nur dann Erziehungsgeld beanspruchen können, wenn sie eine mehr als geringfügige Beschäftigung ausüben?

3. Wenn nein:

a) Ist Erziehungsgeld eine soziale Vergünstigung im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68?

b) Wenn ja: Findet Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 Anwendung, wenn der in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Beschäftigte ein Staatsangehöriger des Beschäftigungsstaats ist?

c) Wenn ja: Begründet Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 ein Recht auf Zahlung von Erziehungsgeld in der Person des Ehegatten des Beschäftigten, wenn die Familie in einem anderen Mitgliedstaat als dem Beschäftigungsstaat wohnt?

14 In der Rechtssache C-312/94 hat es dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Erziehungsgeld im Sinne der §§ 1 ff. des Gesetzes über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (Bundeserziehungsgeldgesetz ° BErzGG ° in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Dezember 1985 ° BGBl. I S. 2154 ° geändert durch Artikel 6 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherung und anderer sozialrechtlicher Vorschriften ° 7. Rentenversicherungsänderungsgesetz ° 7. RVÄnderG ° vom 19. Dezember 1986, BGBl. I S. 2586, 2589, und des Gesetzes vom 17. Dezember 1990, BGBl. I S. 2823) eine Familienleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71?

2. Wenn ja: Kann der Ehegatte eines in der Bundesrepublik Deutschland Beschäftigten, deren Familie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, aufgrund des Artikels 73 der Verordnung Nr. 1408/71 die Zahlung von Erziehungsgeld verlangen?

3. Wenn nein:

a) Ist Erziehungsgeld eine soziale Vergünstigung im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68?

b) Wenn ja: Findet Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 Anwendung, wenn der in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Beschäftigte ein Staatsangehöriger des Beschäftigungsstaats ist?

c) Wenn ja: Begründet Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 ein Recht auf Zahlung von Erziehungsgeld in der Person des Ehegatten des Beschäftigten, wenn die Familie in einem anderen Mitgliedstaat als dem Beschäftigungsstaat wohnt?

15 Durch Beschluß vom 13. September 1995 hat der Präsident des Gerichtshofes die beiden Rechtssachen gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

Zur ersten Frage in den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94

16 Mit dieser Frage, die den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft, möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob ein Erziehungsgeld wie das nach dem BErzGG einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen ist.

17 Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, hängt die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen sind, und solchen, die von ihm erfasst wurden, im wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird (vgl. insbesondere Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-78/91, Hughes, Slg. 1992, I-4839, Randnr. 14).

18 Der Gerichtshof hat dazu mehrfach ausgeführt, daß eine Leistung dann als Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann, wenn sie den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung gewährt wird und sich auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (Urteil Hughes, a. a. O., Randnr. 15).

19 Eine Leistung wie das in den vorliegenden Rechtssachen streitige Erziehungsgeld erfuellt diese Voraussetzungen.

20 Zur ersten Voraussetzung ist festzustellen, daß die Vorschriften über die Gewährung des Erziehungsgelds den Empfängern einen Rechtsanspruch einräumen und daß es unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt wird, die bestimmte objektive Voraussetzungen erfuellen.

21 Der von der luxemburgischen Regierung hervorgehobene Umstand, daß das Erziehungsgeld ein Pauschalbetrag ist, der sich weder nach der Zahl noch nach dem Alter der Kinder richtet, kann den Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung nicht ihren objektiven Charakter nehmen. Jedenfalls geht aus den Akten hervor, daß sich die Höhe der Leistung in Wirklichkeit nach der finanziellen Lage der Familie und mittelbar nach der Zahl der Kinder richtet.

22 Zur zweiten Voraussetzung macht die deutsche Regierung geltend, daß mit dem Erziehungsgeld nicht der Zweck einer Familienleistung im Sinne des Artikels 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 verfolgt werde; vielmehr sollte damit die Leistung des Elternteils, der sich der Kindererziehung widme und die Anspruchsvoraussetzungen in seiner Person erfuelle, durch Einräumung eines eigenen Anspruchs honoriert werden.

23 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Eine Leistung wie die hier streitige bezweckt nämlich den Ausgleich von Familienlasten im Sinne des Artikels 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71.

