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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 25.09.1997
Aktenzeichen: C-307/96
Rechtsgebiete: EWGV 1408/71, EWGV 1248/92


Vorschriften:

EWGV 1408/71 Art. 95a
EWGV 1248/92
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Zweck des Artikels 95a Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1248/92 geht hervor, daß die Anwendung der Bestimmungen der letztgenannten Verordnung auf Rentenansprüche, die vor dem 1. Juni 1992 entstanden sind, von einem ausdrücklichen Antrag des Betroffenen abhängt. Dem zuständigen Träger kann daher nicht gestattet werden, sich an die Stelle des Betroffenen zu setzen, insbesondere dann nicht, wenn sich die von Amts wegen vorgenommene Neufeststellung zu seinem Nachteil auswirkt.

Folglich hindert Artikel 95a der Verordnung Nr. 1408/71 den zuständigen Träger eines Mitgliedstaats daran, die in dieser Änderungsverordnung enthaltenen Berechnungsvorschriften von Amts wegen zum Nachteil des Betroffenen anzuwenden, wenn dessen Invaliditätsrente vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung am 1. Juni 1992 gemäß den bis dahin geltenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 festgestellt und der Bescheid über diese Rente nach dem 31. Mai 1992 berichtigt worden ist.


Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 25. September 1997. - Salvatore Baldone gegen Institut national d'assurance maladie-invalidité (INAMI). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal du travail de Bruxelles - Belgien. - Artikel 95a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 - Übergangsmaßnahmen - Erneute Feststellung einer Leistung von Amts wegen - Ansprüche von Personen. - Rechtssache C-307/96.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Brüssel hat mit Beschluß vom 5. September 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 29. September 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 95a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung (im folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 7; im folgenden: Änderungsverordnung), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Salvatore Baldone und dem Institut national d'assurance maladie-invalidité (INAMI) wegen des Bescheids, mit dem das INAMI eine Neuberechnung der Herrn Baldone ab 1. Juni 1992, dem Tag des Inkrafttretens der Änderungsverordnung, geschuldeten Leistung bei Invalidität vorgenommen hat.

3 Am 4. Mai 1970 wurde Herr Baldone in Belgien arbeitsunfähig. Da er nacheinander in Italien (169 Wochen), Deutschland (30 Monate) und Belgien (2 366 Tage) versichert gewesen war, wurden seine Ansprüche auf Leistungen bei Invalidität von den zuständigen Trägern in Italien, Deutschland und Belgien gemäß Artikel 40 der Verordnung Nr. 1408/71 geprüft und gemäß Artikel 46 dieser Verordnung festgestellt.

4 Das INAMI entschied am 13. September 1985 über die Höhe der belgischen Leistung; diese Leistung, die allein nach den belgischen Rechtsvorschriften festgestellt wurde, war gemäß diesen Rechtsvorschriften an die Änderungen der ausländischen Leistungen und die Entwicklung der Währungsparität angepasst worden.

5 Am 1. Oktober 1985 erhob Herr Baldone beim Tribunal du travail Brüssel Klage gegen den Bescheid des INAMI vom 13. September 1985 und machte geltend, daß die Höhe der Leistung nicht zutreffend berechnet worden sei. Während dieses Verfahrens berief er sich auf den im Urteil des Gerichtshofes vom 18. Februar 1993 in der Rechtssache C-193/92 (Bogana, Slg. 1993, I-755) aufgestellten Grundsatz, daß die insbesondere auf den Schwankungen der durchschnittlichen Wechselkurse oder der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der fraglichen Staaten beruhende Anpassung einer Leistung bei Invalidität nicht nach dem nationalen Recht, sondern gemäß Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 zu erfolgen hat.

6 Im Anschluß an dieses Urteil berichtigte das INAMI am 4. Mai 1994 die Höhe der Invaliditätsrente zugunsten von Herrn Baldone mit Wirkung vom 1. Oktober 1972 und teilte ihm den Berichtigungsbescheid mit. Das INAMI gewährte diese neu berechnete Leistung jedoch nur für die Zeit bis zum 31. Mai 1992. Für die Zeit danach setzte es die Höhe der Leistung gemäß den in der Änderungsverordnung enthaltenen neuen Vorschriften von Amts wegen herab. Diese Verordnung, durch die der Inhalt von Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 und damit die Art und Weise der Berechnung der Rentenleistungen geändert wurde, war nämlich für Herrn Baldone ungünstiger.

