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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.09.1996
Aktenzeichen: C-278/94
Rechtsgebiete: EGV, Verordnung Nr. 1612/68/EWG vom 15.10.1968
Vorschriften:
EGV Art. 48 | |
Verordnung Nr. 1612/68/EWG vom 15.10.1968 Art. 7 | |
Verordnung Nr. 1612/68/EWG vom 15.10.1968Art. 3 Abs. 1 |
1. Macht ein Mitgliedstaat die Gewährung von Überbrückungsgeld an Schulabgänger von der Voraussetzung abhängig, daß die Betreffenden ihre höhere Schulausbildung auf einer von ihm anerkannten oder subventionierten Lehranstalt abgeschlossen haben, so stellt er eine Voraussetzung auf, die von den Kindern seiner Staatsangehörigen leichter erfuellt werden kann als von den Kindern eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats. Da es sich um eine soziale Vergünstigung im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 handelt, auf die die Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers Anspruch erheben können, stellt diese Voraussetzung, die einer Wohnortvoraussetzung gleichkommt, eine versteckte Form der Diskriminierung der Kinder dieses Arbeitnehmers dar, die gegen den in Artikel 48 des Vertrages und in Artikel 7 der genannten Verordnung aufgestellten Grundsatz der Gleichbehandlung verstösst, ungeachtet der Tatsache, daß sie auch für Angehörige dieses Staates gilt, die ihre höhere Schulausbildung im Ausland abschließen, und ohne daß festgestellt zu werden braucht, daß sie in der Praxis einen wesentlich grösseren Anteil der Kinder von Wanderarbeitnehmern als der Kinder von Einheimischen betrifft.
2. Ein von einem Mitgliedstaat geschaffenes besonderes Beschäftigungsprogramm für Schulabgänger, das dadurch gekennzeichnet ist, daß Körperschaften oder Unternehmen Schulabgänger einstellen, die Überbrückungsgeld erhalten, daß das Office national de l' emploi in sozial- und steuerrechtlicher Hinsicht als ihr Arbeitgeber gilt und daß der Staat ihr Entgelt und ihre Sozialversicherungsbeiträge ganz oder teilweise übernimmt, ist der Arbeitslosenversicherung zuzurechnen und geht über den Bereich des Zugangs zur Beschäftigung im eigentlichen Sinn hinaus, der durch Titel I und insbesondere durch Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 erfasst wird.
Diese Einbeziehung in die Arbeitslosenversicherung hat zur Folge, daß sich nur derjenige auf das Gemeinschaftsrecht über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer berufen kann, um gegen in dieser Regelung angeblich enthaltene Elemente der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorzugehen, der ° da er schon durch die Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat ° die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Gemeinschaftsrechts besitzt; dies ist bei Schulabgängern ausgeschlossen.
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 12. September 1996. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit - Kinder von Wanderarbeitnehmern - Soziale Vergünstigungen - Schulabgänger - Zugang zu besonderen Beschäftigungsprogrammen. - Rechtssache C-278/94.
Entscheidungsgründe:
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 13. Oktober 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 EG-Vertrag und aus den Artikeln 3 und 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) verstossen hat, daß es zum einen die Gewährung des Überbrückungsgelds an Schulabgänger davon abhängig gemacht hat, daß diese ihre höhere Schulausbildung an einer vom belgischen Staat (oder einer seiner Gemeinschaften) subventionierten oder anerkannten Lehranstalt abgeschlossen haben, und zum anderen gleichzeitig den Arbeitgebern einen Anreiz gegeben hat, die Empfänger dieser Leistungen einzustellen, indem es vorgesehen hat, daß der Staat in diesem Fall die Vergütung und die Sozialversicherungsbeiträge für diese Arbeitnehmer trägt, sofern sie wegen Vollarbeitslosigkeit Leistungen erhalten.
2 Die Kommission stützt sich also auf zwei Klagegründe, nämlich die Gewährung des belgischen "Überbrückungsgelds" und den Zugang zu besonderen Beschäftigungsprogrammen.
