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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.03.1998
Aktenzeichen: C-270/96
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 1010/86/EWG


Vorschriften:

Verordnung Nr. 1010/86/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Ein Erzeugnis, das als Kautabletten, Brausetabletten und Trinkampullen mit der gleichen Wirkstoffzusammensetzung angeboten wird, wobei eine Trinkampulle mit 5 ml als einzigen Wirkstoff 1 g Argininaspartat sowie Arzneiträger und Natrium enthält, und ein Erzeugnis, das als lösliches Pulver in Beuteln und als Trinkampullen angeboten wird, als Wirkstoff 3 g Argininglutamat enthält, die gleichen therapeutischen Wirkungen wie Argininaspartat und im wesentlichen die gleiche Zusammensetzung hat und dessen Anwendungsgebiete identisch sind, können nicht in Position 3004 der Kombinierten Nomenklatur eingereiht werden und fallen daher nicht unter die Verordnung Nr. 1010/86 zur Festlegung der Grundregeln für die Produktionserstattung bei der Verwendung von bestimmten Erzeugnissen des Zuckersektors in der chemischen Industrie, wenn weder dargetan ist, daß die Erzeugnisse genau umschriebene therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften aufweisen, deren Wirkung sich auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert, noch daß sie bei der Verhütung oder Behandlung einer spezifischen Krankheit oder eines spezifischen Leidens angewandt werden können.

Ein Erzeugnis, das in Trinkampullen von 5 ml oder 10 ml vertrieben wird, wobei eine Ampulle von 5 ml 15 ìg Vitamin B 12 und eine Ampulle von 10 ml das Doppelte sowie Aminosäuren und Konservierungsstoffe enthalten, und ein Erzeugnis, das in Form von Trinkampullen von 5 ml oder 10 ml für Erwachsene angeboten wird, die 500 ìg Vitamin B 12 pro Ampulle von 10 ml und 250 ìg Vitamin B 12 pro Ampulle von 5 ml sowie Aminosäuren und Konservierungsstoffe enthalten, können aus den gleichen Gründen ebenfalls nicht in die Position 3004 eingereiht werden und fallen daher nicht unter die Verordnung Nr. 1010/86.

Weder der Umstand, daß für diese Erzeugnisse gemäß der Richtlinie 65/65 über Arzneispezialitäten von den zuständigen nationalen Behörden Genehmigungen für das Inverkehrbringen als "Arzneimittel" erteilt wurden, noch der Umstand, daß sie nach den Rechtsvorschriften dieses Staates als "Arzneimittel" betrachtet werden, noch die Bezeichnung dieser Erzeugnisse haben entscheidende Bedeutung für ihre Tarifierung.


Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 12. März 1998. - Laboratoires Sarget SA gegen Fonds d'intervention et de régularisation du marché du sucre (FIRS). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal administratif de Paris - Frankreich. - Produktionserstattung bei der Verwendung von Zucker für die Herstellung bestimmter chemischer Erzeugnisse - Antiasthenische Erzeugnisse - Tarifierung. - Rechtssache C-270/96.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal administratif Paris hat mit Urteil vom 12. Juni 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 8. August 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1010/86 des Rates vom 25. März 1986 zur Festlegung der Grundregeln für die Produktionserstattung bei der Verwendung von bestimmten Erzeugnissen des Zuckersektors in der chemischen Industrie (ABl. L 94, S. 9) in der durch Artikel 9 der Verordnung (EWG) Nr. 1714/88 der Kommission vom 13. Juni 1988 zur Änderung bestimmter Durchführungsverordnungen zur gemeinsamen Marktorganisation für Zucker nach Einführung der Kombinierten Nomenklatur (ABl. L 152, S. 23) geänderten Fassung und des Kapitels 30 der Kombinierten Nomenklatur, eingeführt durch Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit der Laboratoires Sarget SA (Klägerin) gegen den Fonds d'intervention et de régularisation du marché du sucre (FIRS) über die Rückzahlung von Produktionserstattungen, die der Klägerin als Unternehmen gewährt wurden, das bei der Herstellung bestimmter chemischer Erzeugnisse Zucker verwendet.

3 Die Verordnung Nr. 1010/86 in der durch Artikel 9 der Verordnung Nr. 1714/88 infolge der Einführung der Kombinierten Nomenklatur (KN) geänderten Fassung regelt die Gewährung von Erstattungen für Unternehmen, die Zucker zur Herstellung bestimmter chemischer Erzeugnisse verwenden.

