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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.06.1991
Aktenzeichen: C-307/89
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung Nr. 1408/71 vom 14.06.1971


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
Verordnung Nr. 1408/71 vom 14.06.1971 Art. 3 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Ein Mitgliedstaat, der eine nationale Regelung beibehält, die mit dem in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 geregelten Gleichbehandlungsgrundsatz insofern unvereinbar ist, als sie die Gewährung von Zusatzbeihilfen, durch die die Sozialrenten erhöht werden sollen, an Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die unter diese Verordnung fallen und in diesem Mitgliedstaat wohnen, an die Voraussetzung knüpft, daß ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht und daß diese Personen vorher in diesem Mitgliedstaat gewohnt haben, verstösst gegen seine Verpflichtungen aus *rtikel 3 Absatz 1.

2. Die unveränderte Fortgeltung einer nationalen Regelung, die als solche mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, lässt selbst dann, wenn der fragliche Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handelt, Unklarheiten tatsächlicher Art bestehen, weil die betroffenen Normadressaten bezueglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden, der dadurch, daß es sich bei dem, was der Anwendung des nationalen Gesetzes entgegensteht, um rein behördeninterne Verwaltungsanweisungen handelt, nur verstärkt werden kann. Sie stellt daher einen Verstoß gegen die sich aus dem EWG-Vertrag ergebenden Verpflichtungen dar.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 11. JUNI 1991. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN FRANZOESISCHE REPUBLIK. - SOZIALE SICHERHEIT - ZUSATZBEIHILFE DES FONDS NATIONAL DE SOLIDARITE - GEMEINSCHAFTSBUERGER, DIE IN FRANKREICH WOHNEN. - RECHTSSACHE C-307/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 8. Oktober 1989 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern [in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983, ABl. L 230, S. 6; nachstehend: Verordnung], verstossen hat, daß sie für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, in Frankreich wohnen und eine Leistung der sozialen Sicherheit nach den Artikeln L 815-2 und L 815-3 des neuen französischen Code de la sécurité sociale (Gesetzbuch der sozialen Sicherheit, nachstehend: CSS) zu Lasten eines französischen Systems beziehen, die Voraussetzung aufstellt, daß ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht und daß diese Personen vorher im Gebiet der Französischen Republik gewohnt haben.

2 In den Artikeln L 815-2 und L 815-3 CSS ist geregelt, welchen französischen Staatsangehörigen die Zusatzbeihilfe des Fonds national de solidarité (nachstehend: FNS) gewährt wird. Diese Beihilfe ist in Kapitel V des Titels I "Beihilfen für ältere Menschen" des Buches VIII des CSS geregelt. Gemäß Artikel L 815-1 wurde der FNS errichtet, um eine allgemeine Politik des Schutzes älterer Menschen, insbesondere durch Verbesserung der Pensionen, Renten und Altersbeihilfen, zu fördern.

3 Gemäß Artikel L 815-2 müssen die Betreffenden ihren Wohnort in Frankreich haben, wobei Dauer und Bedingungen durch Dekret festgelegt werden. Gemäß Artikel L 815-5 wird die Zusatzbeihilfe Ausländern nur gewährt, wenn ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht.

4 Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt seinerseits, daß die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.

5 Gemäß ihrem Artikel 4 Absatz 1 gilt die Verordnung Nr. 1408/71 für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die - neben anderen Leistungsarten - die Leistungen bei Invalidität und bei Alter betreffen. Gemäß Artikel 4 Absatz 4 ist diese Verordnung auf die Sozialhilfe nicht anzuwenden.

6 Mit Schreiben vom 4. Dezember 1985 forderte die Kommission die französische Regierung auf, zur Vereinbarkeit der genannten Vorschriften des CSS mit dem Gemeinschaftsrecht Stellung zu nehmen. Die französischen Stellen wendeten mit Schreiben vom 7. März 1986 ein, die Verordnung Nr. 1408/71 gelte nicht für die Zusatzbeihilfe, da diese Beihilfe eine Sozialhilfeleistung sei.

7 Am 14. Oktober 1987 gab die Kommission gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab und forderte die französische Regierung auf, dieser innerhalb von dreissig Tagen nachzukommen. Mit Schreiben vom 26. November 1987 und 6. Juni 1988 teilten die französischen Stellen der Kommission

mit, daß ein Gegenseitigkeitsabkommen nicht mehr Voraussetzung für die Gewährung einer Zusatzbeihilfe an Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sei und daß die in Artikel L 815-2 CSS erwähnten Durchführungsdekrete niemals erlassen worden seien.

8 Da die französische Regierung der Kommission nicht mitgeteilt hat, welche Rechtsvorschriften sie erlassen hat, um die beanstandete Vertragsverletzung abzustellen, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

10 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes gehören Rechtsvorschriften wie die hier streitigen, soweit sie einen Anspruch auf Zusatzleistungen verleihen, durch die die Einkünfte von Beziehern von Renten der sozialen Sicherheit, unabhängig von jeder Beurteilung der individuellen Bedürftigkeit und Verhältnisse, die für die Sozialhilfe kennzeichnend ist, erhöht werden sollen, zum System der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71.

11 Die Artikel L 815-2 und L 815-5 CSS sind mit dem in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 geregelten Gleichbehandlungsgrundsatz insofern unvereinbar, als sie die Gewährung der fraglichen Beihilfen an Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die in Frankreich wohnen, an die Voraussetzung knüpfen, daß zwischen diesen Staaten und Frankreich ein Gegenseitigkeitsabkommen geschlossen wurde und diese Personen vorher im Gebiet der Französischen Republik gewohnt haben.

12 Wie aus den Akten hervorgeht, stellt die französische Regierung nicht mehr in Abrede, daß die beanstandeten Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind. Sie macht indessen geltend, daß Artikel L 815-5 CSS aufgrund des ministeriellen Rundschreibens Nr. 1370 vom 5. November 1987 und im Anschluß an eine ministerielle Weisung an die Verwaltungsorgane in der Praxis nicht mehr auf Gemeinschaftsbürger angewendet und daß Artikel L 815-2 CSS wegen des Fehlens von Durchführungsdekreten tatsächlich nicht zur Anwendung komme.

13 Wie sich jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt, lässt die unveränderte Fortgeltung einer nationalen Regelung, die als solche mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, selbst dann, wenn der fragliche Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handelt, Unklarheiten tatsächlicher Art bestehen, weil die betroffenen Normadressaten bezueglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden. Diese Ungewißheit kann dadurch, daß es sich bei dem, was der Anwendung des nationalen Gesetzes entgegenstehen soll, um rein behördeninterne Verwaltungsanweisungen handelt, nur verstärkt werden (vgl. Urteil vom 4. April 1974 in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnrn. 41 und 42).

14 Nach alledem ist festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verstossen hat, daß sie Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in Frankreich wohnen und unter diese Verordnung fallen, die Leistung der sozialen Sicherheit nach den Artikeln L 815-2 und L 815-3 des neuen französischen Code de la sécurité sociale nur unter der Voraussetzung gewährt, daß ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht und daß diese Personen vorher in Frankreich gewohnt haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

15 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Französische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, verstossen, daß sie Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in Frankreich wohnen und unter diese Verordnung fallen, die Leistung der sozialen Sicherheit nach den Artikeln L 815-2 und L 815-3 des neuen französischen Code de la sécurité sociale nur unter der Voraussetzung gewährt, daß ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht und daß diese Personen vorher in Frankreich gewohnt haben.

2) Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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