Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 25.01.2007
Aktenzeichen: C-278/05
Rechtsgebiete: EG, Richtlinie 80/987/EWG


Vorschriften:

EG Art. 234
Richtlinie 80/987/EWG Art. 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

25. Januar 2007

"Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers -Richtlinie 80/987/EWG - Umsetzung - Art. 8 - Betriebliche oder überbetriebliche Zusatzversorgungseinrichtungen - Leistungen bei Alter - Schutz erworbener Rechte - Umfang des Schutzes - Haftung eines Mitgliedstaats wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung einer Richtlinie - Voraussetzungen"

Parteien:

In der Rechtssache C-278/05

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 22. Juni 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2005, in dem Verfahren

Carol Marilyn Robins u. a.

gegen

Secretary of State for Work and Pensions

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, des Richters J. Klucka, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. Makarczyk und L. Bay Larsen (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2006,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- von Frau Robins u. a., vertreten durch I. Walker, Solicitor, D. Anderson, QC, und P. Newman, Barrister,

- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. White als Bevollmächtigte im Beistand von D. Pannick und D. Wyatt, QC, sowie von R. Hitchcock und K. Smith, Barristers,

- von Irland, vertreten durch D. J. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von P. McGarry, BL,

- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch G. Rozet und J. Enegren als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Juli 2006

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23; im Folgenden: Richtlinie).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Robins sowie 835 weiteren Mitgliedern zweier betrieblicher Altersversorgungssysteme (im Folgenden: Kläger) und dem Secretary of State for Work and Pensions, der im Vereinigten Königreich für Fragen der Beschäftigung und Altersversorgung zuständig ist, wegen der Kürzung der Ansprüche der Kläger auf Leistungen bei Alter infolge der Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

"Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind."

4 Art. 2 der Richtlinie lautet:

"(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig,

a) wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers zur gemeinschaftlichen Befriedigung seiner Gläubiger beantragt worden ist, das die Berücksichtigung der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Ansprüche gestattet, und

b) wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde

- entweder die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat,

- oder festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen.

(2) Diese Richtlinie lässt das einzelstaatliche Recht bezüglich der Begriffsbestimmung der Worte 'Arbeitnehmer', 'Arbeitgeber', 'Arbeitsentgelt', 'erworbenes Recht' und 'Anwartschaftsrecht' unberührt."

5 Nach Art. 3 der Richtlinie treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich von Art. 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen, die das Arbeitsentgelt für den vor einem bestimmten Zeitpunkt liegenden Zeitraum betreffen, sicherstellen. Dieser Zeitpunkt ist nach Wahl der Mitgliedstaaten einer der in Art. 3 Abs. 2 vorgesehenen.

6 Nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten die in Art. 3 vorgesehene Zahlungspflicht der Garantieeinrichtungen auf die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche in Höhe des Arbeitsentgelts für entweder drei Monate, achtzehn Monate oder acht Wochen begrenzen.

7 Laut Art. 7 "[treffen d]ie Mitgliedstaaten ... die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Nichtzahlung an ihre Versicherungsträger von Pflichtbeiträgen zu den einzelstaatlichen gesetzlichen Systemen der sozialen Sicherheit, die vom Arbeitgeber vor Eintritt seiner Zahlungsunfähigkeit geschuldet waren, keine Nachteile für die Leistungsansprüche der Arbeitnehmer gegenüber diesen Versicherungsträgern mit sich bringt, soweit die Arbeitnehmerbeitragsanteile von den gezahlten Löhnen einbehalten worden sind".

8 Nach Art. 8 "[vergewissern sich d]ie Mitgliedstaaten ..., dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aus dessen Unternehmen oder Betrieb bereits ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer erworbenen Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der einzelstaatlichen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit getroffen werden".

9 Laut Art. 9 schränkt die Richtlinie nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten ein, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen.

Nationales Recht

Die Absicherung der Beitragszahlungen zu den Altersversorgungssystemen

10 Nach dem Employment Rights Act 1996 und dem Pension Schemes Act 1993 (im Folgenden: PSA 1993) nimmt das Redundancy Payments Directorate im Namen des Secretary of State for Trade and Industry Zahlungen aus dem National Insurance Fund (im Folgenden: NIF) vor, um die Rechte ehemaliger Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers zu wahren. Es wird dann an deren Stelle Gläubiger im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers.

