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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.05.1992
Aktenzeichen: C-290/90
Rechtsgebiete: EWGV, RL Nr. 65/65/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 169
EWGV Art. 30
RL Nr. 65/65/EWG Art. 1 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Herstellung und den Vertrieb von Arzneimitteln obliegt es den nationalen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle, für jedes Erzeugnis festzustellen, ob es ein Arzneimittel im Sinne der Definition des Artikels 1 Nr. 2 der Richtlinie 65/65 ist oder nicht, wobei sie alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften, wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen, die Modalitäten seiner Anwendung, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Gefahren, die seine Verwendung mit sich bringen kann, zu berücksichtigen haben.

Die Behörden eines Mitgliedstaats, die Augenspüllösungen, die am Arbeitsplatz im Rahmen der Ersten Hilfe zur Entfernung von Staub und gefährlichen chemischen Stoffen aus den Augen eingesetzt werden können, indem sie diese chemisch neutralisieren und mechanisch - durch Spülung - entfernen, als Medikamente qualifizieren, überschreiten nicht die Grenzen ihres Ermessens, wenn feststeht, daß die fraglichen Lösungen unstreitig zur Verwendung nach dem Eindringen von Spritzern ins Auge bei einem Unfall bestimmt sind, um möglicherweise schwerwiegende Konsequenzen zu verhindern, daß ihre Unwirksamkeit schädliche Folgen hätte und daß sie von der Europäischen Pharmakopöe-Kommission des Europarats als Arzneimittel eingestuft worden sind.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 20. MAI 1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. - AUSLEGUNG DER ARTIKEL 30 UND 36 EWG-VERTRAG - AUGENSPUELLOESUNGEN - BEGRIFF'ARZNEIMITTEL'- KOSMETISCHE MITTEL. - RECHTSSACHE C-290/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 20. September 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie den Vertrieb von aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Augenspüllösungen von einer Arzneimittelzulassung nach der Richtlinie 65/65/EWG vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (ABl. 1965, Nr. 22, S. 369) und den zu ihrer Umsetzung ergangenen Bestimmungen des deutschen Arzneimittelgesetzes abhängig macht.

2 Bei den Erzeugnissen, um die es im vorliegenden Rechtsstreit geht, handelt es sich um Augenspüllösungen, die am Arbeitsplatz im Rahmen der Ersten Hilfe zur Entfernung von Staub und gefährlichen chemischen Stoffen aus den Augen eingesetzt werden können.

3 Diese Augenspüllösungen werden eingesetzt, wenn Spritzer gefährlicher Stoffe (Säuren, Laugen) in das Auge gelangt sind. Sie neutralisieren diese Stoffe chemisch und entfernen sie mechanisch - durch Spülung - aus dem Auge.

4 Durch die Beschwerde eines französischen Herstellers (der Firma Prevor mit Sitz in Valmondois) wurde die Kommission darauf aufmerksam gemacht, daß die deutschen Behörden diese Erzeugnisse als Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65 sowie der zu ihrer Umsetzung erlassenen Vorschriften des Arzneimittelgesetzes von 1976 ansehen, soweit sie zum Spülen der Augen verwendet werden. Die deutschen Behörden machen deshalb ihren Vertrieb von einer arzneimittelrechtlichen Zulassung abhängig.

5 Diese Spüllösungen werden seit etwa 15 Jahren in Frankreich sowie in anderen Mitgliedstaaten vermarktet, ohne dort einer arzneimittelrechtlichen Zulassung unterworfen zu sein.

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Die Kommission macht in erster Linie geltend, daß die streitigen Spüllösungen nicht als Arzneimittel im Sinne der Gemeinschaftsdefinition dieses Begriffs angesehen werden könnten.

8 Nach Artikel 1 Nr. 2 Absatz 1 der Richtlinie 65/65 sind Arzneimittel "alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet werden". Nach Absatz 2 werden als Arzneimittel auch angesehen "alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden".