Das belgische Recht
3 Das belgische Recht sieht für Schulabgänger die Gewährung von seit jeher als "Überbrückungsgeld" bezeichneten Leistungen bei Arbeitslosigkeit vor, aufgrund deren sie im Sinne der Bestimmungen über die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit als Arbeitnehmer anzusehen sind, die "wegen Vollarbeitslosigkeit Leistungen erhalten".
4 Gemäß Artikel 124 der Königlichen Verordnung vom 20. Dezember 1963 erhalten "Schulabgänger Leistungen bei Arbeitslosigkeit, wenn sie eine Schulausbildung mit Vollzeitunterricht der Sekundarstufe II oder der fach- oder berufsbildenden Sekundarstufe I an einer vom belgischen Staat errichteten, anerkannten oder subventionierten Lehranstalt abgeschlossen oder vor dem zentralen Prüfungsausschuß ein Abschlußdiplom oder -zeugnis für die genannte Ausbildung erworben haben".
5 Dieser Artikel wurde durch Artikel 36 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 zur Regelung der Arbeitslosigkeit (Moniteur belge vom 31. Dezember 1991) ersetzt, nach dem weiterhin die gleichen Voraussetzungen für die Gewährung gelten; er bestimmt:
"Der Schulabgänger hat Anspruch auf das Überbrückungsgeld, wenn er folgende Voraussetzungen erfuellt:
1. Er ist nicht mehr schulpflichtig;
2. a) er hat entweder eine Schulausbildung mit Vollzeitunterricht der Sekundarstufe II oder der fach- oder berufsbildenden Sekundarstufe I an einer von einer Gemeinschaft errichteten, anerkannten oder subventionierten Lehranstalt abgeschlossen;
b) oder vor dem zuständigen Prüfungsausschuß einer Gemeinschaft ein Abschlußdiplom oder -zeugnis für die unter a genannte Ausbildung erworben;
..."
6 Andere Bestimmungen eröffnen insbesondere den "Arbeitnehmern, die wegen Vollarbeitslosigkeit Leistungen erhalten", und somit den Empfängern von Überbrückungsgeld, den Zugang zu besonderen Programmen zur Beschäftigung oder Wiederbeschäftigung.
7 Es handelt sich erstens um das Gesetz vom 22. Dezember 1977 über den Haushalt 1977 bis 1978 (Moniteur belge vom 24. Dezember 1977), dessen Artikel 81 Absatz 1 in dem als "Besonderer zeitlich begrenzter Rahmen" überschriebenen Abschnitt 3 folgendes bestimmt:
"Der Staat kann die Vergütung und die entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge für die Arbeitnehmer übernehmen, die von Initiatoren von Vorhaben zur Ausführung von Tätigkeiten beschäftigt werden, die einem kollektiven Interesse entsprechen, und die aus folgenden Arbeitsuchenden rekrutiert werden:
1. Vollarbeitslose, die Leistungen erhalten;
...
Initiatoren von Vorhaben können sein: der Staat, die Provinzen, die Ballungsräume, die Gemeindezusammenschlüsse, die Gemeindeverbände..."
Artikel 84 sieht weiter vor:
"Sofern die Parteien keinen Vertrag auf unbestimmte Dauer schließen, werden die in Anwendung dieses Abschnitts beschäftigten Arbeitnehmer mittels eines Arbeiter- oder Angestelltenarbeitsvertrags eingestellt, dessen Dauer derjenigen entspricht, die für die Beteiligung des Staates an den Vergütungen und den entsprechenden Sozialversicherungsbeiträgen vorgesehen ist (wobei jedoch ein Jahr nicht überschritten werden darf).
..."
