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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.02.2002
Aktenzeichen: C-279/00
Rechtsgebiete: EGV, Legge No. 196, Norme in materia di promozione dell occupazione (Gesetz Nr. 196 mit Vorschriften über die Beschäftigungsförderung) (Italien)


Vorschriften:

EGV Art. 49
EGV Art. 56
Legge No. 196, Norme in materia di promozione dell occupazione (Gesetz Nr. 196 mit Vorschriften über die Beschäftigungsförderung) (Italien) Art. 2 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 226 EG ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden.

( vgl. Randnr. 10 )

2. Ein Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Zeitarbeitsunternehmen ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland errichten müssen, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 49 EG.

Das Erfordernis, wonach Zeitarbeitsunternehmen, die in einem Mitgliedstaat ansässigen Nutzern Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollen, ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland errichten müssen, stellt praktisch die Negation der Dienstleistungsfreiheit dar, und ist nur zulässig, wenn nachgewiesen wird, dass es eine unerlässliche Voraussetzung für die Erreichung des verfolgten Zieles ist.

In diesem Zusammenhang muss jedoch festgehalten werden, dass ungeachtet der Tatsache, dass der Schutz der Arbeitnehmer zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört, die eine Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen, das Erfordernis eines Sitzes oder einer Zweigniederlassung im Inland über das hinausgeht, was erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der Arbeitnehmer zu erreichen.

( vgl. Randnrn. 17-20 und Tenor )

3. Der freie Dienstleistungsverkehr als fundamentaler Grundsatz des Vertrages darf nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist

( vgl. Randnr. 33 )

4. Ein Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Zeitarbeitsunternehmen eine Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland stellen müssen, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 49 EG und 56 EG.

( vgl. Randnrn. 34, 41 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 7. Februar 2002. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik. - Vertragsverletzung - Freier Dienstleistungsverkehr - Freier Kapitalverkehr - Tätigkeit der Zeitarbeitsvermittlung. - Rechtssache C-279/00.

Parteien:

In der Rechtssache C-279/00

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und M. Patakia als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten im Beistand von D. Del Gaizo, avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

wegen Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 49 EG und 56 EG verstoßen hat, dass sie vorschreibt, dass in anderen Mitgliedstaaten ansässige Zeitarbeitsunternehmen ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland errichten und eine Sicherheit in Höhe von 700 Millionen ITL bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland stellen müssen,

erlässtDER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin F. Macken sowie der Richter C. Gulmann, R. Schintgen (Berichterstatter), V. Skouris und J. N. Cunha Rodrigues,

Generalanwalt: S. Alber

Kanzler: R. Grass

aufgrund des Berichts des Berichterstatters,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Oktober 2001,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit Klageschrift, die am 13. Juli 2000 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gemäß Artikel 226 EG Klage auf Feststellung erhoben, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 49 und 56 EG verstoßen hat, dass sie vorschreibt, dass in anderen Mitgliedstaaten ansässige Zeitarbeitsunternehmen ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland errichten und eine Sicherheit in Höhe von 700 Millionen ITL bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Niederlassung im Inland stellen müssen.

Die nationale Regelung

2 Die Legge No. 196, Norme in materia di promozione dell' occupazione (Gesetz Nr. 196 mit Vorschriften über die Beschäftigungsförderung), vom 24. Juni 1997 (GURI Nr. 154 vom 4. Juli 1997, Beilage Nr. 136/L, S. 3, im Folgenden: Gesetz Nr. 196/97) behält in Artikel 2 Absatz 1 die Ausübung der Tätigkeit der Zeitarbeitsvermittlung Gesellschaften vor, die in dem zu diesem Zweck vorgesehenen Register bei der zuständigen Abteilung des Ministeriums für Arbeit und Soziale Sicherheit eingetragen sind. Zur Eintragung in dieses Register bedürfen die Gesellschaften einer Genehmigung dieses Ministeriums, die zunächst vorläufig und dann nach zwei Jahren der Ausübung der Tätigkeit auf unbestimmte Zeit erteilt wird. Die Erteilung dieser Genehmigung ist ihrerseits an die Erfuellung bestimmter, in Artikel 2 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 196/97 festgelegter Bedingungen geknüpft.

