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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.09.1994
Aktenzeichen: C-301/93
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, VO 1408/71 EWG


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
VO 1408/71 EWG Art. 4 Abs. 1
VO 1408/71 EWG Art. 51 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 51 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß er, wenn die in einem Mitgliedstaat als Invaliditätsrente gezahlten Leistungen nach Artikel 46 dieser Verordnung berechnet sind, eine Neuberechnung der fraglichen Leistungen ausschließt, falls in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung gewährt wird, die den Charakter einer Familienleistung im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 hat oder die, da sie automatisch solchen Familien gewährt wird, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Grösse, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen erfuellen, einer Familienleistung gleichgestellt werden kann.

Aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck des Artikels 51 ergibt sich nämlich, daß diese Bestimmung nur Leistungen betrifft, die unter das Kapitel 3 des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, das für Altersrenten, für Leistungen im Fall des Todes und für Leistungen bei Invalidität gilt. Da die Familienleistungen zum Kapitel 7 des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 gehören, liegen sie ausserhalb des Anwendungsbereichs des Kapitels 3. Die Gewährung einer Familienleistung löst also nicht die Anwendung des Artikels 51 der Verordnung aus und verpflichtet oder ermächtigt die Verwaltungskommission nicht, eine Invaliditätsrente nach Artikel 46 der Verordnung neu zu berechnen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 22. SEPTEMBER 1994. - LIO BETTACCINI GEGEN FONDS NATIONAL DE RETRAITE DES OUVRIERS MINEURS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE MONS - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - ZULAGE ZU EINER INVALIDITAETSRENTE - ANWENDUNG NATIONALER ANTIKUMULIERUNGSVORSCHRIFTEN. - RECHTSSACHE C-301/93.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Mons (Belgien) hat mit Urteil vom 18. Mai 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juni 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 46 und 51 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten Fassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Bettaccini (nachstehend: Kläger) und dem Fonds national de retraite des ouvriers mineurs über die Berechnung einer von dieser Behörde gewährten Invaliditätsrente.

3 Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger, der derzeit in Italien wohnt und seit dem 1. März 1962 vom zuständigen Träger in Belgien eine Invaliditätsrente bezieht. Ausserdem erhält er eine Invaliditätsrente in Italien.

4 In Belgien erfuellte der Kläger alle in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Voraussetzungen für den Erwerb des Anspruchs auf eine Invaliditätsrente, ohne in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte Versicherungszeiten geltend machen zu müssen. Dagegen ist seine italienische Invaliditätsrente eine proratisierte, durch Zusammenrechnung der in Italien und in Belgien zurückgelegten Versicherungszeiten erworbene Leistung. Von Anfang an hatte die Anwendung der in den belgischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Antikumulierungsvorschriften wegen der italienischen Rente eine Herabsetzung der belgischen Rente zur Folge. Die so festgesetzte Rente wurde bis Dezember 1989 gezahlt.

5 Im Juni 1992 wurde der Commission administrative der Caisse de Prévoyance Charleroi (nachstehend: Verwaltungskommission) mitgeteilt, daß der Kläger seit dem 1. Januar 1990 in Italien zusätzlich zu seiner italienischen Invaliditätsrente eine neue, als Beihilfe für die Kleinfamilie ("assegno per il nucleo familiare") bezeichnete Leistung in Höhe von 90 000 LIT pro Monat für die von ihm mit seiner Frau gebildete Familiengemeinschaft erhielt.