7 Am 30. Mai 1994 erhob Herr Baldone beim Tribunal du travail Brüssel eine neue Klage gegen den Berichtigungsbescheid vom 4. Mai 1994 und trug vor, daß das INAMI gegen den mit der Änderungsverordnung eingeführten Artikel 95a Absätze 4 bis 6 der Verordnung Nr. 1408/71 verstossen habe, als es die Rentenleistung von Amts wegen neu berechnet habe. Das INAMI vertritt dagegen die Ansicht, daß der Bescheid vom 4. Mai 1994, in dem die Rentenansprüche von Herrn Baldone erstmals zutreffend festgelegt worden seien, als ein neuer Bescheid über die Rentenbewilligung anzusehen sei, so daß gemäß Artikel 95a Absätze 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1408/71 die durch die Änderungsverordnung eingeführten Berechnungsvorschriften anzuwenden seien.

8 Der durch die Änderungsverordnung eingefügte Artikel 95a der Verordnung Nr. 1408/71 lautet wie folgt:

"Übergangsbestimmungen für die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1248/92

(1) Die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 begründet keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem 1. Juni 1992.

(2) Für die Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach der Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 werden sämtliche Versicherungs- oder Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Juni 1992 zurückgelegt worden sind.

(3) Vorbehaltlich des Absatzes 1 wird ein Leistungsanspruch nach der Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 auch für Ereignisse begründet, die vor dem 1. Juni 1992 liegen.

(4) Die Ansprüche von Personen, deren Rente vor dem 1. Juni 1992 festgestellt worden ist, können auf Antrag nach Maßgabe der Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 neu festgestellt werden.

(5) Wird der Antrag nach Absatz 4 innerhalb von zwei Jahren nach dem 1. Juni 1992 gestellt, so werden die Ansprüche aufgrund der Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 mit Wirkung von diesem Zeitpunkt an erworben, ohne daß den betreffenden Personen Ausschlußfristen oder Verjährungsfristen eines Mitgliedstaats entgegengehalten werden können.

(6) Wird der Antrag nach Absatz 4 erst nach Ablauf von zwei Jahren nach dem 1. Juni 1992 gestellt, so werden nicht ausgeschlossene oder nicht verjährte Ansprüche vorbehaltlich etwaiger günstigerer Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vom Tag der Antragstellung an erworben."

9 Da sich das Tribunal du travail Brüssel über die Auslegung dieser Bestimmung im Zweifel war, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der durch die Verordnung Nr. 1248/92 eingefügte Artikel 95a Absätze 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1408/71 so auszulegen, daß der Träger eines Mitgliedstaats, wenn er die Feststellung der Ansprüche eines Invaliden im Rahmen der Verordnungen nach dem 31. Mai 1992 vornimmt, für die Zeit bis zum 31. Mai 1992 die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 (insbesondere Artikel 46) in der durch die Verordnung Nr. 2001/83 kodifizierten Fassung und ab 1. Juni 1992 die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1248/92 anzuwenden hat?

2. Sind, wenn dies zu bejahen ist, die Bestimmungen in gleicher Weise anwendbar,

a) wenn der in Rede stehende Bescheid die erste Feststellung der Ansprüche des Versicherten im Rahmen der Verordnungen durch diesen Träger darstellt,

b) wenn ein erster, vor dem 1. Juni 1992 ergangener Bescheid die Ansprüche im Hinblick auf die Verordnungen nicht zutreffend festgestellt hat und nach dem 1. Juni 1992 durch einen Berichtigungsbescheid aufgehoben und ersetzt werden muß, der somit den ersten Bescheid darstellt, mit dem die Ansprüche im Rahmen der Verordnungen zutreffend festgestellt werden,

c) wenn ein erster, vor dem 1. Juni 1992 ergangener und im übrigen zutreffender Bescheid nach dem 1. Juni 1992 aufgehoben und ersetzt werden muß, weil ein anderer zuständiger Träger einen Berichtigungsbescheid erlassen hat?

3. Kann, falls die ersten beiden Fragen zu bejahen sind, die Neufeststellung der Leistung zum 1. Juni 1992 in Anbetracht des Umstands, daß die Verordnung Nr. 1248/92 die Artikel 118 bis 119a der Verordnung Nr. 574/72 nicht geändert oder ergänzt hat, um sie zum 1. Juni 1992 anwendbar zu machen, zur Folge haben, daß die geschuldete Leistung gegenüber dem am 31. Mai 1992 aufgrund der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Verordnungsbestimmungen geschuldeten Betrag herabgesetzt wird?