3 Die erwähnte Vorschrift lautet:

"Für die Ausübung der in Absatz 1 genannten Tätigkeit gelten folgende Bedingungen:

a) Errichtung einer Gesellschaft in der Form einer italienischen Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft oder einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union; Führung der Bezeichnung "Gesellschaft zur Erbringung von Zeitarbeit"; Bezeichnung dieser Aktivität als ausschließlichen Gesellschaftszweck; Gesellschaftskapital von nicht weniger als 1 Milliarde ITL; Sitz oder Zweigniederlassung im Inland;

...

c) Als Garantie für die Forderungen der mit Vertrag gemäß Artikel 3 [Vertrag über die Leistung von Zeitarbeit] eingestellten Arbeitnehmer und die entsprechenden Beitragsforderungen der Sozialversicherungsträger Stellung einer Sicherheit in Höhe von 700 Millionen ITL bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland für die ersten beiden Jahre; ab dem dritten Kalenderjahr anstelle der Sicherheitsleistung die Stellung einer Bankgarantie oder einer vergleichbaren Versicherung in Höhe von mindestens 5 % des Vorjahresumsatzes ohne Mehrwertsteuer und jedenfalls nicht geringer als 700 Millionen ITL.

..."

4 Nach Artikel 10 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 196/97 können gegen Personen, die die Tätigkeit der Zeitarbeitsvermittlung ausüben, ohne im Besitz der in Artikel 2 dieses Gesetzes vorgesehenen Erlaubnis zu sein, ordnungs- oder strafrechtliche Sanktionen verhängt werden.

Vorprozessuales Verfahren

5 Die Kommission, die Artikel 2 Absatz 2 Buchstaben a und c des Gesetzes Nr. 196/97 für mit den Artikeln 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 73b EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 56 EG) unvereinbar hält, forderte die italienische Regierung mit Schreiben vom 29. Juli 1998 auf, sich binnen zwei Monaten dazu zu äußern.

6 Mit Schreiben vom 6. November 1998 antwortete die italienische Regierung auf dieses Schreiben, dass die besagten Vorschriften des Gesetzes Nr. 196/97 aus Gründen der öffentlichen Ordnung gemäß Artikel 56 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 46 EG) und 66 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 55 EG) gerechtfertigt seien, da sie dem effektiven Schutz der Rechte der Arbeitnehmer im Hinblick auf die Entlohnung und die Sozialabgaben gegenüber ihrem eigenen Arbeitgeber, dem Zeitarbeitsunternehmen, dienten.

7 Da sie die Antwort der italienischen Regierung für ungenügend befand, übermittelte die Kommission der Italienischen Republik am 28. April 1999 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie sie aufforderte, binnen zwei Monaten nach Zustellung dieser Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Verpflichtungen aus den Artikeln 59 und 73b des Vertrages nachzukommen.

8 Da die italienische Regierung auf diese mit Gründen versehene Stellungnahme nicht reagierte, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

Vorbemerkung

9 In ihrer Gegenerwiderung führt die italienische Regierung aus, dass durch Artikel 117 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 388 vom 23. Dezember 2000 (GURI Nr. 302 vom 29. Dezember 2000, Beilage Nr. 219/L, S. 1) Artikel 2 Absatz 2 Buchstaben a und c des Gesetzes Nr. 196/97 dahin abgeändert worden sei, dass in beide Bestimmungen jeweils nach den Worten "Sitz oder Zweigniederlassung im Inland" die Wendung "oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union" eingefügt worden sei. Sie fordert die Kommission deshalb auf, in Bezug auf die erste der beiden Rügen (Erfordernis eines Sitzes oder einer Zweigniederlassung im Inland) und auf den zweiten Teil der zweiten Rüge (Verpflichtung, eine Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland zu stellen) die Klage zurückzunehmen.

10 Da die Kommission dieser Aufforderung nicht nachgekommen ist, ist darauf hinzuweisen, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der Lage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, und dass später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (vgl. u. a. Urteile vom 12. Dezember 2000 in der Rechtssache C-435/99, Kommission/Portugal, Slg. 2000, I-11179, Randnr. 16, und vom 11. Oktober 2001 in der Rechtssache C-111/00, Kommission/Österreich, Slg. 2001, I-7555, Randnr. 13).

11 Es sind somit sämtliche von der Kommission in ihrer Klage vorgetragenen Rügen zu prüfen.

Erforderlichkeit eines Sitzes oder einer Zweigniederlassung im Inland

12 Die Kommission macht geltend, dass Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a des Gesetzes Nr. 196/97, nach dem die Zeitarbeitsunternehmen verpflichtet seien, ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland zu errichten, gegen Artikel 49 EG verstoße, da diese Bedingung praktisch die Negation des in dieser Vorschrift garantierten freien Dienstleistungsverkehrs darstelle und da sie zur Folge habe, dieser jegliche praktische Wirksamkeit zu nehmen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 205/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1986, 3755, Randnr. 52).

