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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 12.12.1996
Aktenzeichen: C-3/95
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 59
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine nationale Regelung, die es den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten unmöglich macht, eine Dienstleistungstätigkeit auszuüben, ist nur dann nicht mit Artikel 59 des Vertrages unvereinbar, wenn vier Voraussetzungen erfuellt sind: Sie muß in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, sie muß aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie muß geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist, wobei Beschränkungen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses nur insoweit zulässig sind, als dem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Rechtsvorschriften Rechnung getragen ist, denen der Dienstleistungserbringer in dem Staat unterliegt, in dem er ansässig ist.

2. Artikel 59 des Vertrages steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die einem Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, die gerichtliche Einziehung fremder Forderungen verbietet, weil die geschäftsmässige Ausübung dieser Tätigkeit der Anwaltschaft vorbehalten ist. Dieses Verbot ist nämlich nicht diskriminierend, da es unterschiedslos für einheimische Dienstleistungserbringer und für Dienstleitungserbringer anderer Mitgliedstaaten gilt, die Dienstleistungsempfänger davor bewahren soll, daß ihnen durch die Einschaltung von Personen, die nicht die erforderliche berufliche oder persönliche Qualifikation besitzen, Schaden entsteht, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sichern soll, wegen der Gewähr der fachlichen Kompetenz, die durch die Einschaltung eines Anwalts geboten wird, zur Erreichung dieses Zieles geeignet ist und trotz seines Fehlens in anderen Mitgliedstaaten nicht als unverhältnismässig angesehen werden kann, weil die Entscheidung darüber, welche Tätigkeiten Rechtsanwälten vorbehalten werden, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.


Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 12. Dezember 1996. - Reisebüro Broede gegen Gerd Sandker. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Landgericht Dortmund - Deutschland. - Freier Dienstleistungsverkehr - Gerichtliche Einziehung von Forderungen - Erlaubnis - Artikel 59 EG-Vertrag. - Rechtssache C-3/95.

Entscheidungsgründe:

1 Das Landgericht Dortmund hat mit Beschluß vom 27. Dezember 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr, insbesondere seines Artikels 59, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Verfahren zur gerichtlichen Einziehung einer Forderung, das für das Reisebüro Bröde (im folgenden: Gläubiger) gegen Herrn Sandker (im folgenden: Schuldner) eingeleitet wurde. In diesem Verfahren geht es um die gerichtliche Einziehung von Forderungen durch Inkassounternehmen, die in Deutschland fremde Forderungen einziehen möchten.

3 Gemäß § 828 der Zivilprozessordnung vom 30. Januar 1877 in der Fassung vom 12. September 1950 (BGBl. I S. 455; im folgenden: ZPO) ist für gerichtliche Handlungen, die die Zwangsvollstreckung in Forderungen betreffen, das Amtsgericht zuständig.

4 Gemäß § 78 ZPO müssen sich die Parteien nur vor den Landgerichten und vor allen Gerichten des höheren Rechtszuges durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. Folglich ist die Vertretung durch einen Rechtsanwalt vor dem Amtsgericht grundsätzlich nicht vorgeschrieben.

5 § 79 ZPO bestimmt:

"Insoweit eine Vertretung durch Anwälte nicht geboten ist, können die Parteien den Rechtsstreit selbst oder durch jede prozeßfähige Person als Bevollmächtigten führen."

6 In Artikel 1 § 1 Absatz 1 des Rechtsberatungsgesetzes vom 17. Dezember 1935 (RGBl. I S. 1478; im folgenden: RBerG) heisst es jedoch:

"Die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten, einschließlich der Rechtsberatung und der Einziehung fremder oder zu Einziehungszwecken abgetretener Forderungen, darf geschäftsmässig ° ohne Unterschied zwischen haupt- und nebenberuflicher oder entgeltlicher und unentgeltlicher Tätigkeit ° nur von Personen betrieben werden, denen dazu von der zuständigen Behörde die Erlaubnis erteilt ist. Die Erlaubnis wird jeweils für einen Sachbereich erteilt:

...

