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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 07.12.1990
Aktenzeichen: C-308/90 (1)
Rechtsgebiete: EAGV, Euratom-Vertrag, VO Nr. 3227/76


Vorschriften:

EAGV Art. 146
Euratom-Vertrag Art. 83
Euratom-Vertrag Art. 79
VO Nr. 3227/76 Art. 10
VO Nr. 3227/76 Art. 24
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 7. DEZEMBER 1990. - ADVANCED NUCLEAR FUELS GMBH GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - ENTSCHEIDUNG 90/413/EURATOM DER KOMMISSION VOM 1. AUGUST 1990 UEBER EIN VERFAHREN NACH ARTIKEL 83 EURATOM-VERTRAG UND DURCHFUEHRUNGSENTSCHEIDUNG C(90) 1707 DER KOMMISSION VOM 20. AUGUST 1990 - ANTRAG DER KOMMISSION AN DEN GERICHTSHOF AUF ANORDNUNG DES SOFORTIGEN VOLLZUGS DIESER ENTSCHEIDUNGEN. - RECHTSSACHE C-308/90.

Entscheidungsgründe:

1 Die Advanced Nuclear Füls GmbH mit Sitz in Lingen (Bundesrepublik Deutschland) hat mit Klageschrift, die am 6. Oktober 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 146 EAG-Vertrag Klage erhoben auf Aufhebung der Entscheidung 90/413/Euratom der Kommission vom 1. August 1990 über ein Verfahren nach Artikel 83 Euratom-Vertrag (ABl. L 209, S. 27) und der Entscheidung 90/465/Euratom der Kommission vom 20. August 1990 über die Bestellung der Personengruppe, die mit der Durchführung der Entscheidung 90/413/Euratom über ein Verfahren nach Artikel 83 Euratom-Vertrag (ABl. L 241, S. 14) beauftragt ist.

2 Artikel 83 Absätze 1 und 2 EAG-Vertrag lautet:

"1. Verletzen Personen oder Unternehmen die ihnen durch dieses Kapitel auferlegten Verpflichtungen, so kann die Kommission gegen sie Zwangsmaßnahmen verhängen.

Diese werden in folgenden Stufen verhängt:

a) Verwarnung;

b) Entzug besonderer Vorteile, wie finanzielle Unterstützung oder technische Hilfe;

c) Übertragung der Verwaltung des Unternehmens für eine Hoechstdauer von vier Monaten an eine Person oder eine Personengruppe, die im gemeinsamen Einvernehmen zwischen der Kommission und dem Staat, dem das Unternehmen untersteht, bestellt werden;

d) vollständiger oder teilweiser Entzug der Ausgangsstoffe oder besonderen spaltbaren Stoffe.

2. Die zur Durchführung des vorstehenden Absatzes erlassenen Entscheidungen der Kommission, die eine Herausgabeverpflichtung enthalten, sind vollstreckbar. Sie können in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Artikels 164 vollstreckt werden.

In Abweichung von Artikel 157 haben Klagen, die gegen die Entscheidungen der Kommission über die Verhängung der im vorstehenden Absatz vorgesehenen Zwangsmaßnahmen beim Gerichtshof erhoben werden, aufschiebende Wirkung. Der Gerichtshof kann jedoch auf Antrag der Kommission oder jedes beteiligten Mitgliedstaats die sofortige Vollstreckung der Entscheidung anordnen.

Der Schutz der verletzten Interessen ist durch ein angemessenes Rechtsverfahren zu gewährleisten."

3 Mit ihrer Klagebeantwortung und mit gesondertem Schriftsatz, die am 7. und am 15. November 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen sind, hat die Kommission gemäß Artikel 83 Absatz 2 Unterabsatz 2 Satz 2 EAG-Vertrag beantragt, die sofortige Vollstreckung der Entscheidungen 90/413 und 90/465 anzuordnen.