8 Zweitens handelt es sich um die Königliche Verordnung Nr. 123 vom 30. Dezember 1982 über die Einstellung von Arbeitslosen zur Beschäftigung im Rahmen bestimmter Vorhaben des wirtschaftlichen Aufschwungs zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen (Moniteur belge vom 18. Januar 1983), die folgendes bestimmt:
"Kapitel II ° Staatliche Beteiligung
2. Absatz 1: Im Rahmen des Haushalts kann der Staat während eines Zeitraums von höchstens zwei Jahren in dem in Artikel 3 Absatz 2 vorgesehenen Umfang die Vergütungen und die entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge der in Artikel 5 genannten, für die Verwirklichung eines Vorhabens eingestellten Arbeitnehmer übernehmen.
...
Kapitel III ° Die Arbeitnehmer
5. Die in der vorliegenden Verordnung genannten Stellen können nur von Vollarbeitslosen, die Leistungen erhalten, besetzt werden.
Für die Anwendung dieses Artikels werden auch die von den öffentlichen Behörden beschäftigen Arbeitslosen, die innerhalb des besonderen zeitlich begrenzten Rahmens beschäftigten Arbeitnehmer und die im dritten Arbeitszyklus eingestellten Arbeitnehmer als Vollarbeitslose angesehen."
Das Gemeinschaftsrecht
9 Die Kommission stützt ihre Klage auf Artikel 48 EG-Vertrag über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, der jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen verbietet, sowie auf Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68, was die Voraussetzungen für die Gewährung des belgischen Überbrückungsgelds betrifft, und auf Artikel 3 Absatz 1 dieser Verordnung, was den Zugang zu den besonderen Beschäftigungsprogrammen betrifft.
10 Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt:
"(1) Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder Verwaltungspraktiken eines Mitgliedstaats,
°...
° oder die, ohne auf die Staatsangehörigkeit abzustellen, ausschließlich oder hauptsächlich bezwecken oder bewirken, daß Angehörige der übrigen Mitgliedstaaten von der angebotenen Stelle ferngehalten werden,
finden im Rahmen dieser Verordnung keine Anwendung."
11 Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt:
"(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen... nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.
..."
Verfahren
12 Die Kommission war der Auffassung, die Anwendung der genannten nationalen Bestimmungen führe dazu, daß nichtbelgische Schulabgänger, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und auf der Suche nach ihrer ersten Beschäftigung seien und ihre höhere Schulausbildung nicht in einer vom belgischen Staat (oder von einer seiner Gemeinschaften) subventionierten oder anerkannten Lehranstalt abgeschlossen hätten, erstens von dem in Artikel 124 der Königlichen Verordnung vom 20. Dezember 1963 und später in Artikel 36 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 vorgesehenen Überbrückungsgeld und zweitens vom Zugang zu besonderen Programmen der Beschäftigung oder Wiederbeschäftigung nach den Artikeln 81 bis 84 des Gesetzes vom 22. Dezember 1977 und den Artikeln 2 bis 9 der Königlichen Verordnung Nr. 123 vom 30. Dezember 1982 ausgeschlossen seien.
13 Da die Kommission der Auffassung war, daß dies gegen die Artikel 48 EG-Vertrag und 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 und, hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1612/68 verstosse, weil es sich um soziale Vergünstigungen handele, setzte sie der belgischen Regierung mit Schreiben vom 21. Mai 1992 gemäß Artikel 169 EG-Vertrag eine Frist von zwei Monaten, um sich zu der Belgien vorgeworfenen Vertragsverletzung zu äussern.
14 Mit Schreiben vom 17. Juli 1992 bestritt die belgische Regierung das Vorliegen der Vertragsverletzung.
15 Am 13. August 1993 übersandte die Kommission dem Königreich Belgien ihre mit Gründen versehene Stellungnahme.
16 Da die belgische Regierung mit Schreiben vom 12. Januar 1994 ihren Standpunkt aufrechterhielt, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.