11 Section 124 des PSA 1993 ermöglicht die Zahlung "einschlägiger Beiträge" aus Mitteln des NIF an ein Versorgungssystem, wenn Beitragszahlungen eines zahlungsunfähigen Arbeitgebers ausbleiben.

12 Bei den in Section 124 (2) des PSA 1993 definierten "einschlägigen Beiträgen" handelt es sich um Beiträge, die

- von einem Arbeitgeber auf eigene Rechnung zu zahlen sind oder

- im Namen eines Arbeitnehmers zu zahlen sind, sofern der Arbeitgeber tatsächlich eine diesem Betrag entsprechende Summe vom Entgelt des Arbeitnehmers als dessen Beitragsleistung abgezogen hat.

13 Die Summe der vom Arbeitgeber auf eigene Rechnung zu zahlenden Beiträge wird in Section 124 (3) des PSA 1993 definiert als der geringste der folgenden Beträge:

- der Betrag, der in den zwölf Monaten vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers fällig geworden ist;

- wenn die Leistungen des Versorgungssystems unter Bezug auf das Gehalt eines Mitglieds berechnet werden: der Betrag, der nach Bescheinigung eines Aktuars erforderlich ist, um die Verbindlichkeiten des Versorgungssystems bei Auflösung gegenüber oder hinsichtlich der Arbeitnehmer zu erfüllen;

- 10 % der Gesamtsumme des den Arbeitnehmern in den zwölf Monaten vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit gezahlten oder zu zahlenden Entgelts.

14 Der Betrag, der für rückständige Beiträge im Namen eines Arbeitnehmers gefordert werden kann, wird in Section 124 (5) des PSA 1993 definiert als die Summen, die in den zwölf Monaten vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vom Entgelt des Arbeitnehmers abgezogen worden sind.

15 Section 117 (2) (b) des PSA 1993 sieht vor, dass die vom Secretary of State vorgenommenen Zahlungen aus Mitteln des NIF finanziert werden, und Section 127 regelt den Forderungsübergang.

Der Pensions Compensation Board und das Fraud Compensation Scheme

16 Die Sections 81 bis 86 des Pensions Act 1995 in der Fassung des Welfare Reform and Pensions Act 1999 (im Folgenden: PA 1995) sahen Ersatzleistungen für Versorgungsbezüge durch den Pensions Compensation Board vor, wenn der Arbeitgeber zahlungsunfähig war und der Wert der Aktiva des Versorgungssystems durch eine Straftat, die unredliches Verhalten ("dishonesty") in betrügerischer Absicht ("defraud") einschloss, vermindert worden war.

17 Diese Regelung über einen Ausgleich durch den Pensions Compensation Board wurde zum September 2005 aufgrund der Sections 182 bis 189 des Pensions Act 2004 (im Folgenden: PA 2004) - ebenfalls für den Fall, dass die Vermögensmasse infolge eines Betrugs unzureichend ist - durch das Fraud Compensation Scheme ersetzt.

Der Rückkauf von Ansprüchen im staatlichen Altersversorgungssystem

18 Nach Section 55 des PSA 1993 in seiner durch Section 141 des PA 1995 geänderten Fassung sowie den Occupational Pension Schemes (Contracting-out) (Amount Required for Restoring State Scheme Rights and Miscellaneous Amendment) Regulations 1998 (SI 1998/1397) können Mitglieder von Versorgungseinrichtungen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, ihre Altersversorgungsansprüche im staatlichen System vollständig oder teilweise wiederherstellen, wenn die Liquidation der betreffenden Einrichtung frühestens am 6. April 1997 begonnen hat und diese über kein ausreichendes Vermögen verfügt.

Unabhängige Treuhandfonds für die Geldmittel der Versorgungssysteme

19 Section 592 des Income and Corporation Taxes Act 1988 gewährte Arbeitgebern und Arbeitnehmern Steuervergünstigungen auf an Versorgungssysteme gezahlte Beträge, wenn die Gelder in einem unabhängigen Treuhandfonds gehalten wurden und somit anderen Gläubigern im Fall der Zahlungsunfähigkeit nicht zur Verfügung standen. Zusatzversorgungssysteme hielten sich wegen der gewährten Steuervergünstigung in der Regel an diese Verpflichtung.