4 Mit der Entscheidung 90/413 übertrug die Kommission gemäß Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe c EAG-Vertrag die Verwaltung des Unternehmens Advanced Nuclear Füls GmbH für die Dauer von vier Monaten - ausschließlich was die im zweiten Titel des Kapitels VII EAG-Vertrag genannten Gesichtspunkte betrifft - einer amtlich bestellten Person oder Personengruppe. Mit der Entscheidung 90/465 bestellte die Kommission die Personengruppe, die mit der Wahrnehmung dieser Verwaltungsaufgabe in der Zeit vom 21. August 1990 bis zum 21. Dezember 1990 beauftragt ist.

5 Die Kommission erließ die Entscheidungen 90/413 und 90/465, nachdem ihr die Klägerin am 16. Mai 1990 mitgeteilt hatte, daß sie im Mai 1990 Kernmaterial von der Bundesrepublik Deutschland aus an ihre Muttergesellschaft Advanced Nuclear Füls mit Sitz in Richland, Vereinigte Staaten von Amerika, (im folgenden: "Firma ANF Richland") geliefert habe, ohne diese Ausfuhr zuvor gemeldet zu haben.

6 Diese Ausfuhr konnte infolge des Zusammentreffens unstreitiger Umstände durchgeführt werden, die in der Begründung der Entscheidung 90/413 wie folgt beschrieben werden:

"Am 8. Mai 1990 wurde eine Palette mit zwei Behältern, von denen jeder zwei Kästen enthielt, vom Lager zur Materialzufuhrschleuse des Werks transportiert, wo ihr ein Kasten mit auf 3,30 % angereicherten Urantabletten entnommen werden sollte.

Nach Ausführung dieser Arbeit wurde die Palette mit ihren zwei Behältern irrtümlich im Freien nahe dem Lagerplatz für Leergut abgestellt und dort vergessen. Die beiden Behälter der Palette enthielten jetzt nur noch drei Kästen. Einer enthielt 49,84 kg auf 2,70 % angereichertes Uranoxid (UO2), die beiden anderen enthielten 49,86 kg bzw. 47,29 kg auf 3,95 % angereichertes Uran.

Am Morgen des 11. Mai 1990 wurde die fragliche Palette bei der Zusammenstellung einer Sendung von 72 leeren Behältern für die Firma ANF Richland von einem anderen Beschäftigten irrtümlich auf den Lastwagen eines Speditionsunternehmens für normale Güter verladen.

Der mit dieser Arbeit beauftragte Beschäftigte stellte fest, daß die Behälter auf dieser Palette die gesetzlich vorgeschriebene Plakette zum Hinweis auf radioaktiven Inhalt trugen. Da er wegen ihrer Lagerung in diesem Bereich glaubte, die Behälter seien leer und zum Versand bestimmt, entfernte er die Plakette und ersetzte sie durch eine Leergutkennzeichnung. Um 19.00 Uhr desselben Tages wurde der Lastwagen am Flughafen Luxemburg-Findel entladen, und die Ladung wurde zum Lufttransport vorbereitet.

Am 12. Mai 1990 wurden die Behälter mit dem Frachtflugzeug nach Seattle (Vereinigte Staaten von Amerika) befördert, wo sie um 21.10 Uhr Ortszeit eintrafen.

Am 14. Mai 1990 wurden die Behälter auf der Strasse zur Firma ANF Richland weitertransportiert, wo sie am 15. Mai 1990 eintrafen.

ANF Lingen wurde am selben Tag von ANF Richland verständigt, nachdem man dort bei einer routinemässigen Dosisleistungsmessung festgestellt hatte, daß die beiden angeblich leeren Behälter Kernmaterial enthielten. Die sofortige Prüfung der Siegel ergab, daß den in diesen Behältern liegenden drei Kästen kein Material entnommen worden sein konnte.

Am 16. Mai 1990 meldete ANF Lingen den Vorfall der Direktion 'Sicherheitsüberwachung' der Kommission.

Am 17. Mai 1990 meldete ANF Lingen denselben Vorfall der Euratom-Versorgungsagentur."

