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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 03.02.1993
Aktenzeichen: C-275/91
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1408/71/EWG, VO Nr. 574/72/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 46
VO Nr. 574/72/EWG Art. 36
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die verfahrensrechtlichen Vorschriften des Artikels 44 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 und des Artikels 36 Absatz 4 der Verordnung Nr. 574/72 führen nicht zu einer Änderung der Voraussetzungen, von denen die Mitgliedstaaten die Gewährung von Leistungen bei Invalidität abhängig machen. Es ist Sache eines jeden Mitgliedstaats, zu regeln, ob der Betroffene auf eine Invaliditätsrente verzichten kann, um später eine ihm günstigere Altersrente zu erhalten.

Hat sich ein Antragsteller nach den nationalen Rechtsvorschriften zwischen zwei alternativen Leistungen zu entscheiden, ist somit die Leistung, die nach Artikel 44 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und bei der nach Artikel 46 dieser Verordnung vorzunehmenden Berechnung zu berücksichtigen ist, nur die Leistung, für die sich der Antragsteller entschieden hat.

2. Artikel 46 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 und Artikel 36 Absatz 4 der Verordnung Nr. 574/72 verbieten dem Träger eines Mitgliedstaats, der vom Träger eines anderen Mitgliedstaats mit einem Antrag auf Invaliditätsrente nach Artikel 40 der Verordnung Nr. 1408/71 befasst wurde, nicht, einem Arbeitnehmer anstelle der Invaliditätsrente, auf die der Betreffende verzichtet hat, um eine für ihn günstigere Altersrente zu erhalten, diese Altersrente zu gewähren.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 3. FEBRUAR 1993. - ALFREDO IACOBELLI GEGEN INSTITUT NATIONAL D'ASSURANCE MALADIE-INVALIDITE UND UNION NATIONALE DES FEDERATIONS MUTUALISTES NEUTRES. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE BRUXELLES - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - VERORDNUNGEN (EWG) NR. 1408/71 UND (EWG) NR. 574/72 DES RATES - LEISTUNGEN BEI INVALIDITAET UND ALTER. - RECHTSSACHE C-275/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Brüssel hat mit Urteil vom 15. Oktober 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Oktober 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 46 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und des Artikels 36 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der jeweils durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1993 geänderten und kodifizierten Fassung (ABl. L 230, S. 6) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem italienischen Staatsangehörigen Iacobelli und dem belgischen Institut national d' assurance maladie-invalidité (im folgenden: INAMI) sowie der Union nationale des fédérations mutualistes neutres.

3 Aus den Akten ergibt sich, daß der Kläger von 1936 bis 1964 in Italien und vom 13. August 1964 an in Belgien gearbeitet hat. Am 9. Dezember 1977 erlitt er einen Arbeitsunfall und stellte beim INAMI einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätsrente, das diesen Antrag anhand Artikel 36 der Verordnung Nr. 574/72 prüfte. Am 9. Dezember 1978 wurde der Kläger erwerbsunfähig, und vom 1. August 1980 an wurden ihm allein aufgrund der belgischen Rechtsvorschriften Leistungen bei Invalidität gewährt.

4 Gemäß Artikel 40 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 befasste das INAMI am 20. März 1979 das Istituto nazionale della previdenza sociale (im folgenden: INPS) mit der Feststellung der nach den italienischen Rechtsvorschriften geschuldeten Invaliditätsrente. Am 26. Mai 1981 teilte das INPS dem INAMI mit, der Kläger habe mit Wirkung vom 1. Januar 1979 gemäß Artikel 46 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 Anspruch auf eine anteilig berechnete italienische Invaliditätsrente. Am 24. Februar 1982 gab das INPS dem INAMI seine Entscheidung bekannt, Herrn Iacobelli statt der zuvor bewilligten, jedoch nicht ausbezahlten Invaliditätsrente mit Wirkung vom 1. Dezember 1980 eine Altersrente zu gewähren; an diesem Tag wurde der Betroffene 60 Jahre alt und hatte damit das in Italien für Männer geltende gesetzliche Rentenalter erreicht.