Klarstellung der Auffassung der Kommission
17 In Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofes hat die Kommission klargestellt, daß sich die Rüge hinsichtlich der Gewährung des Überbrückungsgelds auf die unterhaltsberechtigten Kinder von in Belgien wohnhaften Wanderarbeitnehmern aus der Gemeinschaft beschränke und auf Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 gestützt sei, während die Rüge hinsichtlich des Zugangs zu den besonderen Programmen der Beschäftigung oder Wiederbeschäftigung alle Schulabgänger betreffe, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats seien, und auf Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 gestützt werde. Es sei von grösster Bedeutung, zwischen den beiden Rügen zu unterscheiden, insbesondere was die betroffenen Personengruppen angehe.
Begründetheit
18 Belgien macht einleitend geltend, die Kommission habe nicht den Beweis für das Vorliegen der Vertragsverletzung erbracht und sie könne sich auch nicht auf irgendeine Vermutung stützen. Sie müsse nachweisen, daß die betreffenden Bestimmungen einen proportional deutlich höheren Anteil von nichtbelgischen Schulabgängern ausschlössen, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten seien.
19 Die Kommission ist der Auffassung, ein solches Erfordernis verstosse gegen den Grundsatz des Verbots jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer nach Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes liege ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig von der Zahl der verletzten Personen vor, wenn die beanstandete Bestimmung eine diskriminierende Wirkung entfalten könne. Dies sei bei den beanstandeten belgischen Rechtsvorschriften der Fall.
20 Eine Vorschrift des nationalen Rechts enthält eine mittelbare Diskriminierung, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, daß sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt. Es braucht nicht festgestellt zu werden, daß die Vorschrift in der Praxis einen wesentlich grösseren Anteil der Wanderarbeitnehmer betrifft. Es genügt die Feststellung, daß die betreffende Vorschrift geeignet ist, eine solche Wirkung hervorzurufen (vgl. insbesondere zuletzt das Urteil vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C-237/94, O' Flynn, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 20 und 21).
Zu der Rüge im Zusammenhang mit der Gewährung des Überbrückungsgelds
21 Die Kommission wirft dem Königreich Belgien vor, den in ihrem Hoheitsgebiet wohnhaften unterhaltsberechtigten Kindern von Wanderarbeitnehmern aus der Gemeinschaft, die Schulabgänger seien, nicht das Überbrückungsgeld zu gewähren, das jungen Belgiern gewährt werde, die sich in der gleichen Situation befänden. Es handele sich um eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, da diese Schulabgänger seltener als die belgischen ihre Ausbildung in vom belgischen Staat subventionierten oder anerkannten Lehranstalten abschlössen. Nach Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 genössen die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats seien, die gleichen sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer; in dem Urteil vom 20. Juni 1985 in der Rechtssache 94/84 (Deak, Slg. 1985, 1873) habe der Gerichtshof das belgische Überbrückungsgeld als soziale Vergünstigung im Sinne dieses Artikels angesehen. Das Urteil vom 1. Dezember 1977 in der Rechtssache 66/77 (Kuyken, Slg. 1977, 2311), das nicht die Verordnung Nr. 1612/68, sondern die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), betroffen habe, hingegen sei nicht einschlägig. Im übrigen komme es einer Wohnortvoraussetzung gleich, die Kinder von Wanderarbeitnehmern zu verpflichten, ihre Schulausbildung in Belgien abzuschließen; eine solche habe der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10. März 1993 in der Rechtssache C-111/91 (Kommission/Luxemburg, Slg. 1993, I-817) verworfen. Die Kommission macht weiter die praktische Wirksamkeit der Bestimmungen geltend, die die Gleichbehandlung der Kinder von Wanderarbeitnehmern mit den Kindern der inländischen Arbeitnehmer im Bereich der Beihilfe für eine Ausbildung in dem Staat vorsähen, dessen Staatsangehörigkeit sie besässen (Urteil vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-308/89, Di Leo, Slg. 1990, I-4185).
