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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.06.1996
Aktenzeichen: C-293/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
EG-Vertrag Art. 30
EG-Vertrag Art. 36
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, durch die es untersagt wird, Schädlingsbekämpfungsmittel für den nichtlandwirtschaftlichen Gebrauch ohne vorherige Zulassung in den Verkehr zu bringen, zu erwerben, anzubieten, auszustellen oder feilzuhalten, zu besitzen, herzustellen, zu befördern, zu verkaufen, entgeltlich oder unentgeltlich abzugeben, einzuführen oder zu verwenden, ist eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung im Sinne von Artikel 30 des Vertrages.

Ein solches Verbot ist, soweit es Biozid-Produkte erfasst, die gefährliche Stoffe enthalten und deren Inverkehrbringen noch nicht durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften geregelt worden ist, nach Artikel 36 des Vertrages gerechtfertigt, selbst wenn diese Erzeugnisse bereits in einem anderen Mitgliedstaat zum Verkauf zugelassen worden sind. Denn in Ermangelung von Harmonisierungsvorschriften steht es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, darüber zu entscheiden, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen und ob sie für das Inverkehrbringen solcher Erzeugnisse eine vorherige Zulassung verlangen. Die zuständigen Behörden sind jedoch gehalten, zur Erleichterung der Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel beizutragen, und dürfen folglich nicht ohne Not technische oder chemische Analysen oder Laborversuche verlangen, wenn die gleichen Analysen und Versuche bereits in dem anderen Mitgliedstaat durchgeführt worden sind und ihre Ergebnisse diesen Behörden zur Verfügung stehen oder auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden können.


Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 27. Juni 1996. - Strafverfahren gegen Jacqueline Brandsma. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Rechtbank van eerste aanleg Turnhout - Belgien. - Freier Warenverkehr - Ausnahmen - Schutz der offentlichen Gesundheit - Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten - Biozide. - Rechtssache C-293/94.

Entscheidungsgründe:

1 Die Rechtbank van eerste aanleg Turnhout hat mit Urteil vom 20. Oktober 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Oktober 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren, das gegen Frau Brandsma, die Leiterin des Einzelhandelsgeschäfts HEMA in Turnhout, wegen eines Verstosses gegen Artikel 8 der belgischen Königlichen Verordnung vom 5. Juni 1975 über die Aufbewahrung, den Verkauf und die Verwendung von Schädlingsbekämpfungsmitteln und phytopharmazeutischen Erzeugnissen eingeleitet wurde. Frau Brandsma wird zur Last gelegt, ein Erzeugnis mit der Bezeichnung "HEMA Tegelreiniger" verkauft zu haben, mit dem die Bildung von Algen auf Mauern und Steinplatten verhindert wird. Für dieses Erzeugnis wurde beim belgischen Gesundheitsministerium kein Zulassungsantrag gestellt, aber es hat in den Niederlanden, wo es in den verschiedenen Supermärkten der HEMA-Gruppe verkauft wird, eine Zulassungsnummer erhalten.

3 Da das vorlegende Gericht der Auffassung ist, daß die Rechtssache ein Problem der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwerfe, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, durch die es untersagt wird, Schädlingsbekämpfungsmittel für den nichtlandwirtschaftlichen Gebrauch, die nicht vorher von dem für die Gesundheit zuständigen Minister zugelassen worden sind, in den Verkehr zu bringen, zu erwerben, anzubieten, auszustellen oder feilzuhalten, zu besitzen, herzustellen, zu befördern, zu verkaufen, entgeltlich oder unentgeltlich abzugeben, einzuführen oder zu verwenden, als mengenmässige Beschränkung oder Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne von Artikel 30 EWG-Vertrag anzusehen, wenn aufgrund dieser nationalen Maßnahme ein Schädlingsbekämpfungsmittel für den nichtlandwirtschaftlichen Gebrauch, das in einem anderen Mitgliedstaat rechtmässig in den Verkehr gebracht worden ist, bei Einfuhr in den erstgenannten Mitgliedstaat dort nicht verkauft werden darf, falls keine vorherige Zulassung durch den in diesem Mitgliedstaat für die Gesundheit zuständigen Minister erlangt worden ist?

