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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.09.1996
Aktenzeichen: C-277/94
Rechtsgebiete: VO (EWG) Nr. 1408/71


Vorschriften:

VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 13
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Beschluß Nr. 3/80 des Assoziationsrates EWG°Türkei über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige ist mangels einer entsprechenden ausdrücklichen Vorschrift am Tag seines Erlasses in Kraft getreten und bindet seither die Vertragsparteien. Aus den Artikeln 6, 22 Absatz 1 und 23 des Assoziierungsabkommens EWG°Türkei ergibt sich, daß die Beschlüsse des Assoziationsrates Rechtsakte eines im Abkommen vorgesehenen Organs sind, zu deren Erlaß dieses Organ von den Vertragsparteien ermächtigt worden ist. Da durch diese Beschlüsse die Ziele des Abkommens verwirklicht werden, hängen sie unmittelbar mit diesem Abkommen zusammen und sind nach dessen Artikel 22 Absatz 1 Satz 2 für die Vertragsparteien verbindlich.

2. Ebenso wie die Bestimmungen von Verträgen der Gemeinschaft mit Drittländern sind die Vorschriften, die ein durch ein Assoziierungsabkommen zur Durchführung der Vorschriften dieses Abkommens eingesetzter Assoziationsrat erlassen hat, als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthalten, deren Erfuellung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen.

Diese Voraussetzungen erfuellt der Beschluß Nr. 3/80 des Assoziationsrates EWG°Türkei über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige nicht.

Ebenso wie die Verordnung Nr. 1408/71, auf die der Beschluß Nr. 3/80 verweist und die ebenfalls die Koordinierung der verschiedenen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft bezweckt, den Erlaß von Durchführungsmaßnahmen erforderlich gemacht hat, die Gegenstand der Verordnung Nr. 574/72 sind, ist dieser Beschluß seiner Art nach dazu bestimmt, durch einen weiteren Rechtsakt des Rates ergänzt und in der Gemeinschaft durchgeführt zu werden.

Somit haben die Artikel 12 und 13 dieses Beschlusses, solange der Rat nicht die zur Durchführung des Beschlusses unerläßlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat, in den Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung und begründen daher für den einzelnen nicht das Recht, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie zu berufen.


Urteil des Gerichtshofes vom 10. September 1996. - Z. Taflan-Met, S. Altun-Baser, E. Andal-Bugdayci gegen Bestuur van de Sociale Verzekeringsbank und O. Akol gegen Bestuur van de Nieuwe Algemene Bedrijfsvereniging. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Arrondissementsrechtbank Amsterdam - Niederlande. - Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Beschluß des Assoziationsrates - Soziale Sicherheit - Inkrafttreten - Unmittelbare Wirkung. - Rechtssache C-277/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die Arrondissementsrechtbank Amsterdam hat mit Beschluß vom 23. August 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Oktober 1994, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung der Artikel 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ABl. 1983, C 110, S. 60; nachstehend: Beschluß Nr. 3/80) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingesetzt, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und mit dem Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685; nachstehend: Abkommen) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.

2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen Z. Taflan-Met, S. Altun-Baser und E. Andal-Bugdayci einerseits und der Bestuur van de Sociale Verzekeringsbank andererseits sowie zwischen O. Akol und der Bestuur van de Nieuwe Algemene Bedrijfsvereniging wegen der Weigerung der zuständigen niederländischen Träger, den Betroffenen Leistungen der sozialen Sicherheit zu gewähren.

3 Der Beschluß Nr. 3/80 soll die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten dahin gehend koordinieren, daß die jetzt oder früher in der Gemeinschaft beschäftigten türkischen Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der sozialen Sicherheit beziehen können.

4 Zu diesem Zweck verweist der Beschluß Nr. 3/80 im wesentlichen auf eine Reihe von Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), und ° seltener ° der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 74, S. 1).

5 Titel III des Beschlusses Nr. 3/80 umfasst die an der Verordnung Nr. 1408/71 orientierten Koordinierungsbestimmungen über die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter und Tod (Renten), Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, über Sterbegeld sowie über die Familienleistungen und -beihilfen.

6 Artikel 12, der das Kapitel 2 ° "Invalidität" ° bildet, sieht hierzu insbesondere folgendes vor:

"Die Leistungsansprüche eines Arbeitnehmers, für den nacheinander oder abwechselnd die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten, werden gemäß Artikel 37 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2, Artikel 38, 39 und 40, Artikel 41 Absatz 1 Buchstaben a, b, c und e und Absatz 2 und Artikel 42 und 43 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 festgestellt.

