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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.12.1993
Aktenzeichen: C-28/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, VO 1408/71


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
VO 1408/71 Art. 9
VO 1408/71 Art. 10 Abs. 2
VO 1408/71 Art. 13 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Artikel 3, 9, 10 Absatz 2 und 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 stehen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die die Erstattung der von einem Arbeitnehmer entrichteten Pflichtversicherungsbeiträge vorsehen, wenn er in diesem Staat einem besonderen Versorgungssystem für Beamte angehört, dies aber ausschließen, wenn der Arbeitnehmer in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats eintritt.

Nach diesen Rechtsvorschriften stellt der einem Arbeitnehmer, der in den nationalen öffentlichen Dienst eintritt, nachdem er Pflichtversicherungsbeiträge entrichtet hatte, zustehende Anspruch auf Erstattung der entrichteten Beiträge nämlich den Ausgleich dafür dar, daß er bei Nichterreichen einer Mindestbeitragszeit durch den Übergang in das System des öffentlichen Dienstes jeden Anspruch auf eine Rente aus dem Versorgungssystem, dem er vorher angehörte, verliert, während der Arbeitnehmer, der in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats eintritt, nach den entsprechenden Rechtsvorschriften seine Mitgliedschaft fortsetzen und freiwillig Beiträge entrichten kann, so daß es sich um zwei Fälle handelt, die nicht miteinander vergleichbar sind und auf die das Diskriminierungsverbot keine Anwendung findet.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 16. DEZEMBER 1993. - MARIE-HELENE LEGUAYE-NEELSEN GEGEN BUNDESVERSICHERUNGSANSTALT FUER ANGESTELLTE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SOZIALGERICHT REUTLINGEN - DEUTSCHLAND. - SOZIALE SICHERHEIT - BEAMTE - ERSTATTUNG VON BEITRAEGEN. - RECHTSSACHE C-28/92.

Entscheidungsgründe:

1 Das Sozialgericht Reutlingen (Bundesrepublik Deutschland) hat mit Beschluß vom 19. Dezember 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Februar 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 9, 10 Absatz 2 und 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (Abl. L 230, S. 6; im folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit einer Klage, die die Klägerin Marie-Hélène Leguaye-Neelsen, eine französische Staatsangehörige, beim Sozialgericht Reutlingen gegen einen Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (im folgenden: Beklagte) erhoben hat, mit dem ihr Antrag auf Rückerstattung der Pflichtbeiträge, die sie von 1973 bis 1977, während sie in Deutschland angestellt war, an die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt hatte, abgelehnt worden war.

3 Nach ihrem Aufenthalt in Deutschland trat die Klägerin in die französische Verwaltung ein, wo sie inzwischen als Lehrerin tätig ist. Obwohl die Klägerin in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland wohnt, darf sie gemäß Anhang VI Abschnitt C Ziffer 7 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 freiwillige Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichten.

4 Der ablehnende Bescheid der Beklagten ist darauf gestützt, daß das deutsche Recht den Arbeitnehmern, die Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung entrichtet haben, keinen Anspruch auf Erstattung dieser Beiträge gewährt, wenn sie in der Folge zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt sind.

5 Personen, die in den deutschen öffentlichen Dienst eintreten, nachdem sie weniger als 60 Monate in Deutschland pflichtversichert waren, haben keinen Anspruch auf freiwillige Weiterversicherung und können die Erstattung der von ihnen entrichteten Beiträge beantragen.

6 Nach Ansicht des Sozialgerichts Reutlingen ist für seine Entscheidung eine Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 erforderlich; es hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Artikel 9, 10 Absatz 2 und 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin auszulegen, daß der Anspruch auf Beitragserstattung nach inländischem Recht auch dann besteht, wenn ein Arbeitnehmer nicht nach den nationalen Bestimmungen des Inlandes, sondern nach denen eines anderen Mitgliedstaats einem vergleichbaren Versorgungssystem der Beamten angehört?