4 Die Verordnung Nr. 1010/86 sieht Produktionserstattungen bei der Herstellung von saccharosehaltigen Erzeugnissen vor, um den Zuckermarkt zu fördern und den Unterschied zwischen dem Preis in der Gemeinschaft und dem Preis auf dem Weltmarkt auszugleichen. Nach ihren Artikeln 1 und 2 Absatz 1 wird die Erstattung von dem Mitgliedstaat gewährt, auf dessen Gebiet die Verarbeitung der "Grunderzeugnisse" zu "chemischen Erzeugnissen" erfolgt, die im Anhang der Verordnung aufgeführt sind. Zu diesen chemischen Erzeugnissen gehören pharmazeutische Erzeugnisse im Sinne von Kapitel 30 des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) und, seit dem Erlaß der im Ausgangsverfahren anwendbaren Verordnung Nr. 1714/88, im Sinne von Kapitel 30 der KN.

5 Gemäß der Verordnung Nr. 1010/86 forderte der FIRS 1986 potentielle Verwender auf, im Hinblick auf die Gewährung dieser Erstattungen eine vorherige Zulassung zu beantragen.

6 Mit Schreiben vom 11. Juli 1986 beantragte die Klägerin beim FIRS eine Zulassung für die Verwendung von Zucker zur Herstellung von Erzeugnissen, die ihrer Ansicht nach unter den Anhang der Verordnung Nr. 1010/86 fielen. In diesem Antrag waren als herzustellende Erzeugnisse u. a. die Arzneispezialitäten Sargenor, Lysivit, Sarvit und Dynamisan aufgeführt, die unter der Position 3003 des GZT angemeldet wurden. Der FIRS erteilte aufgrund dieser Anmeldung am 15. Juli 1986 die Zulassung, so daß die Klägerin Erstattungen für bei der Herstellung dieser Erzeugnisse verwendeten Zucker erhielt.

7 Mit Schreiben vom 15. November 1988 beantragte die Klägerin die Verlängerung ihrer Zulassung für die genannten Erzeugnisse, die sie nunmehr unter der Position 3004 der KN anmeldete. Aufgrund dieser Anmeldung wurde am 17. November 1988 erneut eine Zulassung erteilt.

8 Nach Untersuchung von Stichproben von Sargenor, Lysivit, Sarvit und Dynamisan errichtete die Direction générale des douanes et droits indirects (Generaldirektion für Zölle und indirekte Steuern) am 22. Juni 1990 ein Protokoll gegen die Klägerin, weil diese Erzeugnisse dem Kapitel 21 der KN ("Nahrungsmittelzubereitungen") zuzuweisen seien, das nicht in den Anhang der Verordnung Nr. 1010/86 in der geänderten Fassung aufgenommen worden sei und für dessen Erzeugnisse folglich kein Anspruch auf Produktionserstattungen bestehe.

9 Aufgrund dieses Protokolls forderte der FIRS die Klägerin mit Bescheid vom 17. Februar 1995 zur Zahlung eines Betrages von 2 545 059,66 FF auf, der den ihr von 1989 bis 1991 zu Unrecht gewährten Erstattungen entsprach.

10 Mit Klageschrift vom 18. April 1995 erhob die Klägerin beim Tribunal administratif Klage auf Aufhebung dieses Berichtigungsbescheids.

11 Da das vorlegende Gericht der Ansicht ist, daß die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhänge, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

Fallen die Erzeugnisse Sargenor, Sarvit, Lysivit und Dynamisan unter Berücksichtigung ihrer Zusammensetzung, Bezeichnung und Wirkung unter die Verordnung Nr. 1010/86 des Rates vom 25. März 1986 über die Einreihung von Waren in die Unterposition 30 des GZT oder eine andere Unterposition?

12 Die Verordnung Nr. 1010/86 enthält zwar Bestimmungen für die Gewährung von Erstattungen an Unternehmen, die Zucker zur Herstellung bestimmter chemischer Erzeugnisse, u. a. auch pharmazeutischer Erzeugnisse des Kapitels 30 der KN verwenden, sie hat jedoch nicht die Einreihung von Waren in bestimmte Positionen der KN zum Gegenstand. Diese Verordnung gibt nur den KN-Code der Erzeugnisse an, bei deren Herstellung eine Erstattung gewährt werden kann.

13 So kann ein bestimmtes Erzeugnis nur dann unter die Verordnung Nr. 1010/86 in der Fassung des Artikels 9 der Verordnung Nr. 1714/88 fallen, wenn es in eine der in ihrem Anhang aufgeführten Positionen der KN einzureihen ist.

