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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.07.1992
Aktenzeichen: C-295/90
Rechtsgebiete: Richtlinie 90/366/EWG vom 28. Juni 1990, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Richtlinie 90/366/EWG vom 28. Juni 1990
EWG-Vertrag Art. 235
EWG-Vertrag Art. 7 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Aus dem Wortlaut von Artikel 235 EWG-Vertrag selbst ergibt sich, daß der Rückgriff auf diesen Artikel als Rechtsgrundlage eines Rechtsakts nur gerechtfertigt ist, wenn keine andere Vertragsbestimmung den Gemeinschaftsorganen die zum Erlaß dieses Rechtsakts erforderliche Befugnis verleiht.

2. Im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft muß sich die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des betreffenden Rechtsakts.

3. Das aus den Artikeln 7 und 128 EWG-Vertrag abzuleitende Verbot der Diskriminierung bei den für den Zugang zur beruflichen Bildung geltenden Bedingungen schließt es ein, daß ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat zur beruflichen Bildung zugelassen worden ist, insoweit auch für die Dauer der Ausbildung ein Aufenthaltsrecht hat.

Die Richtlinie 90/366, deren Zweck es ist, für Studenten, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ein Aufenthaltsrecht zu verankern und auszugestalten, hat in einem Bereich, in dem der Vertrag Anwendung findet, nämlich in dem der beruflichen Bildung, eine Regelung geschaffen, die, wie es Artikel 7 Absatz 2 EWG-Vertrag vorsieht, Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit untersagt.

In Anbetracht des Inhalts der Richtlinie und unter Berücksichtigung des Umstands, daß sich die nach Artikel 7 Absatz 2 EWG-Vertrag erlassenen Rechtsakte nicht unbedingt auf die Regelung der sich aus Artikel 7 Absatz 1 ergebenden Rechte zu beschränken haben, sondern sich auch auf Gesichtspunkte beziehen können, deren Regelung notwendig erscheint, damit diese Rechte wirksam ausgeuebt werden können, war der Rat nach Artikel 7 Absatz 2 EWG-Vertrag für den Erlaß der Richtlinie 90/366 zuständig. Er durfte sich daher nicht auf Artikel 235 stützen, so daß die Richtlinie für nichtig zu erklären ist.

4. Die schlichte Nichtigerklärung der Richtlinie 90/366 über das Aufenthaltsrecht der Studenten könnte der Ausübung eines sich aus dem Vertrag ergebenden Rechts, nämlich des den Studenten für die berufliche Bildung zustehenden Aufenthaltsrechts, abträglich sein. Ausserdem wird der wesentliche Inhalt der Richtlinie, deren Frist zur Durchführung durch die Mitgliedstaaten bereits abgelaufen ist, weder von den Organen der Gemeinschaft noch von den Mitgliedstaaten in Frage gestellt. Unter diesen Umständen rechtfertigen es gewichtige Gründe der Rechtssicherheit, die denjenigen vergleichbar sind, die bei der Nichtigerklärung bestimmter Verordnungen zum Tragen kommen, daß der Gerichtshof von der ihm in Artikel 174 Absatz 2 EWG-Vertrag ausdrücklich für den Fall der Nichtigerklärung einer Verordnung eingeräumten Befugnis Gebrauch macht und entscheidet, daß alle Wirkungen der für nichtig erklärten Richtlinie so lange vorläufig aufrechtzuerhalten sind, bis diese durch eine auf der zutreffenden Rechtsgrundlage erlassene neue Richtlinie ersetzt worden ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 7. JULI 1992. - EUROPAEISCHES PARLAMENT GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - RICHTLINIE 90/366/EWG UEBER DAS AUFENTHALTSRECHT DER STUDENTEN - RECHTSGRUNDLAGE - BEFUGNISSE DES EUROPAEISCHEN PARLAMENTS. - RECHTSSACHE C-295/90.

