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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.11.1990
Aktenzeichen: C-308/89
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1612/68/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
VO Nr. 1612/68/EWG Art. 12
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 enthält eine allgemeine Regel, wonach jeder Mitgliedstaat im Bereich des Unterrichts verpflichtet ist, die Gleichbehandlung der Kinder der in seinem Hoheitsgebiet ansässigen Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, mit seinen eigenen Staatsangehörigen sicherzustellen. Deshalb muß, wenn ein Mitgliedstaat es seinen Staatsangehörigen ermöglicht, eine Beihilfe für eine Ausbildung im Ausland zu erhalten, das Kind eines EG-Arbeitnehmers dieselbe Vergünstigung erhalten, wenn es beschließt, ausserhalb des Aufnahmestaats zu studieren.

Dieser Auslegung steht nicht entgegen, daß der Auszubildende beschließt, Unterrichtsveranstaltungen in dem Mitgliedstaat zu besuchen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Weder das Wohnorterfordernis des Artikels 12 noch das Ziel der Verordnung Nr. 1612/68 rechtfertigt eine solche Begrenzung, die im übrigen zu einer anderen Form der Diskriminierung der Kinder von EG-Arbeitnehmern gegenüber den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats führen würde.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 13. NOVEMBER 1990. - CARMINA DI LEO GEGEN LAND BERLIN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: VERWALTUNGSGERICHT DARMSTADT - DEUTSCHLAND. - DISKRIMINIERUNGSVERBOT - KIND EINES EG-ARBEITNEHMERS - AUSBILDUNGSFOERDERUNG. - RECHTSSACHE C-308/89.

Entscheidungsgründe:

1 Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat mit Beschluß vom 11. September 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Oktober 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 12 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ( ABl. L 257, S. 2 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich aufgrund einer Klage der italienischen Staatsangehörigen Carmina di Leo gegen einen Bescheid, mit dem die zuständigen deutschen Behörden es abgelehnt hatten, ihr Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz ( BAföG ) zu gewähren, da die von ihr beantragte Ausbildungsförderung nur Deutschen im Sinne des Grundgesetzes und heimatlosen oder asylberechtigten Ausländern gewährt werde.

3 Nach der Fassung des BAföG, die in der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit galt, konnte Ausbildungsförderung für ein Studium ausserhalb des Hoheitsgebiets der Bundesrepublik Deutschland nur Deutschen im Sinne des Grundgesetzes, heimatlosen oder asylberechtigten Ausländern und Flüchtlingen gewährt werden. Aufgrund einer seit dem 1. Juli 1988 geltenden Änderung erhalten die Förderung auch Auszubildende, denen nach dem Gemeinschaftsrecht als Kindern von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats Freizuegigkeit gewährt wird oder die danach als Kinder verbleibeberechtigt sind. Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der EWG sind jedoch von der Förderung ausgeschlossen, wenn die Ausbildung in einem Staat durchgeführt wird, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

4 Wie sich aus den Akten ergibt, ist die Klägerin des Ausgangsverfahrens Tochter eines italienischen Wanderarbeitnehmers, der seit 25 Jahren als Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt ist. Sie hat die Grund - und die Oberschule in Gedern ( Bundesrepublik Deutschland ) besucht, wo sie auch ihren Hauptwohnsitz hat. Sie nahm wegen der bestehenden Zulassungsbeschränkungen im Fachbereich Medizin an deutschen Hochschulen ein Medizinstudium an der Universität Siena in Italien auf. Für dieses Studium wurde ihr die Ausbildungsförderung nach dem BAföG verweigert.

5 Das angerufene Gericht ist der Auffassung, die Rechtmässigkeit der Entscheidung der deutschen Behörden hänge möglicherweise davon ab, ob es Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 einem Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften die Förderung einer Ausbildung im Ausland vorsehen, gebietet, diese Förderung einer Person in der Lage der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu gewähren.

6 Deshalb hat das Verwaltungsgericht Darmstadt das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

Ist Artikel 12 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 so auszulegen, daß die unter den Wortlaut dieser Bestimmungen fallenden Kinder bei der Ausbildungsförderung nicht nur dann Inländern gleichzustellen sind, wenn die Ausbildung im Aufnahmestaat durchgeführt wird, sondern auch für den Fall, daß sie eine Ausbildung in einem Staat erhalten, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen?

7 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und der Vorgeschichte des Ausgangsverfahrens sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt, daß die Kinder eines EG-Arbeitnehmers unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen des Aufnahmelandes am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings - und Berufsausbildung teilnehmen können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen.

9 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß sich Artikel 12 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ( Urteil vom 15. März 1989 in den Rechtssachen 389/87 und 390/87, Echternach und Moritz, Slg. 1989, 723 ) nicht nur auf die Zulassungsbedingungen im eigentlichen Sinne bezieht, sondern auch auf die allgemeinen Maßnahmen, die die Teilnahme am Unterricht erleichtern sollen. Dazu hat der Gerichtshof namentlich ausgeführt, die Rechtsstellung als Kind eines EG-Arbeitnehmers habe insbesondere die Bedeutung, daß diese Kinder aufgrund des Gemeinschaftsrechts in den Genuß staatlicher Studienbeihilfen kommen müssten, damit sie in das soziale Leben des Aufnahmelandes integriert werden könnten. Daraus ergebe sich, daß Beihilfen, die zur Deckung der Ausbildungskosten und des Lebensunterhalts gewährt würden, den Kindern von EG-Arbeitnehmern unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufnahmelandes zustuenden.