9 Die Richtlinie enthält somit zwei Definition des Arzneimittels: eine Definition nach der Bezeichnung und eine Definition nach der Funktion. Ein Erzeugnis ist ein Arzneimittel, wenn es unter eine dieser beiden Definitionen fällt.

10 Die deutsche Regierung macht folgende Argumente für die Qualifizierung der fraglichen Erzeugnisse als Arzneimittel aufgrund ihrer Funktion geltend:

- Die fraglichen Stoffe seien dazu bestimmt, Körperschäden vorzubeugen, die am Auge entstehen könnten (Verätzungen),

- sie bekämpften den Schmerz und den Lidkrampf nach einem Eindringen von chemischen Stoffen;

- sie wirkten im und nicht nur auf dem Auge; da die Neutralisierung der eingedrungenen chemischen Stoffe im Körper stattfinde, handele es sich nicht um ein blosses Reinigungsmittel;

- sie regten die Bildung der Tränenfluessigkeit an und veränderten somit eine Körperfunktion;

- aufgrund der Bedeutung des Organs, das diese Erzeugnisse schützen sollten, müsse ihre Wirksamkeit einer Kontrolle unterworfen werden, um sicherzustellen, daß sie nicht nur einen vermeintlichen Schutz böten;

- eines dieser Erzeugnisse (Previn) enthalte Ethylendiaminteträssigsäure, einen Stoff, der nach einer Studie von Slansky H. u. a. ("Prevention of Corneal Ulcers", Tr. Am. Acad. Opht. & Otol., Band 75, November-Dezember 1971, S. 1208) eine therapeutische Wirkung auf Hornhautgeschwüre ausübe.

11 Nach Auffassung der deutschen Regierung sind die streitigen Lösungen auch Arzneimittel aufgrund ihrer Bezeichnung, und zwar aus folgendem Grund: Da sie erst benutzt würden, wenn eine Beeinträchtigung des Auges bereits eingetreten sei, müsse der durchschnittlich unterrichtete Verbraucher schlußfolgern, daß es sich um ein Erzeugnis handele, das verhütende oder heilende Eigenschaften besitze.

12 Die Kommission hält dem entgegen, daß die streitigen Spüllösungen keine therapeutische Wirkung hätten, da sie Verletzungen nur rein mechanisch vorbeugten. Sie bestreitet auch, daß diese Lösungen die Bildung von Tränenfluessigkeit anregten und im Innern des Auges wirkten. Die Schmerzlinderung ergebe sich lediglich aus der Neutralisierung und der Beseitigung des eingedrungenen Stoffes und nicht aus der Wirkung der streitigen Lösungen als solcher. Die Kommission bestreitet, daß die Ethylendiaminteträssigsäure allein eine therapeutische Wirkung auf Geschwüre ausüben könne; die von der deutschen Regierung zitierte Studie spreche von einer therapeutischen Wirkung dieser Säure in Verbindung mit Kalzium, einem Stoff, der in der Previn-Lösung fehle. Diese Spüllösungen seien somit keine Arzneimittel aufgrund ihrer Funktion.

13 Sie könnten auch nicht als Arzneimittel aufgrund ihrer Bezeichnung angesehen werden; das ergebe sich aus der Aufmachung der fraglichen Erzeugnisse, den vom Hersteller herausgegebenen Werbeprospekten und dem Umstand, daß diese Erzeugnisse nicht durch einen Arzt verschrieben würden: Sie seien in den Betriebsstätten an möglichen Gefahrenherden zugänglich.

14 Zunächst können die beiden Definitionen des Arzneimittels, nämlich die Definition nach der Bezeichnung und die Definition nach der Funktion, nicht streng getrennt werden. Ein Stoff, der im Sinne der ersten gemeinschaftsrechtlichen Definition ein "Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten" ist, jedoch nicht als solches "bezeichnet wird", fällt nämlich grundsätzlich in den Anwendungsbereich der zweiten gemeinschaftsrechtlichen Definition des Arzneimittels (Urteil vom 30. November 1983 in der Rechtssache 227/82, Van Bennekom, Slg. 1983, 3883, Randnr. 22).