5. Inkassounternehmern für die aussergerichtliche Einziehung von Forderungen (Inkassobüros),

...

Sie darf nur unter der der Erlaubnis entsprechenden Berufsbezeichnung ausgeuebt werden."

7 Der Gläubiger ist ein in Köln, Deutschland, ansässiges Reisebüro. Am 29. Dezember 1992 erwirkte er beim Amtsgericht Hagen einen Vollstreckungsbescheid gegen den ebenfalls in Deutschland, nämlich in Dortmund, wohnenden Schuldner.

8 Am 8. Mai 1994 bevollmächtigte der Gläubiger die INC Consulting SARL (im folgenden: INC) u. a., alle erforderlichen Beitreibungsmaßnahmen bis zur restlosen Bezahlung der Forderung einzuleiten. Die INC ist eine unter der Nummer B 391 100 021 (93B185) in das Register der Kanzlei des Tribunal de commerce Senlis, Frankreich, eingetragene Gesellschaft, deren Tätigkeit in der Eintreibung von Forderungen und der Unternehmensberatung besteht.

9 Die INC erteilte ihrerseits am 19. Mai 1994 ihrer Geschäftsführerin Margarita Ramthun, Overath, Deutschland, Vollmacht, in Vertretung des Gläubigers die Vollstreckung aus dem Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Hagen zu betreiben und alle damit in Zusammenhang stehenden rechtlichen Maßnahmen durchzuführen.

10 Die Vertreterin des Gläubigers beantragte daher am 6. Juni 1994 beim Amtsgericht Dortmund den Erlaß eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses gegen den Schuldner.

11 Das Amtsgericht wies diesen Antrag mit Beschluß vom 23. August 1994 mit der Begründung zurück, der Vertreterin des Gläubigers fehle die erforderliche Postulationsfähigkeit, da es nach deutschem Recht Inkassounternehmen verboten sei, die Gläubiger vor Gericht zu vertreten. Dieses Verbot gelte ungeachtet der vom Gläubiger angeführten Artikel 59 und 60 EG-Vertrag auch für ausländische Inkassounternehmen. Die Vertreterin des Gläubigers legte gegen diesen Beschluß mit Schriftsatz vom 31. August 1994 Rechtsbehelf ein.

12 Nach Auffassung des Landgerichts Dortmund stellen sich in dem bei ihm anhängigen Verfahren Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Es hat daher dieses Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Steht Artikel 59 EG-Vertrag einer nationalen Regelung entgegen, die einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen die gerichtliche Einziehung fremder Forderungen verbietet, weil diese Tätigkeit nach der nationalen Regelung Personen vorbehalten ist, denen hierfür eine besondere behördliche Erlaubnis erteilt wurde?

2. Bejahendenfalls: Gilt dies auch, wenn für das Einziehungsverfahren ausschließlich nationales Recht anzuwenden ist, weil die Parteien des Vollstreckungsverfahrens im Inland ansässig sind und auch der Vollstreckungstitel im Inland erwirkt wurde?

Zulässigkeit

13 Ohne eine förmliche Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, äussern die deutsche Regierung und die Kommission Zweifel daran, daß im Ausgangsverfahren tatsächlich ein Gemeinschaftsbezug gegeben sei. Es sei nämlich fraglich, ob der von Frau Ramthun, einer in Deutschland ansässigen deutschen Staatsangehörigen, vertretene Gläubiger, ein in Deutschland ansässiges Reisebüro, nicht in Wirklichkeit ihr eigener Kunde und nicht der Kunde der INC sei.

14 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr nicht auf Betätigungen anwendbar, von deren wesentlichen Elementen keines über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Ob es sich im Einzelfall so verhält, hängt von den tatsächlichen Feststellungen ab, die das innerstaatliche Gericht zu treffen hat (Urteil vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-23/93, TV10, Slg. 1994, I-4795, Randnr. 14).

15 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorlagebeschluß und den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, daß der Gläubiger der in Frankreich ansässigen INC und diese ihrerseits im Namen des Gläubigers ihrer Geschäftsführerin, Frau Ramthun, eine Vollmacht erteilte.