14 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens kommt von den verschiedenen Kapiteln, Positionen und Unterpositionen, die im Anhang der Verordnung aufgeführt sind, nur Kapitel 30 in Betracht.

15 Die Vorlagefrage ist somit dahin zu verstehen, ob Erzeugnisse, die gleiche Inhaltsstoffe wie Sargenor, Lysivit, Sarvit und Dynamisan im gleichen Verhältnis enthalten, unter Kapitel 30 der KN und daher unter die Verordnung Nr. 1010/86 in der Fassung des Artikels 9 der Verordnung Nr. 1714/88 fallen.

16 Nach ständiger Rechtsprechung ist im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren grundsätzlich in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Position der KN festgelegt sind (vgl. für den GZT Urteile vom 1. Juni 1995 in der Rechtssache C-459/93, Thyssen Haniel Logistic, Slg. 1995, I-1381, Randnr. 8, und vom 14. Dezember 1995 in den Rechtssachen C-106/94 und C-139/94, Colin und Dupré, Slg. 1995, I-4759, Randnr. 22, und für die KN Urteil vom 6. November 1997 in der Rechtssache C-201/96, LTM, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 17). Darüber hinaus sind die Erläuterungen, die zur KN von der Europäischen Kommission und zum Harmonisierten System zur Bezeichnung und Kodierung der Waren vom Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens ausgearbeitet worden sind, ein wichtiges, wenn auch nicht rechtsverbindliches Hilfsmittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen (Urteile vom 16. Juni 1994 in der Rechtssache C-35/93, Develop Dr. Eisbein, Slg. 1994, I-2655, Randnr. 21, und LTM, Randnr. 17).

17 Die Position 3004 der KN umfasst "Arzneiwaren (ausgenommen Erzeugnisse der Position 3002, 3005 oder 3006), die aus gemischten oder ungemischten Erzeugnissen zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken bestehen, dosiert oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf".

18 Nach Anmerkung 1 zu Kapitel 30 der KN gehören diätetische, diabetische oder angereicherte Lebensmittel, Ergänzungslebensmittel, tonische Getränke und Mineralwasser nicht zu diesem Kapitel; für sie gibt es eine eigene Regelung in Abschnitt IV der KN.

19 Dieser Abschnitt enthält das Kapitel 21 der KN ("Verschiedene Lebensmittelzubereitungen").

20 Nach den Erläuterungen des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens erfasst die Position 2106, "Lebensmittelzubereitungen, anderweit weder genannt noch inbegriffen", u. a. Zubereitungen, die häufig als "Ergänzungslebensmittel" bezeichnet werden, auf der Grundlage von Pflanzenauszuegen, Fruchtkonzentraten, Honig, Fructose usw., denen Vitamine und manchmal sehr geringe Mengen Eisenverbindungen zugesetzt sind. Jedoch heisst es in diesen Erläuterungen auch, daß ähnliche Zubereitungen, die zum Verhüten oder Behandeln von Krankheiten oder Leiden bestimmt sind, von diesem Kapitel ausgenommen und in die Position 3003 oder 3004 der KN einzureihen sind.

21 Die Klägerin weist darauf hin, daß Sargenor nicht nur in Frankreich und acht anderen Mitgliedstaaten, sondern auch in ungefähr 40 weiteren Ländern der ganzen Welt als Arzneimittel eingetragen sei. Zudem komme die Definition des "Arzneimittels" in der Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (ABl. 1965, Nr. 22, S. 369) der Definition sehr nahe, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den maßgeblichen Kriterien für die Einreihung der Waren in die KN ergebe. Der Grundsatz der Rechtssicherheit werde nicht gefährdet, wenn der Gerichtshof im vorliegenden Fall für die Tarifierung von Sargenor u. a. die zahlreichen Qualifizierungen berücksichtige, die sich aus den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften ergäben.

22 In diesem Zusammenhang ist auf die allgemeinen Erwägungen in der Einleitung der Erläuterungen zu Kapitel 30 der Kombinierten Nomenklatur der Europäischen Gemeinschaften zu verweisen, wo es heisst: "Die Bezeichnung eines Erzeugnisses als Medikament in anderen Rechtsakten der Gemeinschaften als solchen bezueglich der Einreihung in die Kombinierte Nomenklatur, in nationalen Gesetzen der Mitgliedstaaten oder in einer Pharmakopöe, ist nicht entscheidend für die Einreihung in dieses Kapitel."