Aber:

a) für die Anwendung von Artikel 39 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 werden alle in der Gemeinschaft oder in der Türkei wohnenden Familienangehörigen, einschließlich Kinder, berücksichtigt;

b) in Artikel 40 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 wird die Bezugnahme auf die Bestimmungen des Titels III, Kapitel 3 der genannten Verordnung durch die Bezugnahme auf die Bestimmungen des Titels III, Kapitel 3 dieses Beschlusses ersetzt."

7 Artikel 13, der zu Kapitel 3 ° "Alter und Tod (Renten)" ° des Titels III des Beschlusses Nr. 3/80 gehört, bestimmt:

"Die Leistungsansprüche eines Arbeitnehmers, für den die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten, und die Leistungsansprüche seiner Hinterbliebenen werden nach Artikel 44 Absatz 2 Satz 1, Artikel 45, Artikel 46 Absatz 2 und den Artikeln 47, 48, 49 und 51 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 festgestellt.

Aber:

a) Artikel 46 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 gilt selbst dann, wenn die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfuellt sind, ohne daß es notwendig wäre, auf Artikel 45 derselben Verordnung zurückzugreifen.

b) Bei der Anwendung des Artikels 47 Absatz 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 werden alle in der Gemeinschaft oder in der Türkei wohnenden Familienangehörigen, einschließlich Kinder, berücksichtigt.

c) Bei der Anwendung des Artikels 49 Absatz 1 Buchstabe a und Absatz 2 und des Artikels 51 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 wird der Hinweis auf Artikel 46 durch den Hinweis auf Artikel 46 Absatz 2 ersetzt."

8 Anders als in den beiden anderen vom Assoziationsrat EWG°Türkei am selben Tage erlassenen Beschlüssen Nr. 1/80 über die Entwicklung der Assoziation und Nr. 2/80 zur Festlegung der Bedingungen für die Durchführung der Sonderhilfe für die Türkei (beide nicht veröffentlicht) ist im Beschluß Nr. 3/80 der Zeitpunkt des Inkrafttretens nicht festgelegt.

9 Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, sind die Klägerinnen in den ersten drei Ausgangsverfahren türkische Staatsangehörige, wohnen in der Türkei und sind Witwen von türkischen Arbeitnehmern, die in verschiedenen Mitgliedstaaten, darunter den Niederlanden, als Arbeitnehmer beschäftigt waren. Nach dem Tod ihrer Ehemänner beantragten die Klägerinnen in den Mitgliedstaaten, in denen ihre Ehemänner gearbeitet hatten, eine Witwenrente. Die zuständigen Träger in Deutschland und Belgien gaben diesen Anträgen statt. Dagegen lehnten die niederländischen Behörden die Anträge mit der Begründung ab, daß die Ehemänner der drei Klägerinnen des Ausgangsverfahrens in der Türkei verstorben seien, der Versicherungsnehmer oder seine Hinterbliebenen nach den niederländischen Rechtsvorschriften aber nur Anspruch auf eine Leistung hätten, wenn der Versicherungsnehmer bei Eintritt des Versicherungsfalls nach diesen Rechtsvorschriften versichert gewesen sei.

10 Der Kläger im vierten Ausgangsverfahren ist ein türkischer Staatsangehöriger, der in Deutschland wohnt und zunächst in den Niederlanden und dann in Deutschland beschäftigt war, wo er erwerbsunfähig wurde. Er beantragte daraufhin sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden eine Invaliditätsrente. Im Gegensatz zu dem deutschen Träger wies der zuständige niederländische Träger den Antrag zurück, da die Erwerbsunfähigkeit von Herrn Akol eingetreten sei, als er nicht mehr in den Niederlanden beschäftigt und deshalb nicht nach den niederländischen Rechtsvorschriften versichert gewesen sei.

11 Aufgrund der Erwägung, daß die Kläger des Ausgangsverfahrens in den Niederlanden die beantragte Leistung nur aufgrund des Beschlusses Nr. 3/80, insbesondere seiner Artikel 12 und 13, erhalten könnten, hat die Arrondissementsrechtbank Amsterdam das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Findet der Beschluß Nr. 3/80 des Assoziationsrates EWG°Türkei über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige in der Gemeinschaft Anwendung, ohne daß eine Handlung zu seiner Umsetzung gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Abkommens über die zur Durchführung des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei zu treffenden Maßnahmen und die dabei anzuwendenden Verfahren vorgenommen worden ist?

2. a) Wenn der Beschluß Nr. 3/80 in der Gemeinschaft (noch) keine Anwendung findet: Können diesem Beschluß unter Umständen trotzdem Rechtsfolgen zuerkannt werden, soweit die Bestimmungen in diesem Beschluß sich für eine unmittelbare Anwendung eignen?

b) Wenn die erste Frage bejaht wird: Ist die Regelung in den Artikeln 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80 so hinreichend konkret und bestimmbar, daß sie sich für eine unmittelbare Anwendung eignet, ohne daß nähere Durchführungsmaßnahmen gemäß Artikel 32 des Beschlusses Nr. 3/80 erforderlich sind?

