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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.10.1997
Aktenzeichen: C-304/96
Rechtsgebiete: Richtlinie 93/37/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 93/37/EWG
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

3 Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 des Vertrages ist es allein Sache der nationalen Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu treffende gerichtliche Entscheidung übernehmen müssen, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der von ihnen dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Das Ersuchen eines nationalen Gerichts kann nur zurückgewiesen werden, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht.

4 Artikel 30 Absatz 4 letzter Unterabsatz der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, der eine zeitlich begrenzte Ausnahme von dem durch die Gemeinschaftsregelung eingeführten Regelverfahren zulässt, ist dahin auszulegen, daß er es dem öffentlichen Auftraggeber nicht gestattet, nach dem 31. Dezember 1992 anomal niedrige Angebote abzulehnen, ohne das Prüfungsverfahren nach Unterabsatz 1 dieser Bestimmung einzuhalten.


Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 16. Oktober 1997. - Hera SpA gegen Unità sanitaria locale nº 3 - genovese (USL) und Impresa Romagnoli SpA. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale amministrativo regionale della Liguria - Italien. - Richtlinie 93/37/EWG - Öffentliche Aufträge - Anomal niedrige Angebote. - Rechtssache C-304/96.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunale amministrativo regionale della Liguria hat mit Beschluß vom 4. Juli 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 19. September 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 199, S. 54) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Hera SpA (im folgenden: Hera) einerseits und der Unità sanitaria locale Nº 3 - genovese (lokale Gesundheitsbehörde; im folgenden: USL) und der Impresa Romagnoli SpA (im folgenden: Romagnoli) andererseits wegen einer Entscheidung, mit der Hera von einer Ausschreibung ausgeschlossen wurde.

3 Die USL veröffentlichte am 19. Dezember 1995 eine Ausschreibung für einen Auftrag über interne Umbau- und technische Modernisierungsarbeiten am "Vecchio Istituto" des Presidio Socio Sanitario in Genua. Nach den Bedingungen der Ausschreibung sollte der Anbieter den Zuschlag erhalten, der den höchsten Preisnachlaß gegenüber dem Auftragsgrundbetrag von 16 643 000 000 LIT gewährte.

4 Hera reichte mit einem Preisnachlaß von 17,30 % das beste Angebot ein. Dieses Angebot wurde jedoch als anomal niedrig von der Ausschreibung ausgeschlossen, so daß der Auftrag an Romagnoli vergeben wurde.

5 Der öffentliche Auftraggeber stützte seine Entscheidung auf Artikel 21 Absatz 1a des Gesetzes Nr. 109 (GURI, Suppl. Nr. 29 vom 19. Februar 1994) in der durch das Decreto-legge Nr. 101 (GURI Nr. 78 vom 3. April 1995) und das Gesetz Nr. 216 (GURI Nr. 127 vom 2. Juni 1995) geänderten Fassung. Diese Bestimmung sieht vor, daß "bis zum 1. Januar 1997 von Ausschreibungen öffentlicher Bauaufträge über Beträge, die über oder unter der gemeinschaftsrechtlichen Schwelle liegen, alle Angebote ausgeschlossen sind, bei denen ein prozentualer Preisnachlaß angeboten wird, der den Durchschnittspreisnachlaß aller zugelassenen Angebote um mehr als ein Fünftel überschreitet".

6 Hera macht im Rahmen ihrer Klage gegen die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers beim vorlegenden Gericht u. a. geltend, die USL habe gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37 verstossen. Darin heisst es:

"Scheinen bei einem Auftrag Angebote im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig, so muß der öffentliche Auftraggeber vor der Ablehnung dieser Angebote schriftlich Aufklärung über die Einzelposten der Angebote verlangen, wo er dies für angezeigt hält; die anschließende Prüfung dieser Einzelposten erfolgt unter Berücksichtigung der eingegangenen Erläuterungen.

...

Bis Ende 1992 kann der öffentliche Auftraggeber jedoch unter der Voraussetzung, daß die geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften dies gestatten, ausnahmsweise und unter Vermeidung von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit Angebote, die im Verhältnis zur Leistung anomal niedrig sind, ablehnen, ohne das Verfahren nach Unterabsatz 1 einhalten zu müssen, sofern die Zahl dieser Angebote für einen bestimmten Auftrag so hoch ist, daß die Anwendung dieses Verfahrens eine erhebliche Verzögerung bewirken und das öffentliche Interesse an der Ausführung des betreffenden Auftrags beeinträchtigen würde. Die Anwendung dieses Ausnahmeverfahrens ist in der Bekanntmachung nach Artikel 11 Absatz 5 zu erwähnen."