23 Der Begriff "pharmazeutisches Erzeugnis" im Sinne der KN unterscheidet sich tatsächlich vom Begriff "Arzneimittel" im Sinne der Richtlinie 65/65. Diese Richtlinie soll die Hindernisse für den innergemeinschaftlichen Handel mit Arzneispezialitäten zumindest teilweise - beseitigen und das grundlegende Ziel des Gesundheitsschutzes verwirklichen (vgl. Urteil vom 30. November 1983 in der Rechtssache 227/82, Van Bennekom, Slg. 1983, 3883, Randnr. 14). Die Richtlinie 65/65 ermöglicht es also zur Förderung des Handelsverkehrs und gleichzeitig zum Schutz der Gesundheit, daß ein verhältnismässig weites Spektrum von Erzeugnissen unter das in der Arzneimittelgesetzgebung geregelte Kontrollsystem fällt. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-369/88 (Delattre, Slg. 1991, I-1487, Randnrn. 27 und 29) in bezug auf die Richtlinie 65/65 festgestellt hat, kann der Umstand, daß ein Erzeugnis in einem Mitgliedstaat als Lebensmittel qualifiziert wird, es nicht ausschließen, daß es in einem anderen Staat als Arzneimittel qualifiziert wird, wenn es die Merkmale eines solchen aufweist. Er hat weiter festgestellt, daß Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in der Qualifizierung der Erzeugnisse im Kontext der Richtlinie bestehenbleiben, solange die zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erforderlichen Maßnahmen nicht stärker harmonisiert sind.

24 Hingegen ist es nach der achten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 2658/87 "unverzichtbar, daß die Kombinierte Nomenklatur und jede andere Nomenklatur, die ganz oder teilweise auf dieser beruht..., in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewandt wird". Die Bestimmungen der KN müssen somit von allen Mitgliedstaaten in gleicher Weise ausgelegt werden.

25 Der Umstand, daß die zuständigen französischen Behörden gemäß der Richtlinie 65/65 für die im Ausgangsverfahren fraglichen Erzeugnisse eine Verkehrsgenehmigung erteilt haben und daß diese Erzeugnisse daher nach den Rechtsvorschriften dieses Staates als Arzneimittel betrachtet werden, bedeutet demnach nicht zwangsläufig, daß sie als pharmazeutische Erzeugnisse in die KN einzureihen sind.

26 Das gleiche gilt hinsichtlich der Bedeutung der Bezeichnung eines Erzeugnisses für seine Tarifierung nach der KN. Zwar ist die Bezeichnung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ein Indiz dafür, daß die betreffenden Erzeugnisse Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65 sind (vgl. in diesem Sinne Urteil LTM, Randnr. 27), doch ist, wie in Randnummer 16 des vorliegenden Urteils ausgeführt, das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren nach der KN grundsätzlich in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Position der KN festgelegt sind.

27 Unter den in den Anmerkungen zu Kapitel 30 der KN genannten Kriterien für die Tarifierung der Erzeugnisse nach diesem Kapitel ist die Bezeichnung dieser Erzeugnisse nicht aufgeführt. Selbst wenn daher ein solcher Faktor als relevant angesehen werden kann, so hätte er doch keine entscheidende Bedeutung für die Einreihung der Erzeugnisse in die KN.

28 Im übrigen hat der Gerichtshof im Urteil vom 14. Januar 1993 in der Rechtssache C-177/91 (Bioforce, Slg. 1993, I-45, Randnr. 12) festgestellt, daß ein pharmazeutisches Erzeugnis im Sinne der Position 3004 der KN ein solches ist, das genau umschriebene therapeutische und vor allem prophylaktische Eigenschaften aufweist und dessen Wirkung auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert ist.

29 Daher ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen Erzeugnisse therapeutische und prophylaktische Eigenschaften aufweisen und ob sie insbesondere zur Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens angewandt werden können.

Sargenor und Dynamisan

30 Wie sich aus den Akten ergibt, wurde Sargenor im entscheidungserheblichen Zeitraum in drei Darreichungformen angeboten: als Kautabletten, Brausetabletten und Trinkampullen mit der gleichen Wirkstoffzusammensetzung. Nach dem klinischen Sachverständigengutachten über Sargenor, das die Klägerin als Anlage zu ihren Erklärungen eingereicht hat, enthielt eine Trinkampulle mit 5 ml Sargenor als einzigen Wirkstoff 1 g Argininaspartat sowie Arzneiträger und Natrium.