13 Unter Bezugnahme auf die Urteile des Gerichtshofes vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-288/89 (Collectieve Antennevoorziening Gouda, Slg. 1991, I-4007, Randnr. 11) und vom 14. November 1995 in der Rechtssache C-484/93 (Svensson und Gustavsson, Slg. 1995, I-3955, Randnr. 15) führt die Kommission aus, dass solche diskriminierenden Beschränkungen gegenüber Marktteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten nur dann zulässig seien, wenn sie nach einem der ausdrücklich in Artikel 46 EG in Verbindung mit Artikel 55 EG vorgesehenen Ausnahmetatbestände gerechtfertigt seien. Was insbesondere die "Gründe der öffentlichen Ordnung" anbelange, die zu den in Artikel 46 EG aufgezählten Gründen des Allgemeininteresses gehörten und auf die sich die italienische Regierung in ihrer Antwort auf das Aufforderungsschreiben berufe, sei darauf hinzuweisen, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung eng ausgelegt werden müsse (vgl. Urteile vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 24, und vom 9. März 2000 in der Rechtssache C-355/98, Kommission/Belgien, Slg. 2000, I-1221, Randnr. 28). Jedenfalls setze der Rückgriff auf diesen Begriff über die soziale Störung, die jedem Gesetzesverstoß innewohne, hinaus die Existenz einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre (vgl. u. a. Urteile vom 7. Mai 1998 in der Rechtssache C-350/96, Clean Car Autoservice, Slg. 1998, I-2521, Randnr. 40, und Kommission/Belgien, Randnr. 28). Außerdem seien die Argumente, auf die sich die italienische Regierung zur Rechtfertigung der erwähnten Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs berufe, nicht begründet.

14 Die italienische Regierung weist darauf hin, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Dezember 1981 in der Rechtssache 279/80 (Webb, Slg. 1981, 3305, Randnr. 18) anerkannt habe, dass die Überlassung von Arbeitnehmern einen aus beruflicher und sozialer Sicht besonders sensiblen Bereich darstelle, und macht geltend, dass der Zeitarbeitsmarkt noch heute in erheblichem Maße durch Betrug und Verletzung von Arbeitnehmerrechten gekennzeichnet sei.

15 In diesem Zusammenhang stelle sich das Erfordernis der Errichtung des Sitzes oder einer Zweigniederlassung eines Zeitarbeitsunternehmens im Inland als ein Mittel zum Schutz der Arbeitnehmerrechte im Hinblick auf die Zahlung der Löhne und Gehälter sowie der Sozialversicherungsbeiträge dar, denn bei Nichtbestehen dieser Bedingung wären die Arbeitnehmer gezwungen, zur Geltendmachung ihrer Forderungen gegen ihren Arbeitgeber vor einem ausländischen Gericht komplexe und wenig erfolgversprechende Gerichtsverfahren zu führen.

16 Die Hindernisse, die mit Hilfe dieser Bedingung überwunden werden sollten, seien hauptsächlich wirtschaftlicher Art und resultierten daraus, dass dem Arbeitnehmer durch die Geltendmachung relativ geringer Summen ebenso hohe oder sogar höhere Kosten entstuenden, wenn er die Gerichtsbarkeit eines anderen Mitgliedstaates anrufen müsse.

17 Um über die Begründetheit der ersten Rüge der Kommission entscheiden zu können, ist zunächst festzustellen, dass das Erfordernis, dass Zeitarbeitsunternehmen, die in Italien ansässigen Nutzern Arbeitskräfte zur Verfügung stellen wollen, ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland errichten müssen, dem freien Dienstleistungsverkehr direkt zuwiderläuft, da es die Erbringung von Dienstleistungen in dem besagten Mitgliedstaat durch Unternehmen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten unmöglich macht (vgl. Urteile Kommission/Belgien, Randnr. 27, und vom 29. Mai 2001 in der Rechtssache C-263/99, Kommission/Italien, Slg. 2001, I-4195, Randnr. 20).

18 Ein solches Erfordernis, das, wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, praktisch die Negation der Dienstleistungsfreiheit darstellt, ist nur zulässig, wenn nachgewiesen wird, dass es eine unerlässliche Voraussetzung für die Erreichung des verfolgten Zieles ist (vgl. Urteile vom 9. Juli 1997 in der Rechtssache C-222/95, Parodi, Slg. 1997, I-3899, Randnr. 31, und vom 25. Oktober 2001 in der Rechtssache C-493/99, Kommission/Deutschland, Slg. 2001, I-8163, Randnr. 19).