22 Die belgische Regierung führt zunächst zum Überbrückungsgeld aus, die Voraussetzung hinsichtlich der Schulausbildung gelte unterschiedslos für alle Gemeinschaftsangehörigen. Im Urteil Deak habe der ungarische Staatsangehörige Deak die hier streitige Voraussetzung erfuellt, weil er seine Schulausbildung in Belgien abgeschlossen habe, wo seine Mutter, eine italienische Staatsangehörige, gearbeitet habe. Das Überbrückungsgeld sei ihm ausschließlich deshalb verweigert worden, weil er Staatsangehöriger eines Drittlands gewesen sei. Der Gerichtshof habe sich also zu der Voraussetzung des Schulabschlusses in Belgien nicht geäussert.
23 Bei dem von der Kommission ins Auge gefassten Fall gebe es in der Praxis zwei Unterfälle. Entweder habe der Jugendliche seine Schulausbildung noch nicht abgeschlossen und er tü dies in Belgien (dies wäre der Fall Deak) und erfuelle damit die hier streitige Voraussetzung; damit habe er Anspruch auf das Überbrückungsgeld. Oder er habe seine Schulausbildung in seinem Herkunftsland beendet und habe aufgrund dieser Ausbildung gegebenenfalls in diesem Land Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Wenn er einen Anspruch habe, so sei die Verordnung Nr. 1408/71, insbesondere Artikel 67, anwendbar. Wenn er in seinem Herkunftsland keinen Anspruch habe, könne man von der belgischen Regierung kaum erwarten, daß sie ihm einen solchen allein aufgrund seiner Auswanderung nach Belgien einräume. Jedenfalls sei die Annahme paradox, daß die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer dadurch behindert werde, daß Belgien Ansprüche nicht einräume, die die Unterhaltsberechtigten dieser Arbeitnehmer in ihrem eigenen Land sowieso nicht gehabt hätten. Hier liege der Fall des Urteils Kuyken vor.
24 Das Urteil Kuyken betraf nur die Frage der Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 und ist daher nicht einschlägig.
25 In dem späteren Urteil Deak hat der Gerichtshof festgestellt, daß die Gewährung des belgischen Überbrückungsgelds nicht unter Berufung auf die Verordnung Nr. 1408/71 verlangt werden könne (Randnrn. 16 und 27), daß diese Leistung aber eine soziale Vergünstigung im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 darstelle.
26 Der Umstand, daß im vorliegenden Fall die unterhaltsberechtigten Kinder der in Belgien wohnhaften Wanderarbeitnehmer ihre Schulausbildung nicht in Belgien, sondern in ihrem Herkunftsland bzw. in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen haben, kann an dieser Feststellung nichts ändern.
27 Was schließlich die unterschiedslose Anwendung der streitigen Voraussetzung betrifft, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, daß der sowohl in Artikel 48 EG-Vertrag als auch in Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 niedergelegte Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche, sondern auch versteckte Formen der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. insbesondere die Urteile vom 12. Februar 1974 in der Rechtssache 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153, Randnr. 11; vom 21. November 1991 in der Rechtssache C-27/91, Le Manoir, Slg. 1991, I-5531, Randnr. 10; vom 10. März 1993, Kommission/Luxemburg, a. a. O., Randnr. 9; vom 23. Februar 1994 in der Rechtssache C-419/92, Scholz, Slg. 1994, I-505, Randnr. 7, und kürzlich in der Rechtssache C-237/94, O' Flynn, a. a. O., Randnr. 17).
28 Es sind somit insbesondere die unterschiedslos anwendbaren Voraussetzungen verboten, die von inländischen Arbeitnehmern leichter erfuellt werden können als von Wanderarbeitnehmern. Das hat der Gerichtshof etwa in Randnummer 10 des Urteils Kommission/Luxemburg für die Voraussetzung festgestellt, daß die Mutter während eines Jahres vor der Geburt des Kindes im Großherzogtum Luxemburg gewohnt haben müsse. Eine solche Voraussetzung könne nämlich leichter von einer luxemburgischen Staatsbürgerin erfuellt werden als von der Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats.
29 So verhält es sich auch bei der streitigen Voraussetzung, die einer Wohnortvoraussetzung gleichkommt, die von den Kindern belgischer Staatsangehöriger leichter erfuellt werden kann als von denjenigen eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats.