16 Demnach kann nach den Akten der grenzueberschreitende Charakter des Rechtsstreits nicht in Frage gestellt werden.

Zur ersten Frage

17 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob Artikel 59 EG-Vertrag einer nationalen Regelung entgegensteht, die einem Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, die gerichtliche Einziehung fremder Forderungen verbietet.

18 Die deutsche Regierung und die Kommission erörtern zunächst, ob die im Vorlagebeschluß aufgeworfenen Fragen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit und nicht des freien Dienstleistungsverkehrs betreffen. Falls sich herausstelle, daß der Wohnsitz der Vertreterin des Gläubigers in Deutschland es der INC ermögliche, dort eine ständige Präsenz zu begründen, oder daß ihre Tätigkeit ganz oder vorwiegend auf das Hoheitsgebiet Deutschlands ausgerichtet sei, seien die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit anwendbar.

19 Die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen sind gegenüber denen des Kapitels über das Niederlassungsrecht subsidiär (Urteil vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 22).

20 Der Begriff der Niederlassung im Sinne der Artikel 52 bis 58 EG-Vertrag ist sehr weit; er schließt ein, daß die Gemeinschaftsangehörigen die Möglichkeit haben, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als ihres Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Gemeinschaft im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird (Urteil Gebhard, a. a. O., Randnr. 25).

21 Dagegen sehen die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen, insbesondere Artikel 60 Absatz 3 EG-Vertrag, vor, daß der Erbringer einer Dienstleistung seine Tätigkeit vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat ausübt. Der vorübergehende Charakter einer Leistung schließt dabei nicht die Möglichkeit aus, daß sich der Leistungserbringer mit einer bestimmten Infrastruktur, wie einem Büro, einer Praxis oder einer Kanzlei, ausstatten kann, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der fraglichen Leistung erforderlich ist (Urteil Gebhard, a. a. O., Randnrn. 26 und 27).

22 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung von Dauer, Häufigkeit, Periodizität und Kontinuität der Tätigkeit der INC zu prüfen, ob diese ihre Tätigkeit in Deutschland vorübergehend im Sinne des EG-Vertrags ausübt.

23 Auf schriftliche Fragen des Gerichtshofes hat die Vertreterin des Gläubigers mitgeteilt, daß die INC zwischen Februar und Mai 1994 in Deutschland sechs Forderungen für den Gläubiger eingezogen habe. Sie hat im übrigen in der mündlichen Verhandlung bestätigt, daß die INC in Frankreich und in Deutschland für französische und für einige ausländische Kunden Forderungen eingezogen habe.

24 Unter diesen Umständen ist bei der Beantwortung der Vorlagefrage davon auszugehen, daß der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Sachverhalt unter Artikel 59 EG-Vertrag fällt.

25 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt diese Bestimmung nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistungserbringers aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen ° selbst wenn sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistungserbringer wie für Dienstleistungserbringer anderer Mitgliedstaaten gelten °, wenn sie geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistungserbringers, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmässig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (Urteil vom 28. März 1996 in der Rechtssache C-272/94, Guiot, Slg. 1996, I-1905).

26 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten und den Ausführungen der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung, daß einem Unternehmen in Deutschland die gerichtliche Einziehung fremder Forderungen nur unter Einschaltung eines Rechtsanwalts erlaubt ist. Die vom vorlegenden Gericht erwähnte behördliche Erlaubnis nach Artikel 1 § 1 RBerG gilt nämlich nur für die aussergerichtliche Einziehung von Forderungen und ist daher im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich.

27 Obwohl das sich aus Artikel 1 § 1 RBerG ergebende Verbot für Inkassounternehmen, Forderungen ohne Einschaltung eines Rechtsanwalts selbst gerichtlich einzuziehen, unterschiedslos für einheimische Dienstleistungserbringer wie für Dienstleistungserbringer anderer Mitgliedstaaten gilt, ist es geeignet, den freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Artikel 59 EG-Vertrag zu beschränken, da es die Erbringung dieser Leistungen im Bestimmungsstaat selbst dann unmöglich macht, wenn sich der Leistungserbringer nur ganz gelegentlich in diesem Staat betätigt.