20 Seit dem 6. April 2006 setzt eine Steuerbegünstigung nicht mehr voraus, dass Gelder von Versorgungssystemen in einem unabhängigen Treuhandfonds gehalten werden. Jedoch müssen gemäß der am 23. September 2005 in Kraft getretenen Section 252 (2) des PA 2004 Versorgungssysteme als unabhängige Treuhandvermögen errichtet werden, damit die Treuhänder Finanzierungszahlungen entgegennehmen können.

Das "Minimum Funding Requirement" (MFR) und die Forderung gegen den Arbeitgeber

21 Nach Section 56 des PA 1995 müssen betriebliche Versorgungssysteme - mit Ausnahme bestimmter Systeme - sicherstellen, dass der Wert ihrer Aktiva nicht geringer ist als der Umfang ihrer Verbindlichkeiten, die auf der Grundlage des "Minimum Funding Requirement [Mindestfinanzierungserfordernis]" bewertet werden.

22 Section 75 des PA 1995 sowie die Occupational Pension Schemes (Deficiency on Winding Up etc.) Regulations 1996 (SI 1996/3128) in der Fassung der Occupational Pension Schemes (Minimum Funding Requirement and Miscellaneous Amendments) Regulations 2002 (SI 2002/380) (im Folgenden: Masseunzulänglichkeitsverordnung) sehen vor, dass, wenn ein gehaltsbezogenes betriebliches Versorgungssystem, auf das Section 75 Anwendung findet, liquidiert oder der Arbeitgeber im Sinne dieser Section zahlungsunfähig wird und die Aktiva des Systems zum maßgeblichen Zeitpunkt seine Verbindlichkeiten unterschreiten, ein der Differenz entsprechender Betrag als Forderung der Treuhänder des Systems gegen den Arbeitgeber behandelt wird, wodurch den Treuhändern ermöglicht wird, eine Klage zur Beitreibung der Forderung zu erheben.

23 Zum 6. April 2005 wurde Section 75 des PA 1995 durch Section 271 des PA 2004 geändert und die Masseunzulänglichkeitsverordnung durch die Occupational Pension Schemes (Employer Debt) Regulations 2005 (SI 2005/678) in der Fassung der Occupational Pension Schemes (Employer Debt etc.) (Amendment) Regulations 2005 (SI 2005/2224) ersetzt. Die vorstehend genannten Vorschriften sind jedoch dem Grunde nach unverändert geblieben.

24 Darüber hinaus sind bestimmte Arbeitgeberbeiträge zu betrieblichen oder staatlichen Versorgungssystemen vorrangige Forderungen nach Kategorie 4 des Anhangs 6 des Insolvency Act 1986, insbesondere

- Arbeitnehmerbeiträge zu einem betrieblichen Versorgungssystem, die innerhalb der letzten vier Monate vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vom Entgelt des Arbeitnehmers abgezogen, aber vom Arbeitgeber noch nicht an die Einrichtung entrichtet worden sind, und

- Beiträge, die der Arbeitgeber für die letzten zwölf Monate vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit einem betrieblichen Versorgungssystem im Rahmen des "contracting-out" (Möglichkeit der Befreiung von der Zugehörigkeit zum State Earnings Pension Scheme [SERPS] - dem System der entgeltbezogenen staatlichen Zusatzrente - durch den Beitritt zu einem betrieblichen Versorgungssystem) schuldet, sofern die Beiträge der Finanzierung der garantierten Mindestrente (Section 8 [2] des PSA 1993) oder der nach dem Versorgungssystem geschützten Rechte (Section 10 des PSA 1993) zuzurechnen sind.

Ausgangsverfahren

25 Die Kläger sind ehemalige Arbeitnehmer der Gesellschaft ASW Limited, über deren Vermögen aufgrund eines Beschlusses vom 24. April 2003 ein Insolvenzverfahren anhängig ist.

26 Sie waren Mitglieder von Altersversorgungssystemen, die durch diese Gesellschaft finanziert wurden, nämlich des ASW Pension Plan und des ASW Sheerness Steel Group Pension Fund (im Folgenden: Altersversorgungssysteme).