Entscheidungsgründe:

1 Das Europäische Parlament hat mit Klageschrift, die am 28. September 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, die Nichtigerklärung der Richtlinie 90/366/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der Studenten (ABl. L 180, S. 30) beantragt.

2 Rechtsgrundlage dieser Richtlinie ist Artikel 235 EWG-Vertrag, während die Kommission vorgeschlagen hatte, sie gemäß Artikel 7 Absatz 2 zu erlassen.

3 Zur Begründung seiner Klage macht das Parlament drei Klagegründe geltend.

4 In erster Linie vertritt es die Ansicht, der Rat habe dadurch, daß er nicht die richtige Rechtsgrundlage, nämlich Artikel 7 Absatz 2 EWG-Vertrag, gewählt habe, die Befugnisse des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren missachtet, denn nach der genannten Vorschrift gelte für die Beteiligung des Parlaments das Verfahren der Zusammenarbeit, während in Artikel 235 nur seine Anhörung vorgesehen sei.

5 Hilfsweise bringt das Parlament vor, der Rat habe den Rückgriff auf Artikel 235 nicht ausreichend begründet und er habe dem Parlament so die Möglichkeit genommen, zu prüfen, ob seine Befugnisse im Gesetzgebungsverfahren beachtet worden seien.

6 Hoechst hilfsweise macht das Parlament geltend, der Rat hätte begründen müssen, warum er bestimmte vom Parlament vorgeschlagene Änderungen nicht übernommen habe.

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, der Verfahrensablaufs sowie des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als es die Begründung des Urteils erfordert.

Zur Zulässigkeit

8 Die Regierung des Vereinigten Königreichs ist der Auffassung, die Klage sei unzulässig. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes sei das Parlament nur klageberechtigt, wenn sein Rechtsstandpunkt bezueglich seiner Befugnisse von der Kommission nicht geteilt werde. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall nicht erfuellt.

9 Dieser Ansicht, für die sich die Regierung des Vereinigten Königreichs auf das Urteil des Gerichtshofes vom 22. Mai 1990 in der Rechtssache C-70/88 (Parlament/Rat, Slg. 1990, I-2041) beruft, kann nicht gefolgt werden. Wie der Randnummer 27 dieses Urteils zu entnehmen ist, setzt die Zulässigkeit einer vom Parlament erhobenen Nichtigkeitsklage nur voraus, daß diese Klage lediglich auf den Schutz seiner Befugnisse gerichtet ist und nur auf Klagegründe gestützt wird, mit denen die Verletzung dieser Befugnisse geltend gemacht wird.

10 Da die vorliegende Klage diese Voraussetzung erfuellt, muß sie für zulässig erklärt werden.

Zur Rechtsgrundlage

11 Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ergibt sich aus dem Wortlaut von Artikel 235 selbst, daß der Rückgriff auf diesen Artikel als Rechtsgrundlage eines Rechtsakts nur gerechtfertigt ist, wenn keine andere Vertragsbestimmung den Gemeinschaftsorganen die zum Erlaß dieses Rechtsakts erforderliche Befugnis verleiht (vgl. vor allem Urteil vom 26. März 1987 in der Rechtssache 45/86, Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493, Randnr. 13).

12 Es ist also zu prüfen, ob der Rat die streitige Richtlinie auf der Grundlage von Artikel 7 Absatz 2 hätte erlassen können, wie Parlament und Kommission annehmen, und wie es ° in der mündlichen Verhandlung ° auch die Regierung des Vereinigten Königreichs für richtig gehalten hat, die ihren ursprünglichen Standpunkt nach Erlaß des Urteils des Gerichtshofes vom 26. Februar 1992 in der Rechtssache C-357/89 (Raulin, Slg. 1992, I-1027) geändert hat.

13 Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung muß sich im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts (vgl. insbesondere Urteil vom 11. Juni 1991 in der Rechtssache C-300/89, Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Randnr. 10).