19 Hierzu ist der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu entnehmen, dass der Schutz der Arbeitnehmer zu den anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört (vgl. u. a. Urteile Webb, Randnr. 19, und Collectieve Antennevoorziening Gouda, Randnr. 14, sowie Urteil vom 23. November 1999 in den Rechtssachen C-369/96 und C-376/96, Arblade u. a., Slg. 1999, I-8453, Randnr. 36).

20 Das Erfordernis eines Sitzes oder einer Zweigniederlassung im Inland, wie es in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a des Gesetzes Nr. 196/97 enthalten ist, geht jedoch über das hinaus, was erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der Arbeitnehmer, auf das sich die italienische Regierung beruft, zu erreichen.

21 Dieses Erfordernis gilt nämlich unterschiedslos für alle Zeitarbeitsunternehmen, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Italien haben, ohne dass nach dem Wohnort der von einem solchen Unternehmen angestellten Arbeitnehmer unterschieden wird.

22 Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die von einem Zeitarbeitsunternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat einem in Italien ansässigen Nutzer von Zeitarbeitskräften zur Verfügung gestellten Arbeitnehmer in diesem anderen Mitgliedstaat wohnen, so dass für sie das im vorliegenden Fall von der italienischen Regierung zur Rechtfertigung des fraglichen Erfordernisses angeführte Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer nicht besteht.

23 Das gleiche gilt in dem Fall, dass der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit in Italien im Rahmen eines individuellen Arbeitsvertrags verrichtet.

24 Gemäß Artikel 5 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 (konsolidierte Fassung, ABl. 1998, C 27, S. 1) kann der Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber selbst dann vor den Gerichten des Vertragsstaats, in dem er gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, verklagen, wenn sein Arbeitgeber seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaats hat.

25 Im Übrigen hat die italienische Regierung kein überzeugendes Argument dafür angeführt, dass ein Prozess, den ein in Italien wohnender, jedoch in den Diensten eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Zeitarbeitsunternehmens stehender Arbeitnehmer, der einem in Italien ansässigen Nutzer von Zeitarbeitskräften zur Verfügung gestellt wurde, gegen seinen Arbeitgeber vor einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats führt, unbedingt und in jedem Fall schwieriger und weniger erfolgversprechend ist als ein gleichartiges Verfahren vor einem italienischen Gericht.

26 Demnach greift die erste Rüge der Kommission durch.

Pflicht zur Stellung einer Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder einer Zweigniederlassug im Inland

27 Die Kommission führt aus, dass die Verpflichtung zur Stellung einer Sicherheit in Italien, wie sie in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe c des Gesetzes Nr. 196/97 vorgesehen sei, außerdem gegen Artikel 49 EG verstoße, da dies eine offensichtliche Behinderung der Ausübung der Tätigkeit der Zeitarbeitsvermittlung in Italien durch Unternehmen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten darstelle, die bereits die im Recht des Staates, in dem sie ansässig seien, vorgesehenen Bedingungen erfuellen müssten.

28 Wie in der Rechtssache Svensson und Gustavsson verstoße die Pflicht zur Stellung einer solchen Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland im Übrigen sowohl gegen Artikel 56 EG als auch gegen Artikel 49 EG und sei nur durch die ausdrücklich in Artikel 46 EG in Verbindung mit Artikel 55 EG genannten Gründe des Allgemeininteresses zu rechtfertigen.

29 Die italienische Regierung führt aus, die Stellung einer Sicherheit diene dem Ziel, die Lohnforderungen der von den Zeitarbeitsunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer und die Zahlung der entsprechenden Sozialabgaben zu garantieren. Die im italienischen Recht vorgesehene Sicherheit entspreche nicht den im Recht anderer Mitgliedstaaten geforderten Garantien und sei mit diesen nicht vergleichbar, denn diese Garantien seien zur Sicherung der Forderungen bestimmt, die in einem anderen Mitgliedstaat entstanden seien, oder verfolgten andere Zielsetzungen als die in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe c des Gesetzes Nr. 196/97 vorgesehene Sicherheit.

30 Im Hinblick auf das Erfordernis der Stellung dieser Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland verweist die italienische Regierung auf die gegenüber der ersten Rüge der Kommission vorgetragene Rechtfertigung und führt aus, dass die Stellung einer Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat für die Arbeitnehmer höhere Kosten mit sich brächte.

Pflicht zur Stellung einer Sicherheit

31 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt Artikel 49 EG nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen - selbst wenn sie unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten -, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. u. a. die Urteile Parodi, Randnr. 18, und Arblade u. a., Randnr. 33)

32 Unstreitig ist die Pflicht zur Stellung einer Sicherheit als Voraussetzung für den Erhalt der in Italien zur Ausübung der Tätigkeit der Zeitarbeitsvermittlung erforderlichen Genehmigung geeignet, die Tätigkeiten eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden zu behindern, und stellt daher eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne des Artikels 49 EG dar.