10 Die Vorabentscheidungsfrage wirft jedoch das Problem auf, ob das Kind eines EG-Arbeitnehmers diesen Anspruch auf Gleichbehandlung im Bereich der Ausbildung auch dann geltend machen kann, wenn diese in einem anderen als dem Aufnahmestaat und insbesondere in einem Staat stattfindet, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt.

11 Dazu haben die Bundesregierung und in der mündlichen Verhandlung auch die niederländische Regierung vorgetragen, die in Artikel 12 vorgesehene Verpflichtung zur Gleichbehandlung binde einen Mitgliedstaat dann nicht, wenn die Kinder des Wanderarbeitnehmers zum Studium ins Ausland gingen, insbesondere, weil Artikel 12 seinem Wortlaut nach nur auf Kinder anwendbar sei, die im Hoheitsgebiet des Aufnahmelandes wohnten. Im übrigen sei es Sinn und Zweck des Artikels 12, die Integration des Arbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmeland zu fördern. Das Studium des Kindes eines EG-Arbeitnehmers in einem anderen Staat fördere jedoch seine Integration im Aufnahmeland nicht.

12 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Artikel 12 beschränkt sich seinem Wortlaut nach nicht auf Ausbildungsmaßnahmen innerhalb des Aufnahmelandes. Durch das Wohnorterfordernis des Artikels 12 soll nämlich die Gleichbehandlung hinsichtlich der in dieser Vorschrift genannten Vergünstigungen auf diejenigen Kinder von EG-Arbeitnehmern beschränkt werden, die im Aufnahmeland ihrer Eltern wohnen. Es bedeutet hingegen nicht, daß der Anspruch auf Gleichbehandlung davon abhängig wäre, wo das betreffende Kind am Unterricht teilnimmt.

13 Weiter ist darauf hinzuweisen, daß die Verwirklichung der von der Verordnung Nr. 1612/68 bezweckten Freizuegigkeit der Arbeitnehmer in Freiheit und Menschenwürde es erforderlich macht, die bestmöglichen Bedingungen für die Integration der Familie des EG-Arbeitnehmers im Aufnahmeland zu schaffen. Damit eine solche Integration gelingen kann, ist es unerläßlich, daß das Kind des EG-Arbeitnehmers, der mit seiner Familie im Aufnahmemitgliedstaat wohnt, die Möglichkeit hat, sein Studium unter den gleichen Bedingungen zu wählen wie das Kind eines Staatsangehörigen dieses Staates.

14 Darüber hinaus verpflichtet Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68, der vorsieht, daß ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen Vergünstigungen genießt wie die inländischen Arbeitnehmer, einen Mitgliedstaat, der den inländischen Arbeitnehmern die Möglichkeit bietet, eine in einem anderen Mitgliedstaat erteilte Ausbildung zu absolvieren, diese Möglichkeit auf die in seinem Hoheitsgebiet ansässigen EG-Arbeitnehmer zu erstrecken ( Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 235/87, Matteucci, Slg. 1988, 5589 ).

15 Derselbe Grundsatz muß für die Kinder der EG-Arbeitnehmer gelten, die unter Artikel 12 fallen. Dieser Artikel enthält nämlich ebenso wie Artikel 7 Absatz 2 eine allgemeine Regel, wonach jeder Mitgliedstaat im Bereich des Unterrichts verpflichtet ist, die Gleichbehandlung der Kinder der in seinem Hoheitsgebiet ansässigen Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, mit seinen eigenen Staatsangehörigen sicherzustellen. Deshalb muß, wenn ein Mitgliedstaat es seinen Staatsangehörigen ermöglicht, eine Beihilfe für eine Ausbildung im Ausland zu erhalten, das Kind eines EG-Arbeitnehmers dieselbe Vergünstigung erhalten, wenn es beschließt, ausserhalb des Aufnahmestaats zu studieren.

16 Dieser Auslegung steht nicht entgegen, daß der Auszubildende beschließt, Unterrichtsveranstaltungen in dem Mitgliedstaat zu besuchen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Weder das Wohnorterfordernis des Artikels 12 noch das Ziel der Verordnung Nr. 1612/68 rechtfertigt eine solche Begrenzung, die im übrigen zu einer anderen Form der Diskriminierung der Kinder von EG-Arbeitnehmern gegenüber den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats führen würde.

17 Aus all diesen Gründen ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen ist, daß die in dieser Vorschrift bezeichneten Kinder den Inländern hinsichtlich der Ausbildungsförderung nicht nur dann gleichgestellt werden müssen, wenn die Ausbildung im Aufnahmestaat stattfindet, sondern auch dann, wenn sie in einem Staat erfolgt, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der Bundesregierung, der niederländischen Regierung und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )

auf die ihm vom Verwaltungsgericht Darmstadt mit Beschluß vom 11. September 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Artikel 12 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist dahin auszulegen, daß die in dieser Vorschrift bezeichneten Kinder den Inländern hinsichtlich der Ausbildungsförderung nicht nur dann gleichgestellt werden müssen, wenn die Ausbildung im Aufnahmestaat stattfindet, sondern auch dann, wenn sie in einem Staat erfolgt, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

Ende der Entscheidung

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