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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.01.2009
Aktenzeichen: C-281/07
Rechtsgebiete: Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95


Vorschriften:

Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

15. Januar 2009

"Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 - Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften - Art. 3 - Rückforderung einer Ausfuhrerstattung - Verschulden der nationalen Verwaltung - Verjährungsfrist"

Parteien:

In der Rechtssache C-281/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. März 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juni 2007, in dem Verfahren

Hauptzollamt Hamburg-Jonas

gegen

Bayerische Hypotheken- und Vereinsbank AG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richter J.-C. Bonichot, J. Makarczyk und P. Kuris sowie der Richterin C. Toader (Berichterstatterin),

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch F. Erlbacher und Z. Malu¨ková als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. September 2008

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Hauptzollamt Hamburg-Jonas (im Folgenden: Hauptzollamt) und der Bayerischen Hypotheken- und Vereinsbank AG (im Folgenden: BHV) wegen der Rückzahlung einer Ausfuhrerstattung.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3 Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 der Kommission vom 27. November 1987 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 351, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2945/94 der Kommission vom 2. Dezember 1994 (ABl. L 310, S. 57) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 3665/87) bestimmt:

"... wenn eine Erstattung unrechtmäßig gewährt wird, erstattet der Begünstigte unter Einbeziehung aller nach Absatz 1 erster Unterabsatz fälligen Sanktionen den unrechtmäßig erhaltenen Betrag zuzüglich Zinsen für die Zeit zwischen der Gewährung der Erstattung und ihrer Rückerstattung.

...

Erfolgt die unrechtmäßige Zahlung durch Verschulden der zuständigen Behörde, so fallen keine Zinsen an. Allenfalls wird ein vom Mitgliedstaat nach Maßgabe des unrechtmäßig erzielten Vorteils festzulegender Betrag erhoben."

4 Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:

"(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.

(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe."

5 Art. 3 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2988/95 sieht vor:

"(1) Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.

...

(3) Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, eine längere Frist als die in Absatz 1 ... vorgesehene Frist anzuwenden."

Nationales Recht

6 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gab es in Deutschland im maßgeblichen Zeitraum keine Vorschrift, die die Verjährungsfristen bei verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten über zu Unrecht gewährte Vergünstigungen speziell regelte. Die deutsche Verwaltung und die deutschen Gerichte wandten vielmehr die regelmäßige dreißigjährige Verjährungsfrist des § 195 des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend an. Seit 2002 ist diese regelmäßige Verjährungsfrist jedoch auf drei Jahre verkürzt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass die LAGRA Import Export GmbH (im Folgenden: LAGRA) 1995 31 Rinder zur Ausfuhr in die Türkei anmeldete und für sie eine Ausfuhrerstattung beantragte. Mit Schreiben vom 17. Januar 1996 zeigte LAGRA dem Hauptzollamt an, dass eines der Rinder vor Verlassen der Europäischen Gemeinschaft verendet sei, und bat um eine entsprechende Änderung ihres Erstattungsantrags. Ohne dieses Schreiben und die entsprechenden Eintragungen im Kontrollexemplar T5 zu berücksichtigen, setzte das Hauptzollamt mit Bescheid vom 19. April 1996 die Ausfuhrerstattung für alle 31 Rinder fest.

8 Das Hauptzollamt erkannte später seinen Fehler und forderte daraufhin mit Berichtigungsbescheid vom 5. August 1999 die Ausfuhrerstattung für das eine verendete Tier in Höhe von 1 137,57 DM zurück.

9 Im Juli 2000 wurde über das Vermögen von LAGRA das Insolvenzverfahren eröffnet. Infolge Zession wurde BHV Schuldnerin der Forderung wegen zu Unrecht an LAGRA ausgezahlter Ausfuhrerstattung. Das Hauptzollamt versuchte daraufhin, den Rückforderungsbetrag bei BHV mittels Haftungsbescheids durchzusetzen, der auf den 12. Dezember 2001 datiert war. Die Bekanntgabe dieses Bescheids an BHV lässt sich jedoch erst für Mai 2004 nachweisen.

10 BHV erhob gegen den Haftungsbescheid Klage, der das Finanzgericht mit der Begründung stattgab, dass der auf Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 5 der Verordnung Nr. 3665/87 gestützte Rückforderungsanspruch nicht mehr bestehe, weil er aufgrund des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 durch Verjährung erloschen sei.

11 Gegen dieses Urteil des Finanzgerichts Hamburg legte das Hauptzollamt Revision zum Bundesfinanzhof ein. Der Bundesfinanzhof hegt Zweifel an der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 2988/95, da nach Art. 1 Abs. 2 nur Unregelmäßigkeiten in ihren Anwendungsbereich fielen, die Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers seien, und nicht solche, die aus einer Handlung oder Unterlassung der zuständigen Behörde resultierten.

12 Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 2988/95 auf die Rückforderung einem Ausführer zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattung anzuwenden, auch wenn dieser keine Unregelmäßigkeit begangen hat?