30 Der Umstand, daß diese Voraussetzung auch für junge Belgier gilt, die ihre höhere Schulausbildung ausserhalb Belgiens abschließen, kann an dieser Beurteilung nichts ändern.
31 Die Rüge ist demgemäß begründet.
Zu der Rüge hinsichtlich des Zugangs zu den besonderen Programmen der Beschäftigung oder Wiederbeschäftigung
32 Auf eine schriftliche Frage des Gerichtshofes hin hat die Kommission klargestellt, diese Rüge betreffe alle Schulabgänger der Gemeinschaft und werde auf die Artikel 48 EG-Vertrag und 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 gestützt.
33 Die Kommission führt aus, die Artikel 81 bis 84 des Gesetzes vom 22. Dezember 1977 in Verbindung mit den Artikeln 2 bis 9 der Königlichen Verordnung Nr. 123 vom 30. Dezember 1982 verstießen gegen die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, also gegen die Artikel 48 EG-Vertrag und 3 der Verordnung Nr. 1612/68, da sie den belgischen Arbeitgebern einen Anreiz böten, von den jungen Arbeitsuchenden bevorzugt diejenigen einzustellen, die das Überbrückungsgeld erhielten und bei denen es sich aufgrund der Voraussetzung für die Gewährung dieses Überbrückungsgelds, daß die höhere Schulausbildung auf einer anerkannten belgischen Lehranstalt abgeschlossen worden sein müsse, in der Mehrzahl um junge Belgier handele.
34 Die Kommission stützt sich auf den in Artikel 48 EG-Vertrag niedergelegten Grundsatz des freien Zugangs zu den in den anderen Mitgliedstaaten tatsächlich angebotenen Stellen, der in der Verordnung Nr. 1612/68 und insbesondere in deren Titel I "Zugang zur Beschäftigung" durchgeführt worden sei, dessen Artikel 1 vorsehe, daß "jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats... ungeachtet seines Wohnorts berechtigt [sei], eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats... aufzunehmen und auszuüben". Das Erfordernis, daß diese jungen Arbeitssuchenden ihre höhere Schulausbildung in einer anerkannten belgischen Lehranstalt abgeschlossen haben müssten, stelle eine mittelbare Diskriminierung dar. Das Zusammenspiel der einschlägigen Bestimmungen bewirke somit zumindest hauptsächlich, daß Angehörige der übrigen Mitgliedstaaten im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1612/68 von der angebotenen Stelle ferngehalten würden.
35 Die belgische Regierung macht geltend, der Anspruch auf die Leistungen nach Schulabschluß falle zumindest dann nicht in den Anwendungsbereich der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, wenn dieser Anspruch als ein eigener Anspruch, unabhängig von jedem Zusammenhang mit einem Elternteil, der Wanderarbeitnehmer sei, angesehen werde. Die Situation des Schulabgängers, der Wanderarbeitnehmer sei, falle unter dem Gesichtspunkt der Leistungen bei Arbeitslosigkeit unter die Verordnung Nr. 1408/71, und er müsse also die in dieser Verordnung aufgestellten Voraussetzungen erfuellen. Die in Rede stehenden Sonderprogramme seien Teil der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten, die in deren Zuständigkeit falle, so daß sie in diesem Bereich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes hinsichtlich der Art der sozialen Schutzmaßnahmen und der konkreten Einzelheiten ihrer Durchführung über ein angemessenes Ermessen verfügten. Es handele sich hier nämlich konkret um die Durchführung des aktiven und präventiven Bereichs der Arbeitslosenversicherung; die belgische Regierung betont den grundlegenden Unterschied, der zwischen dem normalen Arbeitsmarkt und dem aussergewöhnlichen und beschränkten Arbeitsmarkt bestehe, den die verschiedenen Maßnahmen zum Abbau der Arbeitslosigkeit ausmachten. Sie verweist auch auf den Grundsatz der Subsidiarität.