27 Diese Versorgungssysteme weisen folgende Merkmale auf, die bei privaten endgehaltsbezogenen Betriebsrentensystemen im Vereinigten Königreich üblich sind:

- Die Leistungen, sogenannte "endgehaltsbezogene Leistungen", werden unter Bezug auf eine Anwachsrate sowie das letzte Gehalt und die Dauer der Betriebszugehörigkeit jedes Mitglieds berechnet.

- Die Mitglieder entrichten einen Prozentsatz ihres Arbeitsentgelts als Beitrag, und der Arbeitgeber ist verpflichtet, in dem für die Aufrechterhaltung und Sicherung der Leistungen erforderlichen Umfang Beiträge zu leisten, weswegen diese Versorgungssysteme als "Kostenausgleichs"-Systeme bezeichnet werden.

- Die arbeitgebende Gesellschaft, die diese Systeme finanziert, ist berechtigt, anzukündigen, dass sie die Beitragszahlung einstellt und die Liquidation der Versorgungssysteme einleitet.

- Mit Beginn der Liquidation kommen die Vorschriften der Section 75 des PA 1995, die sich auf eine gesetzliche Schuld des Unternehmens gegenüber den Altersversorgungssystemen beziehen, zur Anwendung.

28 Die Altersversorgungssysteme wurden im Juli 2002 geschlossen und befinden sich in Liquidation. Ihre Treuhänder müssen nunmehr die Aktiva der Versorgungssysteme einsetzen, um die Leistungen zugunsten der Mitglieder gemäß bestimmten Rangkategorien sicherzustellen, die durch die Vorschriften der Versorgungssysteme in ihrer durch das Gesetz geänderten Fassung festgelegt worden sind. Die Aktiva der Versorgungssysteme werden zunächst dazu verwendet, die Leistungen für diejenigen Mitglieder sicherzustellen, die zum Zeitpunkt des Übergangs in die Liquidation bereits Renten bezogen hatten, und danach, soweit den Versorgungssystemen noch Aktiva verbleiben, zur Sicherstellung der Leistungen zugunsten derjenigen, die zu dem Zeitpunkt, zu dem die Versorgungssysteme in die Liquidation übergingen, noch keine Rente bezogen.

29 Nach den jüngsten Bewertungen der Versorgungssysteme durch deren Aktuare werden die Aktiva nicht ausreichen, um die Ansprüche und Anwartschaften aller Mitglieder zu decken, so dass die Anwartschaften der nicht pensionierten Mitglieder gekürzt werden.

30 Da die Kläger der Ansicht sind, dass die im Vereinigten Königreich geltenden Vorschriften ihnen nicht das in Art. 8 der Richtlinie vorgeschriebene Schutzniveau verschafften, verklagten sie das Vereinigte Königreich in der Person des Secretary of State for Work and Pensions auf Ersatz des entstandenen Schadens.

31 Der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, bei dem dieser Rechtsstreit anhängig ist, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 8 der Richtlinie dahin gehend auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass die Anwartschaften von Arbeitnehmern aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen, die endgehaltsbezogene Leistungen vorsehen, in dem Fall, dass der private Arbeitgeber der Arbeitnehmer zahlungsunfähig wird und die Aktiva der Einrichtungen zur Finanzierung dieser Anwartschaften nicht ausreichen, vollständig durch die Mitgliedstaaten finanziert werden?

2. Falls die Antwort auf Frage 1 nein lautet: Wurden die sich aus Art. 8 ergebenden Anforderungen durch Rechtsvorschriften, wie sie im Vereinigten Königreich gelten und oben beschrieben worden sind, ausreichend umgesetzt?

3. Falls die gesetzlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs nicht den Anforderungen des Art. 8 genügen: Welche Prüfung sollte das nationale Gericht vornehmen, um festzustellen, ob die dementsprechende Verletzung von Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert ist, um einen Schadensersatzanspruch nach sich zu ziehen? Reicht insbesondere die bloße Verletzung als Nachweis für das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes aus oder muss der Mitgliedstaat auch die Grenzen seiner Regelungsbefugnis offensichtlich und schwerwiegend missachtet haben, oder ist eine andere Prüfung vorzunehmen und, wenn ja, welche?

