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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.05.1991
Aktenzeichen: C-304/89
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 2950/83/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 173
VO Nr. 2950/83/EWG Art. 5
VO Nr. 2950/83/EWG Art. 6
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Im Rahmen des Verfahrens für die Gewährung von Zuschüssen des Europäischen Sozialfonds für in einem Mitgliedstaat durchgeführte Maßnahmen der beruflichen Bildung und Berufsberatung ist der betreffende Mitgliedstaat der einzige Ansprechpartner des Fonds und übernimmt insoweit selbst die Verantwortung, als er die sachliche und rechnerische Richtigkeit der in den Anträgen auf Restzahlung enthaltenen Angaben bestätigt und sogar gehalten sein kann, die ordnungsgemässe Durchführung der Bildungsmaßnahmen zu gewährleisten. Angesichts der zentralen Stellung dieses Mitgliedstaats und der Bedeutung seiner Verantwortung bei der Vorlage und Prüfung der Finanzierung der Bildungsmaßnahmen stellt die ihm durch Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 2950/83 eröffnete Möglichkeit, vor Erlaß einer Entscheidung über die Kürzung des ursprünglich gewährten Zuschusses eine Stellungnahme abzugeben, ein wesentliches Formerfordernis dar, dessen Nichtbeachtung zur Nichtigkeit der Kürzungsentscheidung führt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 7. MAI 1991. - ESTABELECIMENTOS ISIDORO M. OLIVEIRA SA GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - EUROPAEISCHER SOZIALFONDS - NICHTIGKEITSKLAGE GEGEN DIE KUERZUNG EINES URSPRUENGLICH GEWAEHRTEN FINANZIELLEN ZUSCHUSSES. - RECHTSSACHE C-304/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Gesellschaft Estabelecimentos Isidoro M. Oliveira hat mit Klageschrift, die am 5. Oktober 1989 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung zweier Entscheidungen der Kommission vom 27. Juni 1989, mit denen Zuschüsse, die der Europäische Sozialfonds (im folgenden: Fonds) zunächst für zwei für Rechnung der Klägerin vorgeschlagene Bildungsvorhaben genehmigt hatte, gekürzt wurden.

2 Gemäß Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a des Beschlusses 83/516/EWG des Rates vom 17. Oktober 1983 über die Aufgaben des Europäischen Sozialfonds (ABl. L 289, S. 38) beteiligt sich der Fonds an der Finanzierung von Maßnahmen der beruflichen Bildung und Berufsberatung.

3 Die Genehmigung eines Zuschussantrags hat gemäß Artikel 5 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2950/83 des Rates vom 17. Oktober 1983 zur Anwendung des Beschlusses 83/516/EWG (ABl. L 289, S. 1; im folgenden: Verordnung) zur Folge, daß ein Vorschuß in Höhe von 50 % des gewährten Zuschusses zu dem Zeitpunkt gezahlt wird, zu dem der Beginn der Maßnahme vorgesehen ist. Gemäß Artikel 5 Absatz 4 enthalten die Anträge auf Restzahlung einen ins einzelne gehenden Bericht über den Inhalt, die Ergebnisse und die finanziellen Einzelheiten der Maßnahme.

4 Wird gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung ein Zuschuß des Fonds nicht gemäß den Bedingungen der Entscheidung über die Genehmigung verwandt, so kann die Kommission ihn aussetzen, kürzen oder streichen, nachdem sie dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Artikel 6 Absatz 2 bestimmt, daß ein Betrag, der nicht gemäß den in der Entscheidung über die Genehmigung festgelegten Bedingungen verwendet wurde, zu erstatten ist und der betroffene Mitgliedstaat subsidiär für die ohne Rechtsgrund empfangenen Beträge haftet, die für Maßnahmen gezahlt wurden, für die er die ordnungsgemässe Verwirklichung gemäß Artikel 2 Absatz 2 des Beschlusses 83/516 gewährleistet.

5 Die Abteilung für Angelegenheiten des Europäischen Sozialfonds des portugiesischen Arbeits- und Sozialministeriums (im folgenden: DAFSE) stellte für die Portugiesische Republik und zugunsten der Klägerin zwei Anträge auf Zuschuß bei den Dienststellen des Fonds.