Für den Fall der Bejahung dieser Frage:

2. Ist die Vorschrift entsprechend auf die Rückforderung solcher Vergünstigungen bei demjenigen anzuwenden, an den der Ausführer seinen Anspruch auf Ausfuhrerstattung abgetreten hat?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

13 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 auf ein Verfahren zur Rückforderung einer Ausfuhrerstattung anzuwenden ist, die einem Ausführer durch Verschulden der nationalen Behörden zu Unrecht gewährt wurde, wenn der Ausführer keine Unregelmäßigkeit begangen hat.

14 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung (EG) Nr. 800/1999 der Kommission vom 15. April 1999 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 102, S. 11) für einen solchen Fall Verjährungsregelungen vorsieht, in Art. 54 Abs. 1 jedoch bestimmt, dass die Verordnung Nr. 3665/87 zwar aufgehoben wird, aber weiterhin für Ausfuhren gilt, für die die Ausfuhranmeldungen - wie im Ausgangsverfahren - vor dem Datum der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 800/1999, d. h. vor dem 1. Juli 1999, angenommen worden sind.

15 Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 3665/87 bestimmt, dass, wenn eine Erstattung unrechtmäßig gewährt wird, der Begünstigte den unrechtmäßig erhaltenen Betrag zuzüglich Zinsen erstattet, die jedoch nicht anfallen, wenn die unrechtmäßige Zahlung durch Verschulden der zuständigen Behörde erfolgt, oder es wird allenfalls ein vom Mitgliedstaat nach Maßgabe des unrechtmäßig erzielten Vorteils festzulegender Betrag erhoben.

16 Da allerdings die Verordnung Nr. 3665/87 die Verjährung für das Verfahren zur Rückforderung unrechtmäßig erhaltener Ausfuhrerstattungen nicht regelt, ist auf Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 zurückzugreifen.

17 Diese Bestimmung ist auf jede Unregelmäßigkeit anwendbar, die unter die Definition des Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 fällt.

18 Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 gilt zwar sowohl für Unregelmäßigkeiten, die eine verwaltungsrechtliche Sanktion im Sinne von Art. 5 dieser Verordnung nach sich ziehen, als auch für solche, die Gegenstand einer verwaltungsrechtlichen Maßnahme im Sinne von Art. 4 der Verordnung sind, d. h. einer Maßnahme, die auf den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils gerichtet ist, ohne dass sie Sanktionscharakter hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2004, Handlbauer, C-278/02, Slg. 2004, I-6171, Randnrn. 33 und 34).

19 Jedoch setzt Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 für die Verfolgung eine Verjährungsfrist fest, die ab Begehung der Unregelmäßigkeit läuft, wobei dieser Tatbestand gemäß Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung "bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben [ist], die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften ... bewirkt hat bzw. bewirkt haben würde ...".

20 Wie aber sowohl die Kommission der Europäischen Gemeinschaften als auch die Generalanwältin in Nr. 31 ihrer Schlussanträge ausgeführt haben, impliziert der Begriff der "Unregelmäßigkeit" im Kontext der Verordnung Nr. 2988/95, dass der Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung Folge der Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers ist.

21 Daher fällt die Situation, dass einem Wirtschaftsteilnehmer eine Ausfuhrerstattung durch Verschulden der nationalen Behörden zu Unrecht gewährt wurde, nicht unter den Begriff der "Unregelmäßigkeit" im Sinne der Verordnung Nr. 2988/95.

22 Die Verjährungsregelung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung gilt somit nicht für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten, die auf ein Verschulden der nationalen Behörden zurückzuführen sind.

23 Deshalb unterliegt in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Frage der Verjährung der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge den dafür einschlägigen nationalen Regeln.

24 Die nationalen Gerichte müssen nämlich Rechtsstreitigkeiten über die Wiedereinziehung von zu Unrecht aufgrund des Gemeinschaftsrechts geleisteten Zahlungen in Ermangelung gemeinschaftlicher Vorschriften nach ihrem nationalen Recht entscheiden, jedoch vorbehaltlich der durch das Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen; danach dürfen die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten nicht darauf hinauslaufen, dass die Verwirklichung der Gemeinschaftsregelung praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, und das nationale Recht muss ohne Diskriminierung im Vergleich zu den Verfahren, in denen über gleichartige rein nationale Streitigkeiten entschieden wird, angewandt werden (Urteil vom 19. September 2002, Huber, C-336/00, Slg. 2002, I-7699, Randnr. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25 Zudem muss dem Interesse der Gemeinschaft an der Rückforderung von Ausfuhrerstattungen, die unter Verstoß gegen die Gewährungsvoraussetzungen ausgezahlt worden sind, bei der Bestimmung der darauf anwendbaren Verjährungsfristen in vollem Umfang Rechnung getragen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Huber, Randnr. 57).

26 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 nicht auf ein Verfahren zur Rückforderung einer Ausfuhrerstattung anzuwenden ist, die einem Ausführer durch Verschulden der nationalen Behörden zu Unrecht gewährt wurde, wenn der Ausführer keine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung begangen hat.

Zur zweiten Frage

27 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

Kostenentscheidung:

Kosten

28 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften ist nicht auf ein Verfahren zur Rückforderung einer Ausfuhrerstattung anzuwenden, die einem Ausführer durch Verschulden der nationalen Behörden zu Unrecht gewährt wurde, wenn der Ausführer keine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung begangen hat.



Ende der Entscheidung

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