5 Das INPS erläuterte in einem später dem INAMI zugesandten Schreiben, daß Italien keine Invaliditätsrente gewähre, da der Betroffene mit Erklärung vom 6. Dezember 1982 ausdrücklich auf diese Rente verzichtet habe. Nach den Akten beruhte dieser Verzicht darauf, daß es nach den seinerzeit geltenden italienischen Rechtsvorschriften nicht möglich war, eine Invaliditätsrente in eine Altersrente umzuwandeln, die im vorliegenden Fall höher war als die dem Kläger zustehende Invaliditätsrente.

6 Angesichts dieser Sachlage stellte das INAMI von Oktober 1983 an alle weiteren Zahlungen an den Kläger ein. Am 3. August 1985 erhob dieser gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunal du travail Brüssel, das das Verfahren aussetzte, und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Verbieten es Artikel 36 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 und Artikel 46 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dem Träger eines Mitgliedstaats, der vom Träger eines anderen Mitgliedstaats mit einem Antrag auf Invaliditätsrente nach Artikel 40 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 befasst wurde, einem Wanderarbeitnehmer eine Altersrente anstelle einer Invaliditätsrente zu gewähren, wenn sich zeigt, daß die Altersrente, auf die allein nach den inländischen Rechtsvorschriften ein Anspruch besteht, günstiger ist als die Invaliditätsrente, die nach dem System der Zusammenrechnung und anteiligen Berechnung ermittelt worden ist? Mit anderen Worten: Stehen die genannten Vorschriften der vom Beklagten vorgenommenen Auslegung des Artikels 241 Absatz 1 der Königlichen Verordnung vom 4. November 1963, der zur Durchführung des Gesetzes vom 9. August 1963 zur Einführung und Regelung einer Pflichtversicherung im Krankheits- und Invaliditätsfall erlassen wurde, und des neuen Artikels 76 quater Absatz 2 Unterabsatz 1 dieses Gesetzes entgegen?

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Mit der Vorlagefrage möchte das nationale Gericht im wesentlichen wissen, ob zum einen Artikel 46 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 und Artikel 36 Absatz 4 der Verordnung Nr. 574/72 dem Träger eines Mitgliedstaats, der vom Träger eines anderen Mitgliedstaats mit einem Antrag auf Invaliditätsrente nach Artikel 40 der Verordnung Nr. 1408/71 befasst wurde, verbieten, einem Arbeitnehmer anstelle der Invaliditätsrente, auf die der Betreffende verzichtet hat, um eine für ihn günstigere Altersrente zu erhalten, diese Altersrente zu gewähren, und zum anderen, falls diese Frage bejaht wird, ob der Verlust der Leistungen bei Invalidität, die vom Träger des letzteren Mitgliedstaats aufgrund dessen innerstaatlichen Rechtsvorschriften geschuldet werden, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.

9 Nach Ansicht des INAMI ergibt sich aus Artikel 44 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71, der nach Artikel 40 Absatz 1 dieser Verordnung für Leistungen bei Invalidität gilt, sowie aus Artikel 36 Absatz 4 der Verordnung Nr. 574/72, daß das Feststellungsverfahren hinsichtlich aller Rechtsvorschriften eingeleitet werde, die für den Arbeitnehmer oder Selbständigen gegolten hätten, falls die betreffende Person die Feststellung der Leistungen beantrage; von dieser Regel gebe es nur in bezug auf die Leistungen bei Alter, die aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten erworben worden seien, keine Ausnahmen. In dem vorliegenden Fall einer Invaliditätsrente sei ein Verzicht nicht möglich.

10 Es ist festzustellen, daß nach Artikel 40 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der in das Kapitel über die Invalidität eingefügt ist, die Vorschriften des Kapitels 3 über Alter und Tod entsprechend anwendbar sind, wenn für einen Arbeitnehmer oder Selbständigen nacheinander oder abwechselnd die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten, sofern die Rechtsvorschriften mindestens eines dieser Staaten die Höhe der Leistungen bei Invalidität nicht von der Dauer der Versicherungszeiten abhängig machen. Dies ist beim Kläger der Fall.