36 Die von der Klage der Kommission im Hinblick auf die Voraussetzungen für den Zugang zu den besonderen Programmen der Beschäftigung oder Wiederbeschäftigung betroffene Personengruppe erfasst die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die nach Abschluß ihrer höheren Schulausbildung in Belgien ihre erste Beschäftigung suchen, ohne Familienmitglieder eines in diesem Staat beschäftigten Wanderarbeitnehmers zu sein.
37 Einleitend ist zu prüfen, ob diese Regelung den freien Zugang zur Beschäftigung betrifft, wie er in Artikel 48 EG-Vertrag und in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68, deren Verletzung von der Kommission geltend gemacht wird, gewährleistet ist.
38 Wie die belgische Regierung hervorgehoben hat, stellen diese Sonderprogramme den aktiven Bereich der Arbeitslosenversicherung dar. So werden gemäß Artikel 87 des Gesetzes vom 22. Dezember 1977 die im Rahmen dieser Programme beschäftigten Arbeitnehmer vom Office national de l' emploi entlohnt, das für die Anwendung der steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen (einschließlich derjenigen über Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten) als ihr Arbeitgeber gilt. Auch im Rahmen der Königlichen Verordnung Nr. 123 vom 30. Dezember 1982 übernimmt der Staat, wenn er sich beteiligt, 50 %, 75 % oder 100 % des Entgelts und der entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge.
39 Hieraus ergibt sich, daß diese Sonderprogramme, die aufgrund ihrer Eigenart dem Bereich Arbeitslosigkeit zuzurechnen sind, über den Bereich des Zugangs zur Beschäftigung im eigentlichen Sinn hinausgehen, der durch Titel I der Verordnung Nr. 1612/68 und insbesondere durch deren Artikel 3 Absatz 1 erfasst wird, auf den sich die Kommission beruft.
40 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer setzt jedoch im Hinblick auf eine nationale Regelung, die die Arbeitslosenversicherung betrifft, voraus, daß derjenige, der sich auf es beruft, schon durch die Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit, die ihm die Eigenschaft als Arbeitnehmer nach Gemeinschaftsrecht verschafft hat, Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat (vgl. insbesondere im Hinblick auf die Gewährung einer Ausbildungsförderung das Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205, Randnr. 21; hinsichtlich der Gewährung einer staatlichen finanziellen Förderung das Urteil vom 26. Februar 1992 in der Rechtssache C-357/89, Raulin, Slg. 1992, I-1027, Randnr. 10). Dies ist bei Schulabgängern definitionsgemäß nicht der Fall.
41 Die zweite Rüge ist somit unbegründet.
42 Damit ist festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 verstossen hat, daß es die Gewährung des Überbrückungsgelds an unterhaltsberechtigte Kinder von in Belgien wohnhaften Wanderarbeitnehmern aus der Gemeinschaft davon abhängig gemacht hat, daß diese ihre höhere Schulausbildung an einer vom belgischen Staat oder von einer seiner Gemeinschaften subventionierten oder anerkannten Lehranstalt abgeschlossen haben. Im übrigen ist die Klage abzuweisen.
Kostenentscheidung:
Kosten
43 Nach Artikel 69 § 3 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof die Kosten teilen oder beschließen, daß jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt oder wenn ein aussergewöhnlicher Grund gegeben ist. Da der Klage der Kommission nur teilweise stattgegeben wird, trägt jede Partei ihre eigenen Kosten.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Königreich Belgien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 48 EG-Vertrag und 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft verstossen, daß es die Gewährung des Überbrückungsgelds an unterhaltsberechtigte Kinder von in Belgien wohnhaften Wanderarbeitnehmern aus der Gemeinschaft davon abhängig gemacht hat, daß diese ihre höhere Schulausbildung an einer vom belgischen Staat oder von einer seiner Gemeinschaften subventionierten oder anerkannten Lehranstalt abgeschlossen haben.
2. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Ende der Entscheidung
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