6 Die Beihilfe für die Kleinfamilie war durch das später in das Gesetz Nr. 153 vom 13. Mai 1988 (GURI Nr. 112 vom 14.5.1988) umgewandelte Decreto-legge Nr. 69 vom 13. März 1988 (GURI Nr. 61 vom 14.3.1988) mit Wirkung vom 1. Januar 1988 in das italienische System der sozialen Sicherheit eingeführt worden. Sie ersetzte insbesondere für Arbeitnehmer, Rentenberechtigte und Inhaber von Ansprüchen auf wirtschaftliche Vorsorgeleistungen aus unselbständiger Arbeit die Familienbeihilfen, zusätzlichen Familienbeihilfen und alle anderen Familienleistungen unabhängig von ihrer Bezeichnung. Nach dem Gesetz Nr. 153 setzt sich die Kleinfamilie aus den nicht gerichtlich getrennt lebenden Ehegatten und den Kindern unter 18 Jahren zusammen, wobei für behinderte Kinder keine Altersgrenze besteht. Wird die Beihilfe für die Kleinfamilie an eine Person gezahlt, die eine Invaliditätsrente erhält, so richtet sich ihre Höhe nicht nach der der Invaliditätsrente, sondern nach der des Familieneinkommens und nach der Anzahl der Personen, die zu der Kleinfamilie gehören. Sie ist dann ebenso hoch wie der Betrag, der an erwerbstätige Arbeitnehmer, Arbeitslose oder Altersrentenberechtigte gezahlt würde, die sich in bezug auf das Einkommen und die Zusammensetzung der Kleinfamilie in der gleichen Lage befinden.

7 Da die Verwaltungskommission meinte, daß die Beihilfe für die Kleinfamilie Bestandteil der italienischen Rente sei, vertrat sie die Auffassung, daß der Anspruch des Klägers auf die belgische Invaliditätsrente für die Zeit nach dem 1. Januar 1990 gemäß Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zu überprüfen sei.

8 Artikel 51 trägt die Überschrift "Anpassung und Neuberechnung der Leistungen" und lautet wie folgt:

"(1) Der Prozentsatz oder Betrag, um den bei einem Anstieg der Lebenshaltungskosten, bei Änderung des Lohnniveaus oder aus anderen Anpassungsgründen die Leistungen in den betreffenden Mitgliedstaaten geändert werden, gilt unmittelbar für die nach Artikel 46 festgestellten Leistungen, ohne daß eine Neuberechnung nach Artikel 46 vorzunehmen ist.

(2) Bei Änderungen des Feststellungsverfahrens oder der Berechnungsmethode für die Leistungen ist dagegen eine Neuberechnung nach Artikel 46 vorzunehmen."

9 Bei der Überprüfung des Anspruchs des Klägers wendete die Verwaltungskommission die belgische Antikumulierungsvorschrift des Artikels 23 Absatz 1 der Königlichen Verordnung vom 19. November 1970 an, wonach eine nach dieser Verordnung gewährte Invaliditätsrente nur bis zur Höhe ihres jährlichen Betrages mit einer oder mehreren Alters- oder Invaliditätsrenten, die gemäß belgischen oder ausländischen Rechtsvorschriften gewährt werden, kumuliert werden darf. Folglich setzte die Verwaltungskommission die Invaliditätsrente des Klägers nach Maßgabe der Beihilfe für die Kleinfamilie, die er seit dem 1. Januar 1990 in Italien bezog, herab und forderte vom Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1990 bis zum 31. Oktober 1992 450 729 BFR zurück.

10 Der Kläger focht diesen Bescheid beim Tribunal du travail Mons an und machte insbesondere geltend, daß die Beihilfe für die Kleinfamilie eine Familienleistung sei, die nicht Bestandteil der italienischen Invaliditätsrente sei, und daß Artikel 51 der Verordnung Nr. 1408/71 also keine Neuberechnung seiner belgischen Invaliditätsrente zulasse.

11 Das Tribunal du travail Mons fragt sich, ob der wegen der Unterhaltspflicht gegenüber einem Ehegatten gewährte Teil der Beihilfe für die Kleinfamilie eine Rentenzulage darstellen kann, für die die Bestimmungen des Kapitels 3 des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 gelten, und hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfragen vorzulegen:

1) Darf der belgische Staat bei der Berechnung nach Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 zu dem Betrag der italienischen Invaliditätsrente den Teil der Beihilfe für die Kleinfamilie hinzurechnen, den Italien wegen der Unterhaltspflicht gegenüber einem Ehegatten gemäß dem Gesetz Nr. 153 vom 13. Mai 1988 gewährt?