6 Die Kommission genehmigte die beiden Bildungsvorhaben, für die ein Zuschuß beantragt wurde, durch zwei Entscheidungen vorbehaltlich gewisser Änderungen bezueglich des Zuschußbetrags. Diese Entscheidungen wurden der DAFSE übermittelt, die sie ihrerseits der Klägerin mitteilte.

7 Nach Abschluß der Bildungsmaßnahmen legte die Klägerin der DAFSE die Unterlagen zum Nachweis der Durchführung der Maßnahme sowie die Anträge auf Restzahlung und den in Artikel 5 Absatz 4 vorgesehenen Bericht über Inhalt, Ergebnisse und finanzielle Einzelheiten der Maßnahme vor.

8 Gemäß dieser Vorschrift bestätigte die Portugiesische Republik die sachliche und rechnerische Richtigkeit der in den Zahlungsanträgen enthaltenen Angaben und übermittelte diese der Kommission.

9 Nach Prüfung der Anträge auf Restzahlung stellte die Kommission einen bestimmten Betrag nicht zuschußfähiger Ausgaben fest. Demgemäß kürzte die Kommission mit den angefochtenen Entscheidungen, die der DAFSE übermittelt und sodann der Klägerin mitgeteilt wurden, den ursprünglich vom Fonds genehmigten Zuschuß.

10 Die Klägerin stützt ihre Nichtigkeitsklage gegen diese Entscheidungen auf vier Klagegründe, mit denen sie die Verletzung wesentlicher Formvorschriften, die Verletzung allgemeiner Rechtsgrundsätze, die Nichtbeachtung wohlerworbener Rechte und das Fehlen einer ausreichenden Begründung der angefochtenen Entscheidungen geltend macht.

11 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

12 Es ist festzustellen, daß die Kommission die angefochtenen Entscheidungen den zuständigen portugiesischen Behörden in Form von mit Gründen versehenen Bescheiden übermittelte, die diese davon in Kenntnis setzten, daß gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung der Zuschuß des Fonds auf einen Betrag gekürzt werde, der unter dem ursprünglich genehmigten Betrag liege.

13 Insoweit betreffen die streitigen Entscheidungen, obwohl sie an die Portugiesische Republik gerichtet sind, die Klägerinnen unmittelbar und individuell im Sinne des Artikels 173 Absatz 2 EWG-Vertrag, da sie dieser einen Teil der ihr ursprünglich zugestandenen Zuschüsse entziehen, ohne daß der Mitgliedstaat insoweit über ein eigenes Ermessen verfügt.

14 Mit dem ersten Klagegrund - der Verletzung wesentlicher Formvorschriften - macht die Klägerin geltend, die angefochtenen Entscheidungen verletzten Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung, weil die Kommission im Widerspruch zu dieser Bestimmung dem betroffenen Mitgliedstaat vor Erlaß der beabsichtigten Entscheidungen keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben habe.

15 Die Kommission bringt vor, die zuständigen innerstaatlichen Behörden könnten entweder die Entscheidungen über die Kürzung von Zuschüssen hinnehmen und sie den Veranstaltern des Vorhabens mitteilen, oder sie könnten sie gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung beanstanden. Im Fall der Beanstandung beginne eine neue Phase der Abstimmung zwischen den Dienststellen des Fonds und den innerstaatlichen Behörden, zu deren Abschluß die Entscheidungen entweder bestätigt oder abgeändert und dann durch Mitteilung an die Veranstalter der Vorhaben endgültig würden. Vorliegend hätten sich die portugiesischen Behörden mit den von der Kommission vorgenommenen Kürzungen ausdrücklich einverstanden erklärt und seien bereit gewesen, die angefochtenen Entscheidungen der Klägerin mitzuteilen. Jedenfalls sei die Klägerin nicht berechtigt, sich auf ein Anhörungsrecht zu berufen, auf dessen Ausübung sein rechtmässiger Inhaber verzichtet habe.