31 Aus diesem Gutachten ergibt sich ferner, daß die Dosierung beim Erwachsenen zwei bis drei Ampullen täglich und beim Kind von über 30 Monaten je nach Alter eine halbe bis zwei Ampullen beträgt. In dem Gutachten heisst es weiter, die Überschreitung dieser Dosierung (Verdoppelung oder auch Verdreifachung) sei nach den vorliegenden Daten ohne Folgen.

32 Die Klägerin und die französische Regierung machen zunächst geltend, Argininaspartat habe therapeutische und prophylaktische Wirkungen bei der Behandlung der von ihnen als pathologischer Zustand bezeichneten Asthenie.

33 Ferner werde Sargenor seit langem zur Behandlung funktioneller, postinfektiöser, postoperativer und bei Diabetikern auftretender Schwächezustände angewendet. Schließlich könne Asthenie u. a. auch durch krebsartige Erkrankungen, Infektionen, Stoffwechsel- und Herz-Gefässerkrankungen hervorgerufen werden; bestimmte Formen von Asthenie träten im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen auf.

34 Nach den Akten des Ausgangsverfahrens wird Dynamisan in zwei verschiedenen Darreichungsformen angeboten: als lösliches Pulver in Beuteln und als Trinkampullen. Es enthält als Wirkstoff 1 g Argininglutamat. Argininglutamat hat die gleichen therapeutischen Wirkungen wie Argininaspartat. Dynamisan hat im wesentlichen die gleiche Zusammensetzung wie Sargenor, und seine Anwendungsgebiete sind identisch.

35 Nach Auffassung der Klägerin und der französischen Regierung ist zwischen Asthenie und Ermüdung zu unterscheiden. Ermüdung sei ein nach übermässiger Arbeit oder längerer Anstrengung auftretender Zustand der Mattigkeit, während Asthenie eine ausgeprägte und allgemeine Abnahme der Kräfte sei, die in keinem Zusammenhang mit Arbeit oder Anstrengung stehe.

36 Die Kommission hat sich in der mündlichen Verhandlung gegen diese Unterscheidung zwischen Asthenie und Ermüdung gewandt. Sie führt aus, daß manche Ärzte die Asthenie als Ermüdungszustand ansähen.

37 Es ist nicht Sache des Gerichtshofes, zu entscheiden, ob die Asthenie ein von der normalen Ermüdung zu unterscheidender krankhafter Zustand ist. Auch wenn die Asthenie als Krankheit angesehen werden könnte, wäre dies nicht ausschlaggebend dafür, ob Sargenor und Dynamisan genau umschriebene therapeutische und prophylaktische Eigenschaften aufweisen und ihre Wirkung auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert ist und ob sie zur Verhütung oder Behandlung einer Krankheit oder eines Leidens angewandt werden können.

38 Nach den Akten des Ausgangsverfahrens betreffen die von der Klägerin vorgelegten Untersuchungen und die Untersuchungen, die die französische Regierung in ihren Erklärungen erwähnt, die Wirkung von Arginin oder Argininaspartat bei verschiedenen Krankheitsbildern, nicht aber die Wirkung von Sargenor oder Dynamisan. Ferner beziehen sich diese Untersuchungen im wesentlichen auf die Wirkungen von Arginin oder Argininaspartat bei bestimmten Erkrankungen wie Krebs, die nicht in das Anwendungsgebiet von Sargenor oder Dynamisan fallen. Auch hat die Klägerin keinen Zusammenhang zwischen Sargenor und Dynamisan und den Untersuchungen über die Wirkungen von Arginin und Argininaspartat bei der Behandlung der Erkrankungen, auf die sich diese Untersuchungen beziehen, hergestellt.

39 Es ist weder dargetan, daß Sargenor und Dynamisan genau umschriebene therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften aufweisen, deren Wirkung sich auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert, noch, daß sie bei der Verhütung oder Behandlung einer spezifischen Krankheit oder eines spezifischen Leidens angewandt werden können.

40 Daher können Erzeugnisse wie Sargenor und Dynamisan nicht in Position 3004 der KN eingereiht werden.

Lysivit und Sarvit

41 Wie sich aus den Akten ergibt, wurde Lysivit im entscheidungserheblichen Zeitraum in Trinkampullen von 5 ml oder 10 ml vertrieben. Eine Ampulle von 5 ml enthielt 15 ìg Vitamin B 12 und eine Ampulle von 10 ml das Doppelte. Die Lysivitampullen enthielten ferner Aminosäuren und Konservierungsstoffe.