28 Nach ständiger Rechtsprechung ist das Verbot daher nur dann nicht mit Artikel 59 unvereinbar, wenn vier Voraussetzungen erfuellt sind: Es muß in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, es muß aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, es muß geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihm verfolgten Zieles zu gewährleisten, und es darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (Urteil Gebhard, a. a. O., Randnr. 37). Der Gerichtshof hat hierzu ferner ausgeführt, daß der freie Dienstleistungsverkehr nur durch Regelungen, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, und nur insoweit beschränkt werden darf, als dem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Rechtsvorschriften Rechnung getragen ist, denen der Dienstleistungserbringer in dem Staat unterliegt, in dem er ansässig ist (in diesem Sinn Urteile vom 26. Februar 1991 in der Rechtssache C-180/89, Kommission/Italien, Slg. 1991, I-709, Randnr. 17, und in der Rechtssache C-198/89, Kommission/Griechenland, Slg. 1991, I-727, Randnr. 18, sowie vom 9. August 1994 in der Rechtssache C-43/93, Vander Elst, Slg. 1994, I-3803, Randnr. 16).

29 Es ist also zu prüfen, ob diese vier Voraussetzungen in einem Fall der vorliegenden Art erfuellt sind.

30 In bezug auf die erste Voraussetzung ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, daß das Verbot für Inkassounternehmen, Forderungen geschäftsmässig ohne Einschaltung eines Rechtsanwalts selbst gerichtlich einzuziehen, nicht diskriminierend ist und unterschiedslos für einheimische Dienstleistungserbringer und für Dienstleistungserbringer anderer Mitgliedstaaten gilt.

31 Zur zweiten Voraussetzung macht die deutsche Regierung unwidersprochen geltend, Artikel 1 § 1 RBerG solle zum einen die Empfänger der betreffenden Dienstleistungen davor bewahren, daß ihnen durch Rechtsrat von Personen, die nicht die erforderliche berufliche oder persönliche Qualifikation besässen, Schaden entstehe, und zum anderen die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sichern (Urteil vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-76/90, Säger, Slg. 1991, I-4221, Randnr. 16, wie auch Urteil vom 3. Dezember 1974 in der Rechtssache 33/74, Van Binsbergen, Slg. 1974, 1299).

32 Zur dritten und zur vierten Voraussetzung machen die Kommission und der Gläubiger geltend, das Verbot für Inkassobüros, Forderungen selbst gerichtlich einzuziehen, gehe über das hinaus, was zur Erreichung der mit dem RBerG verfolgten Ziele erforderlich sei.

33 Der Gläubiger führt insbesondere aus, diese Ziele könnten auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden. So könnten sich die deutschen Behörden mit einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Dienstleistungserbringer ansässig sei, ausgestellten Bescheinigung über die Redlichkeit oder die Solvenz begnügen oder verlangen, daß der Dienstleistungserbringer im Bestimmungsmitgliedstaat eine Anschrift für die Zustellung amtlicher gerichtlicher Mitteilungen festlege.

34 Die Kommission macht geltend, die fraglichen Beschränkungen bezögen sich nicht auf den Schutz des Gläubigers oder der in der Rechtspflege Tätigen, da gemäß § 79 ZPO der Gläubiger selbst oder durch einen von ihm bevollmächtigten Laien beim Amtsgericht den Erlaß eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses beantragen könne und insoweit keinem Anwaltszwang unterliege.

35 Das Ausgangsverfahren betrifft die Vertretung von Privatpersonen vor Gericht durch eine geschäftsmässig handelnde juristische Person. Die deutsche Regierung führt hierzu aus, die durch § 79 ZPO vorgesehene Möglichkeit, daß ein Gläubiger einen Rechtsstreit selbst oder durch eine andere Person führen könne, diene der Kostenersparnis in Prozessen vor den den Landgerichten nachgeordneten Gerichten. Prozeßbevollmächtigte könnten dabei nur natürliche Personen sein. Diese könnten gegebenenfalls bei den Gerichten selbst den Rat fachkundiger Personen in Anspruch nehmen. Anders verhalte es sich bei der geschäftsmässigen Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von Gerichtsverfahren. Die einschlägigen Bestimmungen des RBerG behielten diese Tätigkeit nämlich Rechtsanwälten vor, die vor den Gerichten persönlich verantwortlich seien.