14 Zweck der beanstandeten Richtlinie ist es, für Studenten, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, sowie ihre Ehegatten und unterhaltsberechtigten Kinder ein auf die Dauer der Ausbildung beschränktes Aufenthaltsrecht zu verankern und auszugestalten. Die Begünstigten brauchen nur mit jedem geeigneten Mittel nachzuweisen, daß sie bei einer anerkannten Lehranstalt zum Erwerb einer beruflichen Bildung als Hauptzweck eingeschrieben sind, daß sie einen Krankenversicherungsschutz genießen und daß sie nicht der Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats zur Last fallen werden. Sie erhalten vom Aufnahmestaat eine Aufenthaltserlaubnis, die für höchstens ein Jahr gilt, aber verlängert werden kann. Von den Bestimmungen der Richtlinie kann nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der Volksgesundheit abgewichen werden. Ein Anspruch der Begünstigten auf Unterhaltsbeihilfen von seiten des Aufnahmemitgliedstaats wird durch die Richtlinie nicht begründet.

15 Wie der Gerichtshof in Randnummer 34 des Urteils Raulin hervorgehoben hat, erfasst das Recht auf Gleichbehandlung bezueglich der für den Zugang zur beruflichen Bildung geltenden Bedingungen nicht nur die von der betreffenden Lehranstalt festgelegten Anforderungen, wie die Einschreibegebühren, sondern auch alle anderen Maßnahmen, die die Ausübung des Rechts behindern können. Es ist offenkundig, daß es für einen zur beruflichen Bildung zugelassenen Studenten unmöglich wäre, die Lehrveranstaltungen zu besuchen, wenn er in dem Mitgliedstaat, in dem sie stattfinden, kein Aufenthaltsrecht hätte. Folglich schließt es das aus den Artikeln 7 und 128 EWG-Vertrag abzuleitende Verbot der Diskriminierung bei den für den Zugang zur beruflichen Bildung geltenden Bedingungen ein, daß ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat zur beruflichen Bildung zugelassen worden ist, insoweit auch für die Dauer der Ausbildung ein Aufenthaltsrecht hat.

16 Daraus folgt, daß die streitige Richtlinie in einem Bereich, in dem der Vertrag Anwendung findet, nämlich im Bereich der von Artikel 128 erfassten beruflichen Bildung, eine Regelung geschaffen hat, die, wie es Artikel 7 Absatz 2 vorsieht, Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit untersagt.

17 In der mündlichen Verhandlung haben der Rat und die niederländische Regierung jedoch geltend gemacht, die streitige Richtlinie begründe für Studenten ein Recht auf Freizuegigkeit, das dem der Wanderarbeitnehmer entspreche und über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der beruflichen Bildung hinausgehe. Zweck und Inhalt der Richtlinie gingen also über den Rahmen des Artikels 7 EWG-Vertrag hinaus und hätten es daher erfordert, Artikel 235 als Rechtsgrundlage heranzuziehen.

18 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß der allgemeine Grundsatz des Artikels 7 Absatz 1 nur vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen des Vertrags gelten kann (vgl. insbesondere Urteil vom 14. Juli 1977 in der Rechtssache 8/77, Sagulo, Slg. 1977, 1495, Randnr. 11) und daß es der Zweck von Artikel 7 Absatz 2 ist, dem Rat nach Maßgabe der betroffenen Rechte und Interessen den Erlaß der zur wirksamen Beseitigung von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit notwendigen Vorschriften auf Gebieten zu ermöglichen, auf denen seine Zuständigkeit keine Grundlage in einer der besonderen Vorschriften findet, die die verschiedenen Bereiche regeln, in denen der Vertrag Anwendung findet. Die nach Artikel 7 Absatz 2 EWG-Vertrag erlassenen Rechtsakte haben sich aber nicht unbedingt auf die Regelung der sich aus Artikel 7 Absatz 1 ergebenden Rechte zu beschränken, sie können sich vielmehr auch auf Gesichtspunkte beziehen, deren Regelung notwendig erscheint, damit diese Rechte wirksam ausgeuebt werden können.

