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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.05.1993
Aktenzeichen: C-290/91
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 804/68/EWG, AO 1977


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 4
VO Nr. 804/68/EWG Art. 5c
AO 1977 § 227
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Das Gemeinschaftsrecht steht bei seinem gegenwärtigen Stand der Anwendung einer nationalen Vorschrift nicht entgegen, die die nationalen Behörden ermächtigt, Abgaben, die aufgrund des Artikels 5c der Verordnung Nr. 804/68 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse in der Fassung der Verordnung Nr. 856/84 geschuldet werden, in bestimmten Ausnahmefällen aus persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen; diese Vorschrift darf jedoch nicht in einer Weise angewendet werden, die gegenüber der Behandlung entsprechender, rein nationaler Steuerschulden diskriminierend ist oder die die Ziele der mit dieser Verordnung eingeführten Milchquotenregelung beeinträchtigt. Mit den Zielen der Milchquotenregelung ist es nicht vereinbar, daß ein Erzeuger deshalb von der Verpflichtung zur Zahlung der Zusatzabgabe befreit wird, weil er sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, auch wenn er von der irrigen Annahme ausging, daß ihm später noch eine zusätzliche Quote zugeteilt werden würde. Befindet sich ein Betriebsinhaber tatsächlich in Schwierigkeiten, können die nationalen Behörden jedoch grundsätzlich die nationalen Vorschriften anwenden, nach denen die sofortige Einziehung des geschuldeten Betrags ausgesetzt oder Ratenzahlung gewährt werden kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 27. MAI 1993. - JOHANNES PETER GEGEN HAUPTZOLLAMT REGENSBURG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: FINANZGERICHT MUENCHEN - DEUTSCHLAND. - ZUSAETZLICHE ABGABE FUER MILCH - ERLASS AUS BILLIGKEITSGRUENDEN. - RECHTSSACHE C-290/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Finanzgericht München hat mit Beschluß vom 9. September 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 20. November 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach dem aus Billigkeitsgründen erfolgenden Erlaß der Zusatzabgabe nach Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse (ABl. L 148, S. 13) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 856/84 des Rates vom 31. März 1984 (ABl. L 90, S. 10) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Die Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Johannes Peter, der einen auf Milchproduktion spezialisierten landwirtschaftlichen Betrieb führt, und dem Hauptzollamt Regensburg.

3 Herr Peter erhielt nach den deutschen Bestimmungen zur Durchführung der Milchquotenregelung, der Milch-Garantiemengen-Verordnung, für das Milchwirtschaftsjahr 1984/85 eine Referenzmenge von 9 100 kg. Er überschritt diese Quote 1984/85 in der Hoffnung, daß ihm infolge einer Klage, die er zu diesem Zweck eingereicht hatte, noch eine zusätzliche Quote zugeteilt werden würde. Seiner Klage wurde aber nur für die folgenden Wirtschaftsjahre, also vom Wirtschaftsjahr 1985/86 an, stattgegeben. Gegen ihn wurde daher eine Abgabe auf die Milchmengen festgesetzt, die er 1984/85 über die Quote hinaus geliefert hatte, die ihm für dieses Wirtschaftsjahr ursprünglich zugeteilt worden war. Die geschuldete Abgabe beträgt 2 144,83 DM.

4 Am 6. September 1989 beantragte Herr Peter beim Hauptzollamt, ihm diese Abgabe zu erlassen, da ihn die Zahlung dieses Betrags angesichts seiner schlechten finanziellen Lage in seiner Existenz bedrohe. Er stützte diesen Antrag auf § 227 der Abgabenordnung 1977, wonach bereits rechtswirksam festgesetzte Abgaben erlassen werden können, "wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre".

5 Das Hauptzollamt lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, daß § 227 der Abgabenordnung einen Erlaß oder eine Erstattung von Abgaben nach der EG-Milchquotenregelung nicht gestatte, da die Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften beeinträchtigt würde, wenn ein Antrag auf Erlaß oder Erstattung von EG-Abgaben nach nationalem Recht behandelt würde.

6 Gegen diesen Bescheid rief Herr Peter das Finanzgericht München an, das das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Steht das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie § 227 Abgabenordnung entgegen, die die nationalen Behörden ermächtigt, Abgaben, die aufgrund des Artikels 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 geschuldet werden, im Einzelfall aus persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen?