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß eine Regelung wie die hier streitige nicht nur anhand der vom vorlegenden Gericht angeführten Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 zu beurteilen ist, sondern auch anhand des Artikels 3 dieser Verordnung. Eine derartige Regelung sieht nämlich unterschiedliche Systeme vor, je nachdem, ob der Betroffene in den öffentlichen Dienst des Staates eintritt, aus dem diese Regelung stammt, oder in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats. Es ist daher zu prüfen, ob diese unterschiedliche Behandlung, wie von der Kommission vorgetragen, eine nach Artikel 3 verbotene Diskriminierung darstellt.

9 Vor diesem Hintergrund ist die Vorlagefrage dahin zu verstehen, daß gefragt wird, ob die Artikel 3, 9, 10 Absatz 2 und 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, daß sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Erstattung der von einem Arbeitnehmer entrichteten Pflichtversicherungsbeiträge vorsehen, wenn er in diesem Staat einem besonderen Versorgungssystem für Beamte angehört, dies aber ausschließen, wenn der Arbeitnehmer in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats eintritt.

Zur Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71

10 Nach Auffassung der deutschen Regierung ist die Verordnung Nr. 1408/71 im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der streitige Erstattungsanspruch ergebe sich nämlich aus dem Umstand, daß deutsche Beamte aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem besonderen Versorgungssystem nicht mehr der gesetzlichen Versicherungspflicht unterlägen und kein Recht auf freiwillige Weiterversicherung hätten, wenn sie weniger als 60 Beitragsmonate zurückgelegt hätten. Dieser Erstattungsanspruch sei daher ein Bestandteil des Sondersystems der deutschen Beamtenversorgung, das gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 vom Geltungsbereich dieser Verordnung ausgenommen sei.

11 Hierzu ist festzustellen, daß, wie der Generalanwalt in den Nummern 9 und 10 der Schlussanträge ausgeführt hat, die Beamteneigenschaft des Betroffenen nicht ausschlaggebend für den Erstattungsanspruch ist. Dieser Anspruch ist nämlich der Ausgleich für das nicht bestehende Recht auf freiwillige Weiterversicherung, das nicht nur die Beamten des fraglichen Mitgliedstaats betrifft, sondern auch andere Personengruppen, wie etwa die aus Drittländern stammenden Arbeitnehmer, die in diesem Mitgliedstaat nicht mehr der Versicherungspflicht unterliegen, ohne daß sie während des für einen Anspruch auf Altersrente erforderlichen Zeitraums Beiträge entrichtet haben.

12 Daraus folgt, daß der streitige Erstattungsanspruch nicht gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 deren Anwendung entzogen ist.

Zu Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71

13 Nach deutschem Recht haben Personen, die in Deutschland nicht mehr der Versicherungspflicht unterliegen, aber keine Rentenanwartschaft erworben haben, im allgemeinen keinen Anspruch auf Erstattung der entrichteten Pflichtbeiträge, sondern sie können weiter freiwillige Beiträge zur deutschen Versicherung leisten, um eine Rentenanwartschaft zu begründen. Diese Regelung gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers.

14 Für Arbeitnehmer, die weniger als 60 Monate Pflichtbeiträge entrichtet haben und anschließend in den deutschen öffentlichen Dienst eintreten, ist das Recht auf Entrichtung freiwilliger Beiträge nach deutschem Recht jedoch ausgeschlossen. Der Anspruch auf Erstattung der entrichteten Beiträge stellt in diesem Fall daher den Ausgleich für den Verlust des späteren Rentenanspruchs dar.

15 Der Fall dieser Arbeitnehmer ist nicht vergleichbar mit demjenigen der Arbeitnehmer, die unter denselben Umständen in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats eintreten, da letzteren im Gegensatz zu den erstgenannten in Deutschland das Recht auf Entrichtung freiwilliger Beiträge zusteht.

16 Hierzu ist festzustellen, daß ° wie sich aus den Akten ergibt ° die in Randnummer 14 erwähnte Sonderregelung für Personen, die in den deutschen öffentlichen Dienst eintreten, Doppelversorgungen verhindern soll. Der deutsche Gesetzgeber ist jedoch nicht verpflichtet, Doppelversorgungen zu berücksichtigen, die eine Folge der gleichzeitigen Anwendung seines eigenen Sozialversicherungssystems und eines in einem anderen Mitgliedstaat bestehenden Sondersystems der sozialen Sicherung sind; er ist daher in keiner Weise daran gehindert, Personen, die sich in derselben Situation wie die Klägerin befinden, der Regelung zu unterwerfen, die allgemein für Personen gilt, die nicht mehr der Versicherungspflicht unterliegen.