10 Mit seinen Vorlagefragen, die gemeinsam zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob der durch die Änderungsverordnung eingefügte Artikel 95a der Verordnung Nr. 1408/71 den zuständigen Träger eines Mitgliedstaats daran hindert, die in dieser Änderungsverordnung enthaltenen Berechnungsvorschriften von Amts wegen zum Nachteil des Betroffenen anzuwenden, wenn dessen Invaliditätsrente vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung am 1. Juni 1992 gemäß den bis dahin geltenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 festgestellt und der Bescheid über diese Rente nach dem 31. Mai 1992 berichtigt worden ist.

11 Artikel 95a Absätze 1 bis 3 der geänderten Verordnung Nr. 1408/71 ist nicht anwendbar, wenn die Leistung bei Invalidität vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung festgestellt worden ist.

12 Solche Fälle fallen vielmehr unter Artikel 95a Absätze 4 bis 6 der geänderten Verordnung Nr. 1408/71.

13 Diese Bestimmungen gelten für einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens. Der Umstand, daß die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats im Anschluß an eine falsche Berechnung der geschuldeten Leistung nach dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung eine Neuberechnung der Leistung und eine Berichtigung des geschuldeten Betrages vornehmen, kann nämlich nicht zur Entstehung eines neuen Anspruchs führen, sondern hat nur zur Folge, daß die Höhe der Leistung, auf die zuvor ein Anspruch erworben wurde, zutreffend ermittelt wird.

14 Artikel 95a Absatz 4 sieht ausdrücklich vor, daß die Ansprüche von Personen, deren Rente vor dem 1. Juni 1992 festgestellt worden ist, auf Antrag nach Maßgabe der Änderungsverordnung neu festgestellt werden können. Sodann werden in den Absätzen 5 und 6 die jeweils anzuwendenden Vorschriften festgelegt, wenn der Antrag innerhalb von zwei Jahren nach dem 1. Juni 1992 oder nach Ablauf dieser Frist gestellt wird.

15 Artikel 95a Absatz 4 soll es dem Betroffenen ermöglichen, die Neufeststellung der unter der Geltung der nicht geänderten Verordnung festgestellten Leistungen zu beantragen, wenn sich herausstellt, daß die Vorschriften der Änderungsverordnung für ihn günstiger sind, und weiterhin die nach den Bestimmungen der nicht geänderten Verordnung gewährten Leistungen zu erhalten, falls sie sich als für ihn vorteilhafter erweisen als die Leistungen nach der Änderungsverordnung.

16 Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Zweck des Artikels 95a Absatz 4 geht somit klar hervor, daß die Anwendung der Bestimmungen der Änderungsverordnung auf Rentenansprüche, die vor dem 1. Juni 1992 entstanden sind, von einem ausdrücklichen Antrag des Betroffenen abhängt. Dem zuständigen Träger kann daher nicht gestattet werden, sich an die Stelle des Betroffenen zu setzen, insbesondere dann nicht, wenn sich die von Amts wegen vorgenommene Neufeststellung zu seinem Nachteil auswirkt (in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 1976 in der Rechtssache 32/76, Saieva, Slg. 1976, 1523, Randnrn. 15 bis 17).

17 Die vom zuständigen Träger von Amts wegen vorgenommene Neufeststellung einer vor der Änderungsverordnung festgestellten Leistung bei Invalidität wäre nämlich geradezu die Negation des Initiativrechts, das Artikel 95a Absatz 4 ausschließlich dem Betroffenen zuerkannt hat.

18 Auf die Fragen des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, daß der durch die Änderungsverordnung eingefügte Artikel 95a der Verordnung Nr. 1408/71 den zuständigen Träger eines Mitgliedstaats daran hindert, die in dieser Änderungsverordnung enthaltenen Berechnungsvorschriften von Amts wegen zum Nachteil des Betroffenen anzuwenden, wenn dessen Invaliditätsrente vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung am 1. Juni 1992 gemäß den bis dahin geltenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 festgestellt und der Bescheid über diese Rente nach dem 31. Mai 1992 berichtigt worden ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der belgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Erste Kammer)

auf die ihm vom Tribunal du travail Brüssel mit Beschluß vom 5. September 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 95a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992, hindert den zuständigen Träger eines Mitgliedstaats daran, die in der Änderungsverordnung Nr. 1248/92 enthaltenen Berechnungsvorschriften von Amts wegen zum Nachteil des Betroffenen anzuwenden, wenn dessen Invaliditätsrente vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung am 1. Juni 1992 gemäß den bis dahin geltenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 festgestellt und der Bescheid über diese Rente nach dem 31. Mai 1992 berichtigt worden ist.

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