24 Erstens wird das Erziehungsgeld nur gezahlt, wenn zu der Familie des Betroffenen eines oder mehrere Kinder gehören. Zudem hängt seine Höhe teilweise vom Alter und von der Zahl der Kinder sowie vom Einkommen der Eltern ab.

25 Zweitens soll das Erziehungsgeld, wie die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen hervorhebt, einem Elternteil ermöglichen, sich in der ersten Lebensphase eines Kindes dessen Erziehung zu widmen. Wie das vorlegende Gericht ausführt, dient diese Beihilfe genauer betrachtet dazu, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein Vollerwerbseinkommen bedeutet, abzumildern.

26 Drittens ist die von der deutschen Regierung betonte Verknüpfung des Erziehungsgelds mit dem Erziehungsurlaub nicht geeignet, das Erziehungsgeld dem Geltungsbereich der Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i und 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 zu entziehen, da es dem Berechtigten unabhängig davon zusteht, ob er Arbeitnehmer ist oder nicht.

27 Daher ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94 zu antworten, daß eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem BErzGG, die unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt wird, die bestimmte objektive Voraussetzungen erfuellen, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient, einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen ist.

Zur Frage 2 a in der Rechtssache C-245/94 und zur zweiten Frage in der Rechtssache C-312/94

28 Mit der Frage 2 a in der Rechtssache C-245/94 und der zweiten Frage in der Rechtssache C-312/94, die den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 betreffen, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, aufgrund von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung des Arbeitnehmers Anspruch auf eine Leistung wie das Erziehungsgeld hat.

29 Weder die Klägerin Höver noch die Klägerin Zachow bestreiten, daß sie nicht in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, da sie nicht im Sinne des Anhangs I Teil I Buchstabe C (Deutschland) dieser Verordnung sozialversichert sind; in diesem Anhang ist festgelegt, unter welchen Voraussetzungen eine Person für die Zwecke der Anwendung von Artikel 73 der Verordnung in Deutschland als Arbeitnehmer angesehen wird. Dagegen erfuellen die Ehemänner der Klägerinnen diese Voraussetzungen. Sie fallen also in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 und können daher als Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 73 dieser Verordnung angesehen werden.

30 Zudem ist festzustellen, daß der Anspruch auf Erziehungsgeld in einem Fall wie dem vorliegenden nicht von der Eigenschaft der Antragstellerinnen als Familienangehörige eines Arbeitnehmers abhängt. Um diese Beihilfe erhalten zu können, müssen sie nämlich die Voraussetzungen des § 1 Absatz 4 BErzGG in eigener Person erfuellen.

31 Insoweit haben die deutsche, die spanische und die französische Regierung sowie die Kommission auf die durch das Urteil vom 23. November 1976 in der Rechtssache 40/76 (Kermaschek, Slg. 1976, 1669, Randnr. 7) eingeleitete Rechtsprechung verwiesen, wonach Familienangehörigen eines Arbeitnehmers nur abgeleitete Rechte zustehen, die sie als Familienangehörige eines Arbeitnehmers erworben haben, d. h. einer Person, die Ansprüche auf Leistungen im Sinne der Verordnung aus eigenem Recht geltend machen kann (vgl. zur Übertragung dieser Rechtsprechung auf Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 das Urteil Hughes, a. a. O.).

32 Allerdings wurde im Urteil vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93 (Cabanis-Issarte, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 34) die Tragweite des Urteils Kermaschek auf die Sachverhalte beschränkt, in denen sich ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers auf Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 beruft, die ausschließlich für Arbeitnehmer, also nicht für deren Familienangehörige, gelten, so z. B. die Artikel 67 bis 71 betreffend Leistungen für Arbeitslose. Artikel 73 der Verordnung ist keine solche Bestimmung, denn sein Zweck ist gerade, zugunsten der Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, die Gewährung der nach den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen sicherzustellen.