Zur ersten Frage

32 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 der Richtlinie in dem Sinne auszulegen ist, dass die Finanzierung erworbener Rechte auf Leistungen bei Alter in dem Fall, dass der Arbeitgeber zahlungsunfähig wird und die Aktiva betrieblicher oder überbetrieblicher Zusatzversorgungseinrichtungen nicht ausreichen, zum einen von den Mitgliedstaaten selbst sichergestellt werden und zum anderen vollständig sein muss.

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

33 Die Kläger vertreten die Ansicht, dass die Systematik der Richtlinie und der Wortlaut ihres Art. 8 den Mitgliedstaaten eine Ergebnispflicht auferlegten. Sofern erforderlich, müssten die erworbenen Rechte daher von diesen vollständig finanziert werden.

34 Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, Irland, das Königreich der Niederlande und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften sind der Auffassung, Art. 8 der Richtlinie verlange von den Mitgliedstaaten nicht, dass sie die Gesamtheit der von den Arbeitnehmern erworbenen Rechte gewährleisteten. Er lasse den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum.

Antwort des Gerichtshofs

35 Soweit Art. 8 der Richtlinie allgemein bestimmt, dass sich die Mitgliedstaaten "vergewissern ..., dass die notwendigen Maßnahmen ... getroffen werden", verpflichtet er sie seinem Wortlaut nach nicht, die Leistungsansprüche, die entsprechend der Richtlinie geschützt werden sollen, selbst zu finanzieren.

36 Die verwendeten Begriffe lassen den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum hinsichtlich des für diesen Schutz einzuführenden Mechanismus.

37 Ein Mitgliedstaat kann deshalb z. B. statt einer staatlichen Finanzierung eine Versicherungspflicht zu Lasten der Arbeitgeber oder die Schaffung einer Garantieeinrichtung vorsehen, deren Finanzierung er im Einzelnen festlegt.

38 Hinsichtlich des von der Richtlinie geforderten Schutzniveaus bringt der erste Erwägungsgrund der Richtlinie zum Ausdruck, dass die Maßnahmen, die notwendig sind, um die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers zu schützen, "unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft" getroffen werden müssen.

39 Die Richtlinie will demnach einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und den Notwendigkeiten einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung herstellen.

40 Sie soll den Arbeitnehmern auf Gemeinschaftsebene einen Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers gewährleisten (Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a., C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5737, Randnr. 3), wobei die Mitgliedstaaten gemäß Art. 9 der Richtlinie günstigere Bestimmungen anwenden oder erlassen können.

41 Der Schutzgrad, den die Richtlinie für jede der durch sie eingeführten speziellen Garantien verlangt, muss unter Berücksichtigung der in der jeweiligen Vorschrift verwendeten Begriffe festgelegt werden, die, soweit erforderlich, im Licht dieser Erwägungen ausgelegt werden.

42 Art. 8 der Richtlinie kann nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass er eine vollständige Absicherung der Ansprüche auf Leistungen bei Alter aus Zusatzversorgungseinrichtungen verlangt.

43 Zwar sieht Art. 8 - ebenso wie Art. 7 der Richtlinie, der die einzelstaatlichen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit betrifft, und im Gegensatz zu ihren Art. 3 und 4, die die nicht erfüllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt betreffen - nicht ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten das Schutzniveau begrenzen können.

44 Aus dem Fehlen eines entsprechenden ausdrücklichen Hinweises als solchem lässt sich jedoch nicht unabhängig vom Wortlaut der betreffenden Vorschrift die Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers ableiten, eine Pflicht zur Absicherung der Gesamtheit der Leistungsansprüche zu begründen.

45 Da Art. 8 der Richtlinie lediglich allgemein den Erlass der notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Betroffenen vorschreibt, räumt er den Mitgliedstaaten insoweit einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Festlegung des Schutzniveaus ein, der eine Pflicht zur vollständigen Absicherung ausschließt.

46 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass Art. 8 der Richtlinie in dem Sinne auszulegen ist, dass die Finanzierung erworbener Rechte auf Leistungen bei Alter in dem Fall, dass der Arbeitgeber zahlungsunfähig wird und die Aktiva betrieblicher oder überbetrieblicher Zusatzversorgungseinrichtungen nicht ausreichen, weder zwangsläufig von den Mitgliedstaaten selbst sichergestellt werden noch vollständig sein muss.