3. a) Wenn Artikel 13 des Beschlusses Nr. 3/80 in Fällen wie dem vorliegenden anwendbar ist, sind dann die in diesem Artikel genannten Artikel der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der Fassung, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses des Assoziationsrates am 19. September 1980 galt, anzuwenden oder muß auch den Änderungen der betreffenden Artikel der Verordnung Nr. 1408/71, die später erfolgt sind, Rechnung getragen werden?

b) Ist dabei auch von Bedeutung, ob die Änderungen nach dem 19. September 1980 dazu geführt haben, daß Teile der betreffenden Bestimmungen später in anderen Artikeln oder in Anhängen der Verordnung Nr. 1408/71 näher geregelt wurden?

Zur ersten Frage

12 Die erste Vorlagefrage, die die Anwendbarkeit des Beschlusses Nr. 3/80 in der Gemeinschaft betrifft, ist dahin zu verstehen, daß das Gericht wissen möchte, ob und gegebenenfalls wann dieser Beschluß in Kraft getreten ist.

13 Da der Beschluß Nr. 3/80 keine Bestimmung über sein Inkrafttreten enthält, ist zu prüfen, ob sich eine solche Wirkung aus dem Abkommen ergeben kann, auf das dieser Beschluß gestützt ist.

14 Artikel 6 des Abkommens, der zu Titel I ° "Grundsätze" ° gehört, sieht vor: "Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die ihm in dem Abkommen zugewiesen sind."

15 Artikel 22 Absatz 1 in Titel III ° "Allgemeine und Schlußbestimmungen" ° lautet:

"Zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens und in den darin vorgesehenen Fällen ist der Assoziationsrat befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur Durchführung der Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen..."

16 Schließlich bestimmt Artikel 23, der ebenfalls zu Titel III des Abkommens gehört:

"Der Assoziationsrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates und der Kommission der Gemeinschaft einerseits und Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits.

...

Der Assoziationsrat handelt einstimmig."

17 Aus der Gesamtheit dieser Bestimmungen ergibt sich, daß die Beschlüsse des Assoziationsrates EWG°Türkei Rechtsakte eines im Abkommen vorgesehenen Organs sind, zu deren Erlaß dieses Organ von den Vertragsparteien ermächtigt worden ist.

18 Da durch diese Beschlüsse die Ziele des Abkommens verwirklicht werden, hängen sie unmittelbar mit diesem Abkommen zusammen und sind nach dessen Artikel 22 Absatz 1 Satz 2 für die Vertragsparteien verbindlich.

19 Die Vertragsparteien haben durch das Abkommen der Verbindlichkeit dieser Beschlüsse zugestimmt und würden daher, wenn sie sich dieser Bindung entzögen, gegen das Abkommen selbst verstossen.

20 Entgegen der Auffassung der Beklagten des Ausgangsverfahrens und der Regierungen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, kann die Verbindlichkeit der Beschlüsse des Assoziationsrates somit nicht vom Erlaß von Durchführungsmaßnahmen durch die Vertragsparteien abhängen.

21 Da der Beschluß Nr. 3/80 keine Vorschrift über sein Inkrafttreten enthält, ergibt sich somit aus der Verbindlichkeit, die das Abkommen den Beschlüssen des Assoziationsrates EWG°Türkei verleiht, daß der genannte Beschluß am Tag seines Erlasses, d. h. am 19. September 1980, in Kraft getreten ist und daß die Vertragsparteien seither an ihn gebunden sind.

22 Somit ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, daß der Beschluß Nr. 3/80 am Tag seines Erlasses, d. h. am 19. September 1980, in Kraft getreten ist und seither die Vertragsparteien bindet.

Zur zweiten Frage

23 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 3/80, insbesondere seine Artikel 12 und 13, in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung haben und damit für den einzelnen das Recht begründen, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie zu berufen.

24 Nach ständiger Rechtsprechung (u. a. Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnr. 14) ist eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfuellung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen.

25 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89 (Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnrn. 14 und 15) festgestellt, daß anhand derselben Kriterien zu ermitteln ist, ob die Bestimmungen eines Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei unmittelbare Wirkung haben können.

26 Wie oben ausgeführt, bezweckt der Beschluß Nr. 3/80 die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten, damit die jetzt oder früher in der Gemeinschaft beschäftigten türkischen Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der sozialen Sicherheit beziehen können.

27 Die Verordnung Nr. 1408/71, auf die der Beschluß Nr. 3/80 verweist, bezweckt ebenfalls die Koordinierung der verschiedenen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft.

28 Für die konkrete Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 war jedoch der Erlaß von Durchführungsmaßnahmen erforderlich, die Gegenstand der umfangreichen Verordnung Nr. 574/72 sind.