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des betreffenden rechtlichen Rahmens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Zur Beantwortung der vorgelegten Frage ist zunächst daran zu erinnern, daß es im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen, auf denen die Gemeinschaft beruht und die die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten beherrschen, gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag Sache der Mitgliedstaaten ist, in ihrem Hoheitsgebiet für die Durchführung der Gemeinschaftsregelungen zu sorgen. Soweit das Gemeinschaftsrecht einschließlich der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält, gehen die nationalen Behörden bei der Durchführung dieser Regelungen nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts vor, wobei diese nationalen Bestimmungen allerdings mit dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Einklang gebracht werden müssen, die notwendig ist, um eine Ungleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer zu vermeiden. Ausserdem dürfen diese Bestimmungen nicht darauf hinauslaufen, daß die Verwirklichung der Gemeinschaftsregelung praktisch unmöglich wird (siehe in diesem Sinne Urteil vom 21. September 1983 in den Rechtssachen 205/82 bis 215/82, Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, Randnrn. 17 und 19).

9 Sodann ist festzustellen, daß die Gemeinschaftsregelung über die Milchquoten keine speziellen Vorschriften über die Erhebung, den Erlaß oder die Beitreibung der nach Artikel 5c der Verordnung Nr. 804/68 geschuldeten Abgabe enthält. Die Verordnung (EWG) Nr. 1546/88 der Kommission vom 3. Juni 1988 mit den Durchführungsbestimmungen für die Zusatzabgabe nach Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 (ABl. L 139, S. 12) bestimmt in bezug auf die Erhebung der Abgabe nämlich nur den Zeitpunkt, in dem die Verpflichtung zur Zahlung der Abgabe entsteht (Artikel 15 und 16), sowie die Methode für die Berechnung der Abgabe (Artikel 17). Im übrigen bestimmt Artikel 19 der Verordnung Nr. 1546/88, daß "die Mitgliedstaaten... die erforderlichen zusätzlichen Maßnahmen [treffen], a) um die Erhebung der Abgabe sicherzustellen..." Folglich obliegt es den zuständigen nationalen Behörden, nach dem nationalen Recht für die Erhebung, den Erlaß oder die Beitreibung der Abgabe zu sorgen.

10 Diese Verweisung auf das nationale Recht kann zwar bewirken, daß die Voraussetzungen für die Erhebung der Abgabe von einem Mitgliedstaat zum anderen bis zu einem gewissen Grad unterschiedlich sind. Die Bedeutung dieser ° beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts unvermeidlichen ° Unterschiede wird jedoch durch die Bedingungen eingeschränkt, denen die Anwendung des nationalen Rechts unterliegt, wenn es gemeinschaftsrechtliche Vorschriften durchführt.

11 Daraus folgt, daß das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie § 227 der Abgabenordnung nicht entgegensteht, die die Finanzbehörden in bestimmten Ausnahmefällen ermächtigt, aus persönlichen Billigkeitsgründen auf die Einziehung einer nach Artikel 5c der Verordnung Nr. 804/68 geschuldeten Abgabe zu verzichten, sofern allerdings diese Vorschrift nicht in einer Weise angewendet wird, die gegenüber der Behandlung entsprechender Steuerschulden nach nationalem Recht diskriminierend ist oder die die Ziele des mit der Verordnung Nr. 804/68 in der Fassung der Verordnung Nr. 856/84 eingeführten Systems der Milchquoten beeinträchtigt.

12 Was die Beurteilung der ersten Bedingung angeht, so haben die nationalen Gerichte darauf zu achten, daß das nationale Recht in einer gegenüber dem Erlaß rein nationaler Steuerschulden nicht diskriminierenden Weise angewendet wird.

13 Was die Beurteilung der zweiten Bedingung betrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß die Regelung der zusätzlichen Abgabe für Milch der Regulierung und Stabilisierung des Milcherzeugnismarktes im Hinblick darauf dient, daß eine Zunahme der Milchlieferungen zu Haushaltsbelastungen und Marktschwierigkeiten führen würde, die selbst die künftige Entwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik gefährden würden (dritte und vierzehnte Begründungserwägung der Verordnung Nr. 856/84). Das Hauptziel der Zusatzabgabe besteht somit darin, die Milcherzeugung dadurch einzuschränken, daß die landwirtschaftlichen Erzeuger davon abgehalten werden, Milch über die ihnen zugeteilte Quote hinaus zu erzeugen.