2. Wenn die erste Frage bejaht wird und eine derartige Bestimmung gegen Artikel 30 EWG-Vertrag verstösst, kann sich dann der erstgenannte Mitgliedstaat unter den genannten Umständen rechtsgültig auf die in Artikel 36 EWG-Vertrag vorgesehene Ausnahme und den darin vorgesehenen Schutz der Gesundheit berufen, um die Maßnahme aufrechtzuerhalten und das Verbot des Artikels 30 EWG-Vertrag ausser acht zu lassen?

4 Zur ersten Frage vertreten alle Beteiligten übereinstimmend die Auffassung, daß die belgische Regelung als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung im Sinne von Artikel 30 des Vertrages anzusehen sei.

5 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Regelung wie die im vorliegenden Fall anwendbare in der Tat eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung im Sinne von Artikel 30 des Vertrages, da sie geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern (vgl. insbesondere Urteil vom 11. Juli 1974 in der Rechtssache 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837).

6 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, durch die es untersagt wird, Schädlingsbekämpfungsmittel für den nichtlandwirtschaftlichen Gebrauch ohne vorherige Zulassung in den Verkehr zu bringen, zu erwerben, anzubieten, auszustellen oder feilzuhalten, zu besitzen, herzustellen, zu befördern, zu verkaufen, entgeltlich oder unentgeltlich abzugeben, einzuführen oder zu verwenden, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung im Sinne von Artikel 30 des Vertrages ist.

7 Zur zweiten Frage trägt Frau Brandsma vor, daß das von ihr verkaufte Erzeugnis in den Niederlanden zugelassen worden sei und allen Anforderungen der für diesen Bereich geltenden Richtlinien entspreche. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Richtlinie 67/548/EWG des Rates vom 27. Juni 1967 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe (ABl. 196, S. 1), die Richtlinie 76/769/EWG des Rates vom 27. Juli 1976 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (ABl. L 262, S. 201) und die Richtlinie 78/631/EWG des Rates vom 26. Juni 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen (Schädlingsbekämpfungsmittel) (ABl. L 206, S. 13). Artikel 36 könne daher nur berücksichtigt werden, soweit das Erfordernis einer neuen Zulassung über das hinausgehe, was in diesen Richtlinien vorgesehen sei. Ausserdem könne nach Artikel 36 des Vertrages nicht verlangt werden, daß für dieses Erzeugnis ein neues Zulassungsverfahren in Belgien durchgeführt werde, da die öffentliche Gesundheit in diesem Staat durch die Erteilung der Zulassung in den Niederlanden ausreichend geschützt werde. Der Anwalt von Frau Brandsma hat im übrigen in der mündlichen Verhandlung erklärt, daß weder die HEMA noch seine Mandantin in Belgien einen Zulassungsantrag für das Erzeugnis gestellt hätten. Schließlich obliege auf jeden Fall der Staatsanwaltschaft der Nachweis, daß das belgische Formerfordernis für den Gesundheitsschutz wesentlich sei und daß die niederländische Zulassung in dieser Hinsicht nicht ausreiche.

8 Die niederländische, die österreichische und die schwedische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission tragen vor, daß das Erzeugnis zur Kategorie der Biozide gehöre, für die gegenwärtig keine Harmonisierungsrichtlinie bestehe, sondern nur ein Richtlinienvorschlag, der nationale Zulassungsverfahren vorsehe (ABl. 1995, C 261, S. 5).

9 Sie vertreten die Ansicht, daß diese Rechtssache ebenso gelagert sei wie die Rechtssache 272/80, über die der Gerichtshof mit Urteil vom 17. Dezember 1981 (Frans-Nederlandse Maatschappij voor Biologische Producten, Slg. 1981, 3277) entschieden habe; daraus ziehen sie den Schluß, daß eine nationale Maßnahme, die für das Inverkehrbringen eines Erzeugnisses eine vorherige Zulassung vorschreibe, durch den Gesundheitsschutz im Sinne von Artikel 36 des Vertrages gerechtfertigt werde. Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die schwedische Regierung führen auch den Schutz der Umwelt als Rechtfertigungsgrund an.