7 Das nationale Gericht weist darauf hin, daß die Vorschriften des italienischen Rechts über den Ausschluß anomal niedriger Angebote durch die USL richtig angewendet worden seien. Diese Vorschriften wichen jedoch von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37 ab.

8 Das nationale Gericht hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof durch Vorabentscheidung über die Frage befunden hat, ob das Gemeinschaftsrecht "es einem Mitgliedstaat erlaubt - und wenn ja, in welchen Fällen -, in bezug auf das Inkrafttreten von Richtlinien vorübergehende Ausnahmeregelungen zu schaffen, wenn diese Richtlinien bereits eine entsprechende Frist festlegen".

9 Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, möchte das nationale Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37 dahin auszulegen ist, daß er es dem öffentlichen Auftraggeber gestattet, nach dem 31. Dezember 1992 anomal niedrige Angebote abzulehnen, ohne das Prüfungsverfahren nach Unterabsatz 1 dieser Bestimmung einzuhalten.

Zur Zulässigkeit

10 Die italienische Regierung macht geltend, die Beantwortung der Vorlagefrage sei nicht erforderlich, da Vorschriften, die Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37 entsprächen, unmittelbare Wirkung hätten, diese Richtlinie den Mitgliedstaaten keine Abweichungsbefugnis einräume und der italienische Minister für öffentliche Arbeiten ein erläuterndes Rundschreiben veröffentlicht habe, in dem die betroffenen Behörden aufgefordert worden seien, Artikel 21 Absatz 1a des Gesetzes Nr. 109 im Einklang mit der Richtlinie 93/37 auszulegen und anzuwenden.

11 Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache der nationalen Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu treffende gerichtliche Entscheidung übernehmen müssen, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der von ihnen dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Das Ersuchen eines nationalen Gerichts kann nur zurückgewiesen werden, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht (vgl. Urteil vom 26. Oktober 1995 in der Rechtssache C-143/94, Furlanis, Slg, 1995, I-3633, Randnr. 12). Dies ist jedoch hier nicht der Fall.

12 Die Vorlagefrage ist daher zu beantworten.

Zur Vorlagefrage

13 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Richtlinie 93/37, wie die Kommission ausgeführt hat, eine Kodifizierung der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 185, S. 5) und ihrer nachfolgenden Änderungen darstellt. Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37 entspricht Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 in der Fassung der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 (ABl. L 210, S. 1).

14 Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37 gestattet dem öffentlichen Auftraggeber nur unter engen Voraussetzungen, das Prüfungsverfahren für anomal niedrig erscheinende Angebote nicht anzuwenden. Er kann ausnahmsweise und unter Vermeidung von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit von der Anwendung des Prüfungsverfahrens absehen, sofern die Zahl dieser Angebote für einen bestimmten Auftrag so hoch ist, daß die Anwendung des Regelverfahrens eine erhebliche Verzögerung bewirken und das öffentliche Interesse an der Ausführung des Auftrags beeinträchtigen würde. Diese Befugnis kann ausserdem nur bis zum 31. Dezember 1992 ausgeuebt werden.

15 Im übrigen hat der Gerichtshof im vorerwähnten Urteil Furlanis, in dem er über die entsprechende Bestimmung der Richtlinie 71/305 in der Fassung der Richtlinie 89/440 zu entscheiden hatte, unter Hinweis darauf, daß die Bestimmung, die eine zeitlich begrenzte Ausnahme von dem Regelverfahren zulässt, eng auszulegen ist, festgestellt, daß die dort vorgesehene Ausnahme nur für Verfahren in Anspruch genommen werden darf, in denen die endgültige Vergabe spätestens am 31. Dezember 1992 erfolgt ist (Randnrn. 17 und 20).

16 Auf die Vorlagefrage ist somit zu antworten, daß Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37 dahin auszulegen ist, daß er es dem öffentlichen Auftraggeber nicht gestattet, nach dem 31. Dezember 1992 anomal niedrige Angebote abzulehnen, ohne das Prüfungsverfahren nach Unterabsatz 1 dieser Bestimmung einzuhalten.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Vierte Kammer)

auf die ihm vom Tribunale amministrativo regionale della Liguria mit Beschluß vom 4. Juli 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge ist dahin auszulegen, daß er es dem öffentlichen Auftraggeber nicht gestattet, nach dem 31. Dezember 1992 anomal niedrige Angebote abzulehnen, ohne das Prüfungsverfahren nach Unterabsatz 1 dieser Bestimmung einzuhalten.

Ende der Entscheidung

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