14 Mit diesem Ziel ist es nicht vereinbar, daß ein Erzeuger deshalb von der Verpflichtung zur Zahlung der Zusatzabgabe befreit wird, weil er sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet. Der Erlaß der geschuldeten Beträge aus persönlichen Billigkeitsgründen, die mit diesen Schwierigkeiten zusammenhängen, würde nämlich das System der Milchquoten in Frage stellen. Eine systematische Anwendung der Billigkeitsregel würde in solchen Fällen zum einen zu einer erheblichen Zunahme der auf dem Markt verfügbaren Milchmenge führen und zum anderen die Gefahr einer Nichtbeachtung der Gemeinschaftsregelungen über die Milchabgaben mit sich bringen, da jeder Erzeuger unter Berufung darauf, daß die ihm zugeteilte Quote nicht ausreiche, um die Rentabilität seines Betriebs aufrechtzuerhalten, ohne jedes Risiko eine über seine Quote hinausgehende Milchmenge liefern könnte.

15 Nichts anderes gilt, wenn ein Erzeuger, wie es im Ausgangsverfahren der Fall war, seine Quote in der irrigen Überzeugung überschritten hat, daß ihm infolge einer von ihm zu diesem Zweck eingereichten Klage für das betreffende Jahr eine zusätzliche Quote zugeteilt werden würde. Ein solcher Beweggrund kann nicht geltend gemacht werden, um sich der Zahlung der Abgabe zu entziehen, denn der Erzeuger ist dadurch, daß er über die ihm zugeteilte Menge hinaus Milch geliefert hat, ein Risiko eingegangen, das er von Anfang an kannte und dessen Folgen er zu tragen hat.

16 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß, auch wenn die Regel der persönlichen Billigkeit bei Vorliegen finanzieller Schwierigkeiten nicht herangezogen werden kann, um von der Verpflichtung zur Zahlung der Zusatzabgabe befreit zu werden, die nationalen Behörden grundsätzlich die nationalen Vorschriften anwenden können, nach denen die sofortige Einziehung des geschuldeten Betrags ausgesetzt oder Ratenzahlung gewährt werden kann, wenn sich ein Betriebsinhaber tatsächlich in Schwierigkeiten befindet. Mit diesen Maßnahmen kann einer schwierigen Lage des Betriebsinhabers Rechnung getragen werden, ohne daß damit der Erlaß der Zusatzabgabe, die der Betreffende schuldet, verbunden wäre. Die Ziele der Regelung über die Zusatzabgabe werden somit nicht in Frage gestellt, wenn gewährleistet ist, daß die Einziehung der Abgabe so zuegig und wirksam wie möglich erfolgt.

17 Aus alledem folgt, daß auf die Vorabentscheidungsfrage zu antworten ist, daß das Gemeinschaftsrecht bei seinem gegenwärtigen Stand der Anwendung einer nationalen Vorschrift nicht entgegensteht, die die nationalen Behörden ermächtigt, Abgaben, die aufgrund des Artikels 5c der Verordnung Nr. 804/68 des Rates geschuldet werden, in bestimmten Ausnahmefällen aus persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen; diese Vorschrift darf jedoch nicht in einer Weise angewendet werden, die gegenüber der Behandlung entsprechender, rein nationaler Steuerschulden diskriminierend ist oder die die Ziele des Systems der mit dieser Verordnung eingeführten Milchquoten beeinträchtigt. Mit den Zielen des Systems der Milchquoten ist es nicht vereinbar, daß ein Erzeuger deshalb von der Verpflichtung zur Zahlung der Zusatzabgabe befreit wird, weil er sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, auch wenn er von der irrigen Annahme ausging, daß ihm später noch eine zusätzliche Quote zugeteilt werden würde.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der griechischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Finanzgericht München mit Beschluß vom 9. September 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Das Gemeinschaftsrecht steht bei seinem gegenwärtigen Stand der Anwendung einer nationalen Vorschrift nicht entgegen, die die nationalen Behörden ermächtigt, Abgaben, die aufgrund des Artikels 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 856/84 des Rates vom 31. März 1984 geschuldet werden, in bestimmten Ausnahmefällen aus persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen; diese Vorschrift darf jedoch nicht in einer Weise angewendet werden, die gegenüber der Behandlung entsprechender, rein nationaler Steuerschulden diskriminierend ist oder die die Ziele des Systems der mit dieser Verordnung eingeführten Milchquoten beeinträchtigt. Mit den Zielen des Systems der Milchquoten ist es nicht vereinbar, daß ein Erzeuger deshalb von der Verpflichtung zur Zahlung der Zusatzabgabe befreit wird, weil er sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, auch wenn er von der irrigen Annahme ausging, daß ihm später noch eine zusätzliche Quote zugeteilt werden würde.

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