11 Artikel 44 Absatz 2 der Verordnung, der somit auf den Fall der Invalidität entsprechend anwendbar ist, lautet:

"Beantragt die betreffende Person die Feststellung der Leistungen, so wird, sofern Artikel 49 nichts anderes bestimmt, daß Feststellungsverfahren hinsichtlich aller Rechtsvorschriften eingeleitet, die für den Arbeitnehmer oder Selbständigen galten. Dies gilt nicht, falls die betreffende Person ausdrücklich beantragt, die Feststellung der aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten erworbenen Ansprüche auf Leistungen bei Alter aufzuschieben."

12 Artikel 36 Absatz 4 der Verordnung Nr. 574/72, der in das Kapitel über die Invalidität eingefügt ist, lautet:

"Ein bei dem Träger eines Mitgliedstaats gestellter Leistungsantrag hat zur Folge, daß die Leistungen gleichzeitig nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedstaaten, deren Voraussetzungen der Antragsteller erfuellt, festgestellt werden; dies gilt jedoch nicht, wenn der Antragsteller gemäß Artikel 44 Absatz 2 der Verordnung wünscht, daß die Feststellung der nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten erworbenen Leistungen bei Alter aufgeschoben wird."

13 Ohne daß entschieden zu werden braucht, ob die Regel des Artikel 44 Absatz 2 auf den Fall der Invalidität anwendbar ist, ist festzustellen, daß die vorstehend genannten Vorschriften verfahrensrechtlicher Art sind und nicht zu einer Änderung der Voraussetzungen führen, von denen die Mitgliedstaaten die Gewährung von Leistungen bei Invalidität abhängig machen. Es ist Sache eines jeden Mitgliedstaats, zu regeln, ob der Betroffene auf eine Invaliditätsrente verzichten kann, um später eine ihm günstigere Altersrente zu erhalten.

14 Somit ist, wie der Generalanwalt ausgeführt hat (Nr. 23 seiner Schlussanträge), wenn ein Antragsteller sich nach den nationalen Rechtsvorschriften zwischen zwei alternativen Leistungen zu entscheiden hat, die Leistung, die nach Artikel 44 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung und bei der nach Artikel 46 dieser Verordnung vorzunehmenden Berechnung zu berücksichtigen ist, nur die Leistung, für die sich der Antragsteller entschieden hat.

15 Für diese Auslegung spricht vor allem, daß nach der vom INAMI vertretenen Auffassung dem Betroffenen ein in einem Mitgliedstaat allein nach dessen Rechtsvorschriften erworbenes Recht entzogen würde, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes gegen Artikel 51 EWG-Vertrag verstieße (vgl. u. a. Urteil vom 21. Oktober 1975 in der Rechtssache 24/75, Petroni, Slg. 1975, 1149, Randnr. 21).

16 Dem nationalen Gericht ist deshalb zu antworten, daß Artikel 46 Absatz 1 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 und Artikel 36 Absatz 4 der Verordnung Nr. 574/72 in ihrer geänderten Fassung dem Träger eines Mitgliedstaates, der vom Träger eines anderen Mitgliedstaats mit einem Antrag auf Invaliditätsrente nach Artikel 40 der Verordnung Nr. 1408/71 befasst wurde, nicht verbieten, einem Arbeitnehmer anstelle der Invaliditätsrente, auf die der Betreffende verzichtet hat, um eine für ihn günstigere Altersrente zu erhalten, die Altersrente gewährt.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der italienischen und der griechischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal du travail Brüssel mit Urteil vom 15. Oktober 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 46 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und Artikel 36 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der jeweils durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 geänderten und kodifizierten Fassung verbieten dem Träger eines Mitgliedstaats, der vom Träger eines anderen Mitgliedstaats mit einem Antrag auf Invaliditätsrente nach Artikel 40 der Verordnung Nr. 1408/71 befasst wurde, nicht, einem Arbeitnehmer anstelle der Invaliditätsrente, auf die der Betreffende verzichtet hat, um eine für ihn günstigere Altersrente zu erhalten, diese Altersrente zu gewähren.

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