15 Weiter bezweckt die Richtlinie 65/65 zwar nach ihrer vierten Begründungserwägung im wesentlichen, die Hindernisse für den Handel mit Arzneispezialitäten innerhalb der Gemeinschaft zu beseitigen, und gibt hierzu in Artikel 1 eine Definition der Arzneispezialität und des Arzneimittels; sie stellt aber nur den ersten Schritt bei der Harmonisierung der nationalen Regelungen für die Herstellung und den Vertrieb von pharmazeutischen Erzeugnissen dar.

16 Bei diesem Stand des Gemeinschaftsrechts lässt sich kaum vermeiden, daß zwischen den Mitgliedstaaten vorübergehend - zumindest bis zu einer umfassenderen Harmonisierung der zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erforderlichen Maßnahmen - Unterschiede bei der Qualifizierung der Erzeugnisse fortbestehen (vgl. zuletzt Urteile vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-60/89, Monteil und Samanni, Slg. 1991, I-1547, Randnrn. 27 und 28, und in der Rechtssache C-369/88, Delattre, Slg. 1991, I-1487, Randnrn. 28 und 29).

17 Unter diesen Umständen obliegt es, wie sich aus diesen Urteilen sowie dem Urteil vom 16. April 1991 in der Rechtssache C-112/89 (Upjohn, Slg. 1991, I-1703, Randnr. 23) ergibt, den nationalen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle, für jedes Erzeugnis festzustellen, ob es ein Arzneimittel ist oder nicht, wobei sie alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften - so wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seiner Anwendung, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Gefahren, die seine Verwendung mit sich bringen kann, zu berücksichtigen haben.

18 Unstreitig sind die Lösungen, um die es hier geht, zur Verwendung nach dem Eindringen von Spritzern ins Auge bei einem Unfall bestimmt, um möglicherweise schwerwiegende Konsequenzen zu verhindern; ihre Unwirksamkeit hätte schädliche Folgen.

19 Ausserdem sind die streitigen Stoffe von der Europäischen Pharmakopöe-Kommission des Europarats als Arzneimittel eingestuft worden (Monographie "Solutiones ophthalmicä", Fassung von Januar 1991).

20 Somit hat die Kommission mit ihrem Vorbringen nicht den Beweis erbracht, daß die deutschen Behörden durch die Qualifizierung der streitigen Lösungen als Arzneimittel die Grenzen ihres Ermessens überschritten hätten.

21 Die Kommission macht zweitens geltend, selbst wenn die streitigen Spüllösungen als Arzneimittel anzusehen wären, hätte die deutsche Regierung eine willkürliche Diskriminierung vorgenommen, da sie sie einer strengeren Regelung unterworfen habe als vergleichbare Erzeugnisse, die aufgrund einer fiktiven Zulassung nach einer Übergangsvorschrift des deutschen Rechts auf dem Inlandsmarkt vertrieben würden.

22 Die deutsche Regierung führt aus, auf dem deutschen Markt gebe es keine Erzeugnisse mehr, für die die fragliche Übergangsregelung gelte. Deshalb liege auch keine Diskriminierung vor. Dies werde durch den Umstand bestätigt, daß die Gesellschaft, die die streitigen Lösungen herstelle, niemals die Zulassung beantragt habe, die es ihr ermöglicht hätte, in den Genuß der genannten Übergangsbestimmung zu kommen.

23 Da für die streitigen Spüllösungen keine Zulassung beantragt worden ist, kommt eine Diskriminierung gegenüber Erzeugnissen, für die eine Zulassung beantragt worden ist, nicht in Betracht.

24 Unter diesen Umständen braucht auf das weitere Vorbringen der Beklagten nicht eingegangen zu werden. Die Klage der Kommission ist als unbegründet abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

25 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung hat die unterliegende Partei die Kosten zu tragen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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