36 Der von der Kommission angeführte Umstand, daß ein Gläubiger oder ein von diesem bevollmächtigter Laie einen Antrag auf Erlaß eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses stellen kann, steht daher der Annahme nicht entgegen, daß eine Regelung der im Ausgangsverfahren streitigen Art, was die geschäftsmässige Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von Gerichtsverfahren anlangt, aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, die mit dem Schutz der Gläubiger oder der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zusammenhängen.

37 Nach ständiger Rechtsprechung steht es jedem Mitgliedstaat in Ermangelung besonderer gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich frei, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs für sein Hoheitsgebiet zu regeln (Urteil vom 12. Juli 1984 in der Rechtssache 107/83, Klopp, Slg. 1984, 2971, Randnr. 17).

38 Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, bietet die Anwendung von Berufsregelungen auf die Anwälte ° namentlich von Vorschriften über Organisation, Befähigung, Standespflichten, Kontrolle und Verantwortlichkeit ° den Empfängern rechtlicher Dienstleistungen und der Rechtspflege die erforderliche Gewähr für Integrität und Erfahrung (in diesem Sinn Urteil vom 19. Januar 1988 in der Rechtssache 292/86, Gullung, Slg. 1988, 111, und Urteil Van Binsbergen, a. a. O.).

39 Daß die geschäftsmässige Vertretung von Privatpersonen vor Gericht auf einem rechtlich schwierigen und in zahlreichen Einzelbestimmungen geregelten Sachgebiet Rechtsanwälten vorbehalten ist, dient nach Auffassung der deutschen Regierung dem Schutz der Dienstleistungsempfänger und der Rechtspflege vor den Gefahren, die sich aus der mangelnden Fachkenntnis und Erfahrung der Inkassobüros auf diesem Gebiet ergeben.

40 In einem Fall der vorliegenden Art seien diese Garantien um so mehr erforderlich, als Gegenstand des Verfahrens die Zwangsvollstreckung aus einem Vollstreckungsbescheid gegen eine Privatperson mittels eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses sei und folglich die Verfahrensvorschriften zum Schutz von Privatpersonen zu beachten seien.

41 Die Beurteilung der Notwendigkeit, die geschäftsmässige gerichtliche Einziehung von Forderungen Rechtsanwälten vorzubehalten, fällt beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Auch wenn diese Tätigkeit in einigen Mitgliedstaaten nicht den Rechtsanwälten vorbehalten ist, vertritt die Bundesrepublik Deutschland doch zu Recht den Standpunkt, daß die mit dem RBerG verfolgten Ziele, was diese Tätigkeit anlangt, nicht mit weniger einschneidenden Mitteln erreicht werden können.

42 Zwar besteht in Frankreich keine gesetzliche Regelung für Inkassobüros, jedoch bedeutet der Umstand, daß ein Mitgliedstaat weniger strenge Vorschriften erlässt als ein anderer Mitgliedstaat, nicht, daß dessen Vorschriften unverhältnismässig und folglich mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind (Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141, Randnr. 51).

43 Demnach ist auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß Artikel 59 EG-Vertrag einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die einem Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, die gerichtliche Einziehung fremder Forderungen verbietet, weil die geschäftsmässige Ausübung dieser Tätigkeit der Anwaltschaft vorbehalten ist.

Zur zweiten Frage

44 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

45 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Landgericht Dortmund mit Beschluß vom 27. Dezember 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 59 EG-Vertrag steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die einem Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, die gerichtliche Einziehung fremder Forderungen verbietet, weil die geschäftsmässige Ausübung dieser Tätigkeit der Anwaltschaft vorbehalten ist.

Ende der Entscheidung

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