29 Wie bereits ausgeführt, verweist der Beschluß Nr. 3/80 auf eine Reihe von Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung Nr. 574/72, wobei für die Anwendung dieser Bestimmungen der besonderen Lage der türkischen Arbeitnehmer, auf die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten anwendbar sind oder waren, sowie ihrer Familienangehörigen, die in einem der Mitgliedstaaten wohnen, Rechnung getragen wird.

30 Aus einem Vergleich der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 mit dem Beschluß Nr. 3/80 ergibt sich jedoch, daß dieser viele genaue und detaillierte Bestimmungen nicht enthält, die aber für die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 innerhalb der Gemeinschaft als unerläßlich angesehen worden sind.

31 So führt die Verordnung Nr. 1408/71, die vom Rat auf der Grundlage des Artikels 51 des Vertrages erlassen wurde, den dort festgelegten fundamentalen Grundsatz durch, daß Wanderarbeitnehmern und deren anspruchsberechtigten Angehörigen die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen zu sichern ist. Die in der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltenen Vorschriften über die Zusammenrechnung konnten jedoch erst konkret angewandt werden, nachdem Artikel 15 der Verordnung Nr. 574/72 erlassen worden war.

32 Desgleichen verweist der Beschluß Nr. 3/80 zwar auf Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71, die den Grundsatz der Zusammenrechnung für die Zweige Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter, Sterbegeld und Familienleistungen aufstellen, doch bedarf es für die Anwendung dieses Grundsatzes des vorherigen Erlasses ergänzender Durchführungsmaßnahmen, wie sie Artikel 15 der Verordnung Nr. 574/72 enthält.

33 Somit ist festzustellen, daß der Beschluß Nr. 3/80 seiner Art nach dazu bestimmt ist, durch einen weiteren Rechtsakt des Rates ergänzt und in der Gemeinschaft durchgeführt zu werden.

34 Deshalb legte die Kommission am 8. Februar 1983 einen Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Anwendung des Beschlusses Nr. 3/80 in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. C 110, S. 1) vor.

35 Die vorgeschlagene Verordnung stellt sich als ein Rechtsakt dar, durch den der Beschluß Nr. 3/80 innerhalb der Gemeinschaft zur Anwendung gebracht werden soll. Ihr Artikel 1 lautet nämlich: "Der Beschluß Nr. 3/80 des Assoziationsrats EWG°Türkei..., der dieser Verordnung in der Anlage beigefügt ist, findet in der Gemeinschaft Anwendung." Sie enthält zu diesem Zweck fast 80 Artikel und 7 Anhänge über die "ergänzenden Regelungen für die Durchführung des Beschlusses Nr. 3/80", durch die detaillierte Regeln für die Anwendung der Bestimmungen des Beschlusses für jede in seinen Anwendungsbereich fallende Leistungsart aufgestellt werden und die darüber hinaus nähere Bestimmungen u. a. über das Verbot der Zusammenrechnung von Leistungen, die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften und die Zusammenrechnung der Zeiten sowie Finanz- und Übergangsbestimmungen enthalten. Diese Bestimmungen zur Durchführung des Beschlusses Nr. 3/80 orientieren sich weitgehend an denen der Verordnung Nr. 574/72. So lehnt sich z. B. Artikel 13 des Verordnungsvorschlags bezueglich des Grundsatzes der Zusammenrechnung eng an Artikel 15 der Verordnung Nr. 574/72 an.

36 Dieser Verordnungsvorschlag ist vom Rat jedoch noch nicht angenommen worden.

37 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, daß der Beschluß Nr. 3/80, wenngleich einige seiner Bestimmungen eindeutig und bestimmt sind, nicht angewandt werden kann, solange der Rat keine ergänzenden Maßnahmen zu seiner Durchführung erlassen hat.

38 Somit ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, daß die Artikel 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80, solange der Rat nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerläßlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat, in den Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung haben und daher für den einzelnen nicht das Recht begründen, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie zu berufen.

Zur dritten Frage

39 Angesichts der Antwort auf die erste und auf die zweite Frage erübrigt sich eine Prüfung der dritten Frage.

Kostenentscheidung:

Kosten

40 Die Auslagen der niederländischen, der deutschen, der griechischen, der spanischen, der französischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Arrondissementsrechtbank Amsterdam mit Beschluß vom 23. August 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Der Beschluß Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige ist am Tag seines Erlasses, d. h. am 19. September 1980, in Kraft getreten und bindet seither die Vertragsparteien.

2. Die Artikel 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80 haben, solange der Rat nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerläßlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat, in den Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung und begründen daher für den einzelnen nicht das Recht, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie zu berufen.

Ende der Entscheidung

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