19 Ferner ist festzustellen, daß die verschiedenen Elemente der streitigen Richtlinie mit der wirksamen Ausübung des den Studenten für die berufliche Bildung zustehenden Aufenthaltsrechts verbunden sind. So erscheint insbesondere das dem Ehegatten und den unterhaltsberechtigten Kindern eingeräumte Aufenthaltsrecht für die wirksame Ausübung des dem Studenten zustehenden Aufenthaltsrechts unerläßlich, wie dies im übrigen ausdrücklich in der achten Begründungserwägung der Richtlinie unterstrichen wird.

20 Nach alledem war der Rat befugt, die streitige Richtlinie auf der Grundlage von Artikel 7 Absatz 2 EWG-Vertrag zu erlassen, und durfte daher nicht auf Artikel 235 zurückgreifen.

21 Die beanstandete Richtlinie ist folglich, ohne daß auf die vom Parlament hilfsweise vorgebrachten Klagegründe einzugehen ist, für nichtig zu erklären.

Zur Begrenzung der Wirkungen der Nichtigerklärung

22 Die Kommission sowie die Regierungen der Niederlande und des Vereinigten Königreichs haben beantragt, die Wirkungen einer eventuellen Nichtigerklärung der Richtlinie zu begrenzen. Das Parlament hat ausdrücklich erklärt, es habe gegen eine solche Begrenzung keine Einwände.

23 Hierzu ist vor allem darauf hinzuweisen, daß die schlichte Nichtigerklärung der beanstandeten Richtlinie der Ausübung eines sich aus dem Vertrag ergebenden Rechts, nämlich des den Studenten für die berufliche Bildung zustehenden Aufenthaltsrechts, abträglich sein könnte.

24 Zu berücksichtigen ist auch, daß der wesentliche Inhalt der Richtlinie, wie sich den von allen Parteien im Verfahren abgegebenen Erklärungen entnehmen lässt, weder von den Organen der Gemeinschaft noch von den Mitgliedstaaten in Frage gestellt wird.

25 Schließlich ist auch zu bedenken, daß die in Artikel 6 der Richtlinie festgesetzte Frist, in der die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen hatten, um der Richtlinie nachzukommen, am 30. Juni 1992 abgelaufen ist.

26 Unter diesen Umständen rechtfertigen es gewichtige Gründe der Rechtssicherheit, die denjenigen vergleichbar sind, die bei der Nichtigerklärung bestimmter Verordnungen zum Tragen kommen, daß der Gerichtshof von der ihm in Artikel 174 Absatz 2 EWG-Vertrag ausdrücklich für den Fall der Nichtigerklärung einer Verordnung eingeräumten Befugnis Gebrauch macht und daß er die Wirkungen der streitigen Richtlinie bezeichnet, die aufrechtzuerhalten sind.

27 Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles sind vorläufig alle Wirkungen der für nichtig erklärten Richtlinie so lange aufrechtzuerhalten, bis der Rat diese durch eine auf der zutreffenden Rechtsgrundlage erlassene neue Richtlinie ersetzt hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

28 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Artikel 69 § 4 Absatz 1 tragen die Kommission und die Regierungen der Niederlande und des Vereinigten Königreichs, die dem Rechtsstreit beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Richtlinie 90/366/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der Studenten wird für nichtig erklärt.

2) Die Wirkungen der für nichtig erklärten Richtlinie werden bis zum Inkrafttreten einer auf der zutreffenden Rechtsgrundlage erlassenen Richtlinie aufrechterhalten.

3) Der Rat trägt die Kosten des Verfahrens.

4) Die Kommission sowie die Regierungen der Niederlande und des Vereinigten Königreichs tragen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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