17 Es trifft zu, daß Arbeitnehmer, die in einem Mitgliedstaat nicht mehr der Versicherungspflicht unterliegen und die als Arbeitnehmer oder Selbständige in einem anderen Mitgliedstaat der Versicherungspflicht unterliegen, gemäß Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 einen Anspruch darauf haben, daß die im ersten Mitgliedstaat zurückgelegte Versicherungszeit im zweiten Mitgliedstaat berücksichtigt wird, während Personen, die sich in derselben Situation wie die Klägerin befinden, hiervon ausgeschlossen sind. Dies ergibt sich jedoch daraus, daß die Verordnung Nr. 1408/71 gemäß ihrem Artikel 4 Absatz 4 nicht auf Sondersysteme für Beamte anzuwenden ist und daher nicht die Ausdehnung der Regelung, die im ersten Mitgliedstaat für Personen gilt, die in den öffentlichen Dienst dieses Staates eintreten, auf Arbeitnehmer gebietet, die in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats treten.

18 Die Anwendung der allgemein für Arbeitnehmer, die nicht mehr der Versicherungspflicht unterliegen, geltenden Regelung auf Arbeitnehmer, die in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats treten, stellt daher keine nach Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71 verbotene Diskriminierung dar.

Zu den Artikeln 9, 10 Absatz 2 und 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71

19 Auch die übrigen in der Vorlagefrage genannten Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 verlangen den streitigen Erstattungsanspruch nicht.

20 Zunächt einmal betrifft Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, dem zufolge "Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, durch welche die freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung davon abhängig gemacht wird, daß der Berechtigte im Gebiet dieses Staates wohnt,... nicht für Personen [gelten], die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, wenn für diese Personen zu irgendeiner Zeit ihrer früheren Laufbahn als Arbeitnehmer oder Selbständige die Rechtsvorschriften des ersten Staates gegolten haben", die Voraussetzungen, von denen die Mitgliedstaaten die freiwillige Versicherung oder Weiterversicherung abhängig machen, nicht aber die Voraussetzungen für eine etwaige Erstattung der Beiträge.

21 Sodann bedeutet Artikel 10 Absatz 2 dieser Verordnung, dem zufolge in dem Fall, daß "... nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Beitragserstattung davon abhängig [ist], daß die Versicherungspflicht für die betreffende Person entfallen ist,... diese Voraussetzung als nicht erfuellt [gilt], solange diese Person aufgrund der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als Arbeitnehmer oder Selbständiger pflichtversichert ist", nicht, daß der Erstattungsanspruch in anderen Fällen gegeben ist.

22 Schließlich kann Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe b dieser Verordnung, dem zufolge "Beamte und ihnen gleichgestellte Personen... den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats [unterliegen], in dessen Behörde sie beschäftigt sind", soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, nicht dazu führen, daß die Verhältnisse des Betroffenen im Hinblick auf die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, denen er zuvor unterworfen war, in Frage gestellt werden.

23 Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß die Artikel 3, 9, 10 Absatz 2 und 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, daß sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die die Erstattung der von einem Arbeitnehmer entrichteten Pflichtversicherungsbeiträge vorsehen, wenn er in diesem Staat einem besonderen Versorgungssystem für Beamte angehört, dies aber ausschließen, wenn der Arbeitnehmer in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats eintritt.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Die Auslagen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Sozialgericht Reutlingen mit Beschluß vom 19. Dezember 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Artikel 3, 9, 10 Absatz 2 und 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 sind dahin auszulegen, daß sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die die Erstattung der von einem Arbeitnehmer entrichteten Pflichtversicherungsbeiträge vorsehen, wenn er in diesem Staat einem besonderen Versorgungssystem für Beamte angehört, dies aber ausschließen, wenn der Arbeitnehmer in den öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats eintritt.

Ende der Entscheidung

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