2) Lässt es die Ersetzung der Familienbeihilfen oder zusätzlichen Familienbeihilfen durch die mit dem italienischen Gesetz Nr. 153 vom 13. Mai 1988 eingeführte Beihilfe für die Kleinfamilie gemäß Artikel 51 der Verordnung Nr. 1408/71 zu, auf der Grundlage des nationalen Rechts und des europäischen Rechts, insbesondere des Artikels 46 der Verordnung Nr. 1408/71, eine vergleichende Neuberechnung mit Anpassung der Rentenbeträge vorzunehmen?

12 Zunächst ist die zweite Frage des vorlegenden Gerichts zu prüfen.

13 Diese Frage zielt im wesentlichen darauf ab, ob Artikel 51 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß er, wenn die in einem Mitgliedstaat als Invaliditätsrente gezahlten Leistungen nach Artikel 46 dieser Verordnung berechnet sind, eine Neuberechnung der fraglichen Leistungen ausschließt, falls in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung wie die Beihilfe für die Kleinfamilie im Sinne des Gesetzes Nr. 153 gewährt wird.

14 Gemäß Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist eine Neuberechnung nach Artikel 46 nur "bei Änderungen des Feststellungsverfahrens oder der Berechnungsmethode" vorzunehmen.

15 Somit ist festzustellen, welche Leistungen mit dieser Bestimmung gemeint sind.

16 Aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck des Artikels 51 ergibt sich, daß diese Bestimmung nur Leistungen betrifft, die unter das Kapitel 3 des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, das für Altersrenten und Leistungen im Fall des Todes, d. h. für Leistungen an Hinterbliebene, und für Leistungen bei Invalidität gilt. Ausserdem enthält der Wortlaut des Artikels 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 keinen Anhaltspunkt dafür, daß die in dieser Bestimmung gestattete Neuberechnung auf etwas anderem beruhen sollte als auf einer Änderung des Feststellungsverfahrens oder der Berechnungsmethode für die unter dieses Kapitel fallenden Leistungen.

17 Daraus folgt, daß Artikel 51 bei einer Änderung der Berechnungsmethode für sonstige Arten von Leistungen der sozialen Sicherheit wie die Familienleistungen nicht anzuwenden ist.

18 Die oben in Randnummer 6 beschriebene Beihilfe für die Kleinfamilie hat den Charakter einer Familienleistung im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71. Nach dieser Bestimmung bezeichnet der Begriff "Familienleistungen" alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind. Ausserdem ist eine Leistung, die automatisch solchen Familien gewährt wird, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Grösse, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen erfuellen, einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen (vgl. Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-78/91, Hughes, Slg. 1992, I-4839).

19 Folglich gehört die Beihilfe für die Kleinfamilie zum Kapitel 7 (mit der Überschrift "Familienleistungen und -beihilfen") des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 und fällt nicht in den Anwendungsbereich des Kapitels 3. Die Gewährung einer solchen Beihilfe an den Kläger löst also nicht die Anwendung des Artikels 51 der Verordnung aus und verpflichtet oder ermächtigt die Verwaltungskommission nicht, seine Invaliditätsrente nach Artikel 46 der Verordnung neu zu berechnen.

20 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, daß Artikel 51 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß er, wenn die in einem Mitgliedstaat als Invaliditätsrente gezahlten Leistungen nach Artikel 46 dieser Verordnung berechnet sind, eine Neuberechnung der fraglichen Leistungen ausschließt, falls in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung gewährt wird, die den Charakter einer Familienleistung im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 hat oder die, da sie automatisch solchen Familien gewährt wird, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Grösse, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen erfuellen, einer Familienleistung gleichgestellt werden kann.

21 Mit Rücksicht auf die Antwort auf die zweite Frage braucht die erste Frage nicht geprüft zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm vom Tribunal du travail Mons mit Urteil vom 18. Mai 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 51 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 kodifizierten Fassung ist dahin auszulegen, daß er, wenn die in einem Mitgliedstaat als Invaliditätsrente gezahlten Leistungen nach Artikel 46 dieser Verordnung berechnet sind, eine Neuberechnung der fraglichen Leistungen ausschließt, falls in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung gewährt wird, die den Charakter einer Familienleistung im Sinne von Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 hat oder die, da sie automatisch solchen Familien gewährt wird, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Grösse, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen erfuellen, einer Familienleistung gleichgestellt werden kann.

Ende der Entscheidung

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