33 Zu den von der italienischen Regierung zur Rechtfertigung dieser Beschränkung vorgetragenen Argumenten ist darauf hinzuweisen, dass ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung der freie Dienstleistungsverkehr als fundamentaler Grundsatz des Vertrages nur durch Regelungen beschränkt werden darf, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist (vgl. u. a. Urteile Parodi, Randnr. 21, Arblade u. a., Randnr. 34, und Kommission/Italien, Randnr. 37).

34 Indem jedoch Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe c des Gesetzes Nr. 196/97 vorschreibt, dass alle Unternehmen die dort vorgesehene Sicherheit stellen müssen, um die in Italien zur Ausübung der Tätigkeit der Zeitarbeitsvermittlung erforderliche Genehmigung zu erhalten, schließt es diese Vorschrift aus, dass ihrer Zielsetzung nach vergleichbaren Verpflichtungen Rechnung getragen wird, denen der Dienstleistende bereits in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist (vgl. außer den genannten Urteilen Kommission/Belgien, Randnr. 38, und Kommission/Italien, Randnr. 24, Urteil vom 9. März 2000 in der Rechtssache C-358/98, Kommission/Italien, Slg. 2000, I-1255, Randnr. 13).

35 Daher ist die zweite Rüge der Kommission, soweit mit ihr die Pflicht zur Stellung einer Sicherheit beanstandet wird, begründet.

Pflicht zur Stellung einer Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland

36 Zum einen ist unstreitig, dass, wie sich aus der Rubrik IX der Nomenklatur für den Kapitalverkehr im Anhang I der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages (ABl. L 178, S. 5) ergibt, von Gebietsfremden an Gebietsansässige oder von Gebietsansässigen an Gebietsfremde gewährte Sicherheiten Kapitalbewegungen im Sinne des Artikels 1 dieser Richtlinie darstellen und somit von Artikel 56 Absatz 1 EG erfasst werden (vgl. Urteil vom 16. März 1999 in der Rechtssache C-222/97, Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661, Randnrn. 21 bis 24).

37 Zum anderen stellt die Pflicht zur Stellung einer Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland, wie sie sich aus Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe c des Gesetzes Nr. 196/97 ergibt, eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne des Artikels 56 Absatz 1 EG dar, da hierdurch ein Unternehmen, das in Italien die Tätigkeit der Zeitarbeitsvermittlung ausüben möchte, daran gehindert wird, zwecks Erlangung der zu diesem Zweck erforderlichen Genehmigung eine Sicherheit bei einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Kreditinstitut zu stellen.

38 Im Übrigen stellt eine nationale Bestimmung wie Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe c des Gesetzes Nr. 196/97, die den Kreditinstituten mit Sitz oder Zweigniederlassung in Italien die Stellung der für den Erhalt der erwähnten Genehmigung erforderlichen Sicherheit vorbehält, auch eine nach Artikel 49 Absatz 1 EG verbotene Diskriminierung der in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Kreditinstituten dar (vgl. Urteil Svensson und Gustavsson, Randnr. 12).

39 Zu den zur Rechtfertigung des Artikels 2 Absatz 2 Buchstabe c des Gesetzes Nr. 196/97 vorgebrachten Argumenten der italienischen Regierung ist lediglich festzustellen, dass die nach dieser Vorschrift erforderliche Sicherheit von den Zeitarbeitsunternehmen zu stellen ist und dass dies somit keine Kosten zu Lasten der von diesen beschäftigten Arbeitnehmer verursacht.

40 Somit ist die zweite Rüge der Kommission auch insoweit begründet, als mit ihr die Pflicht zur Stellung einer Sicherheit bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland beanstandet wird, so dass dieser Rüge insgesamt stattzugeben ist.

41 Aus den gesamten vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 49 EG und 56 EG verstoßen hat, dass sie vorschreibt, dass in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Zeitarbeitsunternehmen ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland errichten und eine Sicherheit in Höhe von 700 Millionen ITL bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland stellen müssen.

Kostenentscheidung:

Kosten

42 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission beantragt hat, die Italienische Republik zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind der Italienischen Republik die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 49 EG und 56 EG verstoßen, dass sie vorschreibt, dass in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Zeitarbeitsunternehmen ihren Sitz oder eine Zweigniederlassung im Inland errichten und eine Sicherheit in Höhe von 700 Millionen ITL bei einem Kreditinstitut mit Sitz oder Zweigniederlassung im Inland stellen müssen.

2. Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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