16 Zunächst ist festzustellen, daß die Kommission das Interesse der Klägerin an der Geltendmachung dieses Klagegrundes nicht in Abrede stellen kann.

17 Die Klägerin hat nämlich ein legitimes Interesse daran, die etwaige Nichtbeachtung des in Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung vorgeschriebenen Formerfordernisses zu rügen, weil ein solcher Verstoß sich auf die Rechtmässigkeit der angefochtenen Entscheidungen auswirken kann.

18 Jedenfalls ist der Gerichtshof nach seiner Rechtsprechung befugt, die Verletzung wesentlicher Formvorschriften von Amts wegen zu prüfen (vgl. die Urteile vom 21. Dezember 1954 in der Rechtssache 1/54, Französische Republik/Hohe Behörde, Slg. 1954, 7, und in der Rechtssache 2/54, Italienische Republik/Hohe Behörde, Slg. 1954, 81, sowie das Urteil vom 20. März 1959 in der Rechtssache 18/57, Nold/Hohe Behörde, Slg. 1959, 91).

19 Es ist unstreitig, daß die Kommission der Portugiesischen Republik vor Erlaß der angefochtenen Entscheidungen keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Damit hat sie gegen die Pflicht verstossen, die ihr Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung in eindeutiger Weise auferlegt.

20 Im übrigen steht fest, daß der Mitgliedstaat der einzige Ansprechpartner des Fonds ist (vgl. das Urteil vom 15. März 1984 in der Rechtssache 310/81, EISS/Kommission, Slg. 1984, 1341, Randnr. 15) und insoweit selbst die Verantwortung übernimmt, als er die sachliche und rechnerische Richtigkeit der in den Anträgen auf Restzahlung enthaltenen Angaben bestätigt und sogar gehalten sein kann, die ordnungsgemässe Durchführung der Bildungsmaßnahmen zu gewährleisten.

21 Angesichts der zentralen Stellung des Mitgliedstaats und der Bedeutung seiner Verantwortung bei der Vorlage und Prüfung der Finanzierung der Bildungsmaßnahmen stellt die ihm eröffnete Möglichkeit, vor Erlaß einer endgültigen Kürzungsentscheidung eine Stellungnahme abzugeben, ein wesentliches Formerfordernis dar, dessen Nichtbeachtung zur Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung führt.

22 Dem Vorbringen der Kommission, daß der betroffene Mitgliedstaat nach Übermittlung der Kürzungsentscheidungen eine Abstimmung mit dem Fonds einleiten könne, ist nicht zu folgen.

23 Hierzu genügt der Hinweis, daß sowohl der über den Beginn dieser Abstimmung informierte Empfänger der Zuschüsse wie auch der betreffende Mitgliedstaat gehindert wären, gegen die Kürzungsentscheidungen Nichtigkeitsklage zu erheben, wenn die Kommission trotz der von diesem Mitgliedstaat geltend gemachten Einwände ihre ursprünglichen Entscheidungen nach Ablauf der Zweimonatsfrist des Artikels 173 Absatz 3 EWG-Vertrag bestätigt.

24 In einem solchen Fall wäre auch eine Nichtigkeitsklage des Empfängers der Zuschüsse und des Mitgliedstaats gegen die Entscheidungen, die die Kürzungen der Zuschüsse bestätigten, nicht zulässig, weil eine Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung, durch die eine frühere, nicht fristgerecht angefochtene Entscheidung nur bestätigt wird, unzulässig ist (vgl. Beschluß vom 21. November 1990 in der Rechtssache C-12/90, Infortec, Slg. 1990, I-4265).

25 Demgemäß sind die streitigen Kürzungsentscheidungen für nichtig zu erklären, ohne daß die übrigen von der Klägerin vorgebrachten Klagegründe zu prüfen sind.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidungen vom 27. Juni 1989, mit denen Ausgaben im Gesamtbetrag von 63 450 244 ESC und 23 713 486 ESC im Rahmen der Zuschussanträge Nr. 870708/P1 bzw. 870708/P3 an den Europäischen Sozialfonds für nicht zuschußfähig erklärt wurden, werden für nichtig erklärt.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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