42 Die Dosierung von Lysivit beträgt beim Kind ein bis drei Ampullen von 5 ml täglich. Diese Dosierung entspricht einer Zufuhr von 30 ìg Vitamin B 12 pro Tag. Beim Erwachsenen beträgt die Dosierung ein bis vier Ampullen von 10 ml täglich, also im Durchschnitt zwei Ampullen von 10 ml, was 60 ìg Vitamin B 12 und im Hoechstfall 120 ìg Vitamin B 12 pro Tag entspricht. Dagegen beträgt die empfohlene tägliche Zufuhr von Vitamin B 12 nach den Gutachten des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses (Einunddreissigste Serie) "Nährstoff- und Energiezufuhr in der Europäischen Gemeinschaft" 1 ìg. Der Vitamin-B-12-Gehalt von Lysivit übersteigt also die empfohlene tägliche Zufuhr deutlich.

43 Die französische Regierung macht geltend, Lysivit werde bei der Behandlung funktioneller Asthenie angewandt.

44 Sarvit, das seit 1987 nicht mehr im Handel ist, wurde in Form von Trinkampullen von 5 ml oder 10 ml für Erwachsene angeboten. Seine Zusammensetzung umfasste 500 ìg Vitamin B 12 pro Ampulle von 10 ml und 250 ìg Vitamin B 12 pro Ampulle von 5 ml. Die Sarvitampullen enthielten ferner Aminosäuren und Konservierungsstoffe. Der Vitamin-B-12-Gehalt von Sarvit überstieg ebenfalls die empfohlene tägliche Zufuhr.

45 Die französische Regierung macht geltend, Sarvit werde im Rahmen der Behandlung funktioneller Asthenie angewandt.

46 Sie hat im Verfahren darauf hingewiesen, daß sich ein Mangel an Vitamin B 12 auf verschiedene Weise äussern könne: funktionelle Störungen des Zentralnervensystems, Störungen der Funktion des Herzmuskels und Kreislaufbeschwerden. Ein Mangel an Vitamin B 12 könne konkret zu einer perniziösen Anämie führen, einer Krankheit, die dadurch gekennzeichnet sei, daß der Organismus nicht in der Lage sei, Vitamin B 12 aufzunehmen.

47 Es ist jedoch nicht geltend gemacht worden, daß Lysivit und Sarvit zur Behandlung dieser Erkrankungen angeboten worden seien. Im übrigen ist in der mündlichen Verhandlung erläutert worden, daß die Aufnahme von Vitamin B 12 bei perniziöser Anämie in erster Linie durch intramuskuläre Injektionen erfolge.

48 Es ist weder dargetan, daß Lysivit und Sarvit genau umschriebene therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften aufweisen, deren Wirkung sich auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert, noch, daß sie bei der Verhütung oder Behandlung einer spezifischen Krankheit oder eines spezifischen Leidens angewandt werden können.

49 Daher können Erzeugnisse wie Lysivit und Sarvit nicht in Position 3004 der KN eingereiht werden.

50 Demnach ist auf die gestellte Frage zu antworten, daß Erzeugnisse, die gleiche Inhaltsstoffe wie Sargenor, Dynamisan, Lysivit und Sarvit im gleichen Verhältnis enthalten, nicht in Position 3004 der KN im Anhang I der Verordnung Nr. 2658/87 eingereiht werden können und daher nicht unter die Verordnung Nr. 1010/86 in der Fassung des Artikels 9 der Verordnung Nr. 1714/88 fallen.

Kostenentscheidung:

Kosten

51 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Vierte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal administratif Paris mit Urteil vom 12. Juni 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Erzeugnisse, die gleiche Inhaltsstoffe wie Sargenor, Dynamisan, Lysivit und Sarvit im gleichen Verhältnis enthalten, können nicht in Position 3004 der Kombinierten Nomenklatur im Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif eingereiht werden und fallen daher nicht unter die Verordnung (EWG) Nr. 1010/86 des Rates vom 25. März 1986 zur Festlegung der Grundregeln für die Produktionserstattung bei der Verwendung von bestimmten Erzeugnissen des Zuckersektors in der chemischen Industrie in der Fassung des Artikels 9 der Verordnung (EWG) Nr. 1714/88 der Kommission vom 13. Juni 1988 zur Änderung bestimmter Durchführungsverordnungen zur gemeinsamen Marktorganisation für Zucker nach Einführung der Kombinierten Nomenklatur.

Ende der Entscheidung

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