Zur zweiten Frage

47 Mit seiner zweiten Frage möchte das Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 der Richtlinie einem Schutzsystem wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht.

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

48 Die Kläger tragen vor, dass das fragliche nationale System bei seiner Anwendung zu einer Kürzung der Ansprüche um 80 % führen könne. Ein solches System mache Art. 8 für die Praxis bedeutungslos. Die erlassenen Vorschriften gewährleisteten keine ausreichende Umsetzung der Richtlinie.

49 Das Vereinigte Königreich ist der Auffassung, dass die in den Randnrn. 10 bis 24 des vorliegenden Urteils beschriebenen verschiedenen Komponenten des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Systems genügten, um den von Art. 8 der Richtlinie geforderten Mindestschutz zu gewährleisten.

50 Außerdem sei auf der Grundlage der Section 286 des PA 2004 und der Financial Assistance Scheme Regulations 2005 (SI 2005/1986) zum 1. September 2005 ein System finanzieller Beihilfen, das Financial Assistance Scheme (im Folgenden: FAS), eingeführt worden. Dieses System gewähre bestimmten Mitgliedern von Altersversorgungssystemen im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers eine Beihilfe. Es sei auf betriebliche Versorgungssysteme anwendbar, bei denen ein Liquidationsverfahren zwischen dem 1. Januar 1997 und dem 5. April 2005 eröffnet worden sei. Es stocke die Rentenleistungen bis zu einer Höhe von etwa 80 % der vorgesehenen Rente auf.

51 Irland und das Königreich der Niederlande sind ebenfalls der Auffassung, dass Vorschriften wie die vom Vereinigten Königreich erlassenen eine angemessene Umsetzung der Richtlinie darstellten.

52 Die Kommission betont, dass das bestehende System nicht verhindert habe, dass es zu einer erheblichen Minderung der Ansprüche der Kläger gekommen sei. Diese Situation sei schwer mit dem von Art. 8 der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar.

53 Es sei schwierig, das von dieser Bestimmung geforderte Schutzniveau genau festzulegen. Trotzdem sei das Schutzniveau, das den Klägern zugutekomme, nicht ausreichend.

Antwort des Gerichtshofs

54 Nach nicht bestrittenen Angaben in den Akten werden zwei der Kläger lediglich 20 % bzw. 49 % der Leistungen erhalten, auf die sie Anspruch hatten.

55 Mangels einer Pflicht zur vollständigen Absicherung der Leistungsansprüche ist das von der Richtlinie geforderte Mindestniveau zu bestimmen.

56 Im Gegensatz zu den Art. 3 und 4 der Richtlinie, deren Wortlaut es trotz des Ermessensspielraums, der den Mitgliedstaaten eingeräumt ist, erlaubt, die hinsichtlich nicht erfüllter Ansprüche auf Arbeitsentgelt geforderte Mindestgarantie zu bestimmen (vgl. Urteil Francovich u. a., Randnrn. 18 bis 20), enthält weder Art. 8 noch irgendeine andere Vorschrift der Richtlinie Anhaltspunkte, anhand deren sich das genaue Mindestniveau bestimmen lässt, das für den Schutz von Ansprüchen auf Leistungen aus Zusatzversorgungssystemen verlangt wird.

57 In Anbetracht des zum Ausdruck gekommenen Willens des Gemeinschaftsgesetzgebers können jedoch Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die in bestimmten Situationen auf eine Leistungsgarantie hinauslaufen, die auf 20 % oder 49 % der Ansprüche, die einem Arbeitnehmer zustanden, also auf weniger als deren Hälfte begrenzt ist, nicht als der Definition des in Art. 8 der Richtlinie verwendeten Begriffs "Schutz" entsprechend angesehen werden.

58 Nach nicht bestrittenen Daten, die der Kommission vom Vereinigten Königreich mitgeteilt wurden, haben im Jahr 2004

- ungefähr 65 000 Mitglieder von Altersversorgungssystemen Verluste von mehr als 20 % im Verhältnis zu den erwarteten Leistungen erlitten;

- ungefähr 35 000 von ihnen, d. h. fast 54 % der Gesamtheit, Verluste erlitten, die 50 % dieser Leistungen übersteigen.