33 Daraus ergibt sich, daß die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt.

34 Sodann ist festzustellen, daß mit Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 vor allem verhindert werden soll, daß ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, daß die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Mitgliedstaat wohnen; auf diese Weise soll verhindert werden, daß der EG-Erwerbstätige davon abgehalten wird, von seinem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen (vgl. Urteil vom 5. Oktober 1995 in der Rechtssache C-321/93, Imbernon Martínez, Slg. 1995, I-2821, Randnr. 21).

35 Wäre aber, wie im Ausgangsrechtsstreit, die Gewährung des Erziehungsgelds ° das eine Familienleistung ist ° an die Voraussetzung gebunden, daß der nicht in Deutschland wohnende Ehegatte eines Arbeitnehmers im Geltungsbereich des BErzGG beschäftigt ist, so könnte der Arbeitnehmer davon abgehalten werden, von seinem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen.

36 Folglich liefe es dem Sinn und Zweck des Artikels 73 der Verordnung Nr. 1408/71 zuwider, wenn dem Ehegatten eines Arbeitnehmers eine Leistung verweigert würde, die er hätte beanspruchen können, wenn er in dem die Leistung erbringenden Staat geblieben wäre.

37 Schließlich kann, wie der Generalanwalt in Nummer 50 seiner Schlussanträge ausführt, die Frage, ob Familienleistungen einem einzelnen zustehen, schon von ihrer Natur her nicht losgelöst von dessen familiärer Situation betrachtet werden. Wenn nämlich die Gewährung einer Beihilfe wie das Erziehungsgeld dem Ausgleich von Familienlasten dient, ist es ohne Bedeutung, welcher Elternteil sie in Anspruch nehmen will.

38 Nach alledem hat der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, aufgrund von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung Anspruch auf eine Leistung wie das Erziehungsgeld.

Zur Frage 2 b in der Rechtssache C-245/94

39 Mit der Frage 2 b in der Rechtssache C-245/94 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Vorschrift wie § 1 Absatz 4 BErzGG eine gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verstossende Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt, sofern danach Angehörige eines Mitgliedstaats, die ein Arbeitsverhältnis in Deutschland haben, nur dann Erziehungsgeld beanspruchen können, wenn sie eine mehr als geringfügige Beschäftigung ausüben.

40 Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu prüfen, ob die Gewährung von Erziehungsgeld, wie sie in den §§ 1 ff. BErzGG vorgesehen ist, in den Geltungsbereich der Richtlinie 79/7 fällt.

41 Nach ihrem Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a findet die Richtlinie 79/7 Anwendung auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitsunfall und Berufskrankheit sowie Arbeitslosigkeit bieten. Nach Artikel 3 Absatz 2 gilt die Richtlinie nicht für Regelungen betreffend Familienleistungen, es sei denn, daß es sich um Familienleistungen handelt, die als Zuschläge zu den Leistungen aufgrund der in Absatz 1 Buchstabe a genannten Risiken gewährt werden.

42 Eine Familienleistung wie das Erziehungsgeld bietet keinen unmittelbaren und wirksamen Schutz gegen eines der in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 genannten Risiken.

43 Eine solche Leistung soll nämlich, wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, den Unterhalt der Familie in der Phase der Kindererziehung gewährleisten.

44 Folglich ist auf die Frage 2 b in der Rechtssache C-245/94 zu antworten, daß Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, daß ein Erziehungsgeld wie das nach §§ 1 ff. BErzGG nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt.

Zur dritten Frage in den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94

45 Mit der dritten Frage in den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94 fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof nach dem sachlichen und persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1612/68. Diese Frage wurde jedoch nur für den Fall gestellt, daß eine Leistung wie das Erziehungsgeld nicht als Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sein sollte. Angesichts der Antwort auf die erste Frage braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

46 Die Auslagen der deutschen, der französischen, der luxemburgischen und der spanischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen mit Beschlüssen vom 17. Juni und 19. August 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz, die unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt wird, die bestimmte objektive Voraussetzungen erfuellen, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient, ist einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 geänderten Fassung gleichzustellen.

2. Der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, hat aufgrund von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung Anspruch auf eine Leistung wie das Erziehungsgeld.

3. Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß ein Erziehungsgeld wie das nach §§ 1 ff. Bundeserziehungsgeldgesetz nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt.

Ende der Entscheidung

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