10 Tatsächlich bestehen beim gegenwärtigen Stand der Gemeinschaftsregelung noch keine Vorschriften über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten. Aus den Gründen, die der Generalanwalt in den Nummern 16 bis 18 seiner Schlussanträge angeführt hat, erfassen die von der Angeklagten des Ausgangsverfahrens genannten Richtlinien nicht das Inverkehrbringen eines Erzeugnisses wie des "HEMA Tegelreiniger". Daher ist im Hinblick auf die in Artikel 36 des Vertrages genannten Ausnahmen zu prüfen, ob eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren anwendbare gerechtfertigt werden kann.

11 Da Biozid-Produkte für die Bekämpfung von Organismen verwendet werden, die für die Gesundheit von Menschen oder Tieren schädlich sind oder Schäden an Naturprodukten oder gewerblichen Erzeugnissen verursachen können, enthalten sie zwangsläufig gefährliche Stoffe. Wie die niederländische, die österreichische und die schwedische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission zu Recht ausgeführt haben, steht es den Mitgliedstaaten in Ermangelung von Harmonisierungsvorschriften weiterhin frei, darüber zu entscheiden, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen und ob sie für das Inverkehrbringen solcher Erzeugnisse eine vorherige Zulassung verlangen.

12 Wie jedoch der Gerichtshof in Randnummer 14 des erwähnten Urteils Frans-Nederlandse Maatschaapij voor Biologische Producten ausgeführt hat, sind die Behörden der Mitgliedstaaten, auch wenn es einem Mitgliedstaat freisteht, ein Erzeugnis wie das in Rede stehende, das bereits in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen worden ist, einem erneuten Untersuchungs- und Zulassungsverfahren zu unterwerfen, gleichwohl gehalten, zur Erleichterung der Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel beizutragen und die technischen oder chemischen Analysen oder Laborversuche zu berücksichtigen, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführt worden sind.

13 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, daß nationale Rechtsvorschriften, durch die es untersagt wird, ein Biozid-Produkt, das gefährliche Stoffe enthält, wie das hier in Rede stehende Erzeugnis ohne vorherige Zulassung durch die zuständigen Behörden in den Verkehr zu bringen, nach Artikel 36 des Vertrages gerechtfertigt sind, selbst wenn dieses Erzeugnis bereits in einem anderen Mitgliedstaat zum Verkauf zugelassen worden ist. Die zuständigen Behörden dürfen jedoch nicht ohne Not technische oder chemische Analysen oder Laborversuche verlangen, wenn die gleichen Analysen und Versuche bereits in diesem anderen Mitgliedstaat durchgeführt worden sind und ihre Ergebnisse diesen Behörden zur Verfügung stehen oder auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden können.

Kostenentscheidung:

Kosten

14 Die Auslagen der niederländischen, der österreichischen und der schwedischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

auf die ihm von der Rechtbank van eerste aanleg Turnhout mit Urteil vom 20. Oktober 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, durch die es untersagt wird, Schädlingsbekämpfungsmittel für den nichtlandwirtschaftlichen Gebrauch ohne vorherige Zulassung in den Verkehr zu bringen, zu erwerben, anzubieten, auszustellen oder feilzuhalten, zu besitzen, herzustellen, zu befördern, zu verkaufen, entgeltlich oder unentgeltlich abzugeben, einzuführen oder zu verwenden, ist eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Beschränkung im Sinne von Artikel 30 EG-Vertrag.

2. Nationale Rechtsvorschriften, durch die es untersagt wird, ein Biozid-Produkt, das gefährliche Stoffe enthält, wie das hier in Rede stehende Erzeugnis ohne vorherige Zulassung durch die zuständigen Behörden in den Verkehr zu bringen, sind nach Artikel 36 EG-Vertrag gerechtfertigt, selbst wenn dieses Erzeugnis bereits in einem anderen Mitgliedstaat zum Verkauf zugelassen worden ist. Die zuständigen Behörden dürfen jedoch nicht ohne Not technische oder chemische Analysen oder Laborversuche verlangen, wenn die gleichen Analysen und Versuche bereits in diesem anderen Mitgliedstaat durchgeführt worden sind und ihre Ergebnisse diesen Behörden zur Verfügung stehen oder auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden können.

Ende der Entscheidung

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