59 Ein System wie das durch die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs geschaffene gewährleistet somit nicht den in der Richtlinie vorgesehenen Schutz und setzt deren Art. 8 nicht ordnungsgemäß um.

60 Dieses Ergebnis wird durch die Einführung eines Systems wie des FAS zum 1. September 2005 nicht in Frage gestellt, auch wenn dieses System auf Liquidationsverfahren anwendbar ist, die zwischen dem 1. Januar 1997 und dem 5. April 2005 eröffnet wurden.

61 Aus nicht bestrittenen Angaben in den Akten geht nämlich hervor, dass das FAS

- nicht die Mitglieder eines Versorgungssystems erfasst, die am 14. Mai 2004 mehr als drei Jahre vor ihrem Eintritt in den Ruhestand standen;

- nur ungefähr 11 000 der 85 000 nicht pensionierten Mitglieder der betreffenden Versorgungssysteme, also weniger als 13 % der Gesamtheit, zugutekommt.

62 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass Art. 8 der Richtlinie einem Schutzsystem wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht.

Zur dritten Frage

63 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Art. 8 der Richtlinie die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats allein schon durch diesen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ausgelöst wird oder ob sie von der Feststellung abhängt, dass dieser Staat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt waren, offenkundig und erheblich überschritten hat.

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

64 Die Kläger machen geltend, das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht setze nur dann voraus, dass ein Mitgliedstaat die Grenzen seines Ermessens im Sinne des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame offenkundig und erheblich überschritten habe (Urteil vom 5. März 1996, C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Randnr. 55), wenn der Mitgliedstaat über ein weites Ermessen verfüge.

65 Ihrer Ansicht nach wurde dem Mitgliedstaat in der vorliegenden Rechtssache durch Art. 8 der Richtlinie eine eindeutige Ergebnispflicht auferlegt. Das Vereinigte Königreich habe daher nicht über ein weites Ermessen verfügt.

66 Die Kläger schlagen vor, den in den Urteilen vom 23. Mai 1996, Hedley Lomas (C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Randnr. 28), vom 8. Oktober 1996, Dillenkofer u. a. (C-178/94, C-179/94 und C-188/94 bis C-190/94, Slg. 1996, I-4845, Randnr. 25), und vom 18. Januar 2001, Stockholm Lindöpark (C-150/99, Slg. 2001, I-493, Randnr. 40), aufgestellten Grundsatz anzuwenden, wonach die Verletzung des Gemeinschaftsrechts für sich allein genügen könne, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß zu begründen, sofern der betreffende Mitgliedstaat keine Wahl zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten gehabt und über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Ermessensspielraum verfügt habe.

67 Ihrer Ansicht nach stellt eine nicht ordnungsgemäße Umsetzung von Art. 8 der Richtlinie daher einen Verstoß dar, der hinreichend qualifiziert ist, um die Haftung des Mitgliedstaats zu begründen.

68 Das Vereinigte Königreich, Irland und die Kommission sind der Auffassung, die Haftung des Mitgliedstaats hänge von der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame aufgestellten Voraussetzung ab, dass dieser Staat die Grenzen seines Ermessens offenkundig und erheblich überschritten habe. Diese Voraussetzung sei im Ausgangsverfahren nicht erfüllt.

Antwort des Gerichtshofs

69 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. u. a. Urteile Brasserie du pêcheur und Factortame, Randnr. 51, und Hedley Lomas, Randnr. 25; Urteile vom 4. Juli 2000, Haim, C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Randnr. 36, und vom 4. Dezember 2003, Evans, C-63/01, Slg. 2003, I-14447, Randnr. 83), setzt die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, voraus, dass

- die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen;

- der Verstoß hinreichend qualifiziert ist;

- zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.

70 Ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht setzt voraus, dass der Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat, wobei zu den insoweit zu berücksichtigenden Gesichtspunkten insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift sowie der Umfang des Ermessensspielraums gehören, den die verletzte Vorschrift den nationalen Behörden belässt (Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, Randnrn. 55 und 56).

71 Sofern jedoch der Mitgliedstaat keine Wahl zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Ermessensspielraum verfügte, kann die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts genügen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß zu begründen (vgl. Urteil Hedley Lomas, Randnr. 28).

72 Der Ermessensspielraum des Mitgliedstaats stellt somit ein wichtiges Kriterium für die Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht dar.

73 Dieser Ermessensspielraum hängt weitgehend vom Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift ab.

74 Wie sich aus der Prüfung der ersten Frage ergibt, räumt Art. 8 der Richtlinie den Mitgliedstaaten wegen seines allgemein gehaltenen Wortlauts einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Festlegung des Niveaus für den Schutz der Leistungsansprüche ein.

75 Folglich hängt die Haftung eines Mitgliedstaats wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung dieser Bestimmung von der Feststellung ab, dass dieser Staat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt waren, offenkundig und erheblich überschritten hat.

76 Bei der Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss das mit einer Schadensersatzklage befasste nationale Gericht alle Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigen (Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Randnr. 54).

77 Zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere - neben dem Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift und dem Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen Behörden belässt - die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in gemeinschaftsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden (vgl. Urteile Brasserie du pêcheur und Factortame, Randnr. 56, sowie Köbler, Randnr. 55).

78 In der vorliegenden Rechtssache wird das vorlegende Gericht das Maß an Klarheit und Genauigkeit berücksichtigen müssen, das Art. 8 der Richtlinie hinsichtlich des geforderten Schutzniveaus hat.

79 Weder die Kläger noch die Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, oder die Kommission sind insoweit in der Lage gewesen, genau anzugeben, welches Mindestmaß an Schutz die Richtlinie - in der Annahme, dass sie keine vollständige Garantie fordert - ihrer Ansicht nach verlangt.

80 Wie zudem in Randnr. 56 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, enthält weder Art. 8 noch irgendeine andere Vorschrift der Richtlinie Anhaltspunkte, anhand deren sich das genaue Mindestniveau bestimmen lässt, das für den Schutz von Ansprüchen auf Leistungen verlangt wird.

81 Das vorlegende Gericht kann auch den (im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften nicht veröffentlichten) Bericht KOM(95) 164 endg. der Kommission vom 15. Juni 1995 über die Umsetzung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten berücksichtigen, auf den in den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen verwiesen worden ist und in dem die Kommission (auf S. 45) zu dem Ergebnis gelangte: "Mit den [vom Vereinigten Königreich erlassenen] Bestimmungen dürfte dem Art. 8 Genüge getan werden." Denn wie die Generalanwältin in Nr. 98 ihrer Schlussanträge ausführt, war diese Formulierung, auch wenn sie sehr vorsichtig ausgefallen ist, geeignet, den betreffenden Mitgliedstaat in seiner Auffassung hinsichtlich der Umsetzung der Richtlinie zu bestärken.

82 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Art. 8 der Richtlinie die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats von der Feststellung abhängt, dass dieser Staat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt waren, offenkundig und erheblich überschritten hat.

Zum Antrag auf zeitliche Begrenzung der Wirkungen des vorliegenden Urteils

83 Das Vereinigte Königreich und Irland haben beantragt, dass der Gerichtshof, falls er die Richtlinie in einer für die Kläger günstigen Weise auslegen sollte, die zeitlichen Wirkungen seines Urteils auf die vor dessen Verkündung bereits anhängig gemachten Verfahren beschränkt.

84 In Anbetracht der auf die drei Vorlagefragen gegebenen Antworten ist diesem Antrag nicht stattzugeben.

Kostenentscheidung:

Kosten

85 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 8 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers ist in dem Sinne auszulegen, dass die Finanzierung erworbener Rechte auf Leistungen bei Alter in dem Fall, dass der Arbeitgeber zahlungsunfähig wird und die Aktiva betrieblicher oder überbetrieblicher Zusatzversorgungseinrichtungen nicht ausreichen, weder zwangsläufig von den Mitgliedstaaten selbst sichergestellt werden noch vollständig sein muss.

2. Art. 8 der Richtlinie 80/987 steht einem Schutzsystem wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen.

3. Im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Art. 8 der Richtlinie 80/987 hängt die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats von der Feststellung ab, dass dieser Staat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt waren, offenkundig und erheblich überschritten hat.



Ende der Entscheidung

Zurück