7 Nach Ansicht der Parteien hatte zu keinem Zeitpunkt, auch nicht während des Transportvorgangs, eine radiologische Gefährdung des Betriebspersonals oder der Umwelt bestanden.

8 In Artikel 1 der Entscheidung 90/413 stellte die Kommission fest, daß die Klägerin "gegen Artikel 79 Euratom-Vertrag, näher ausgeführt in den Artikeln 10, 11 und 24 der Verordnung (Euratom) Nr. 3227/76 ((der Kommission vom 19. Oktober 1976 zur Anwendung der Bestimmungen der Euratom-Sicherungsmaßnahmen; ABl. L 363, S. 1)) und dem Code 3.1.2 der Entscheidung der Kommission vom 5. Juni 1985 über die besonderen Überwachungsbestimmungen, verstossen ((hat)), weil ((sie)) a) die vorherige Meldung einer Ausfuhr unterlassen hat, b) die Vorschriften zur Verbuchung von Bestandsveränderungen nicht beachtet hat, c) die Vorschriften zur Aufzeichnung von Betriebsdaten zum Nachweis von Änderungen der Menge und Änderungen der Zusammensetzung des Kernmaterials nicht beachtet hat". Im Anschluß an diese Feststellung ordnete die Kommission aufgrund des Artikels 83 EAG-Vertrag als Zwangsmaßnahme die Übertragung der Verwaltung des Unternehmens an eine amtlich bestellte Person oder Personengruppe an.

9 Zur Begründung ihres Antrags auf Anordnung der sofortigen Vollstreckung der Entscheidungen 90/413 und 90/465 trägt die Kommission vor, es müsse verhindert werden, daß es zur Wiederholung einer nicht gemeldeten Ausfuhr von Kernmaterial komme, zumal die Klägerin häufig Behälter befördern lasse und dies auch in Zukunft zu tun beabsichtige. Sie macht ferner geltend, die Übertragung der Verwaltung der Klägerin an Dritte in der Zeit vom 21. August 1990 bis zum 21. Dezember 1990 sei erforderlich, um unter Mitwirkung der Verwaltungsbeauftragten der Kommission ein computergestütztes Kontrollsystem erarbeiten zu können, wobei die aus der Anwendungspraxis des Systems gewonnenen Erfahrungen von entscheidender Bedeutung für den Bewertungsbericht seien, den diese Beauftragten ihr nach Artikel 3 Absatz 3 der Entscheidung 90/413 spätestens acht Tage nach Beendigung des Verwaltungsauftrags vorzulegen hätten.

10 Die Klägerin trägt vor, sie habe nicht nur die Kommission und die Euratom-Versorgungsagentur, sondern auch das niedersächsische Umweltministerium über den Sachverhalt der nicht gemeldeten Ausfuhr von Kernmaterial unterrichtet. Nach einer Inspektion auf ihrem Betriebsgelände in Lingen am 29. Mai 1990 hätten die Vertreter dieses Ministeriums eine Ergänzung der für den Betrieb ihrer Anlage in Lingen geltenden Sicherheitsvorschriften angeordnet. Dieser Anordnung sei sie nicht nur unverzueglich nachgekommen, sondern sie habe darüber hinaus von sich aus zusätzliche Maßnahmen getroffen, durch die verhindert werden solle, daß sich eine Ausfuhr, wie sie den Anlaß zu den Entscheidungen 90/413 und 90/465 gegeben habe, wiederhole. So habe sie entschieden, daß die entleerten Kästen als leer gekennzeichnet würden, bevor sie in die Transportbehälter eingeschoben würden, und daß die Dosisleistung bei jeder Verladung leerer Transportbehälter gemessen werde. Die Klägerin vertritt ausserdem die Ansicht, die Ausarbeitung und Anwendung eines computergestützten Kontrollsystems in Zusammenarbeit mit der Kommission habe nicht die Bedeutung, die die Kommission ihnen zumesse; dieses System sei schon seit Oktober 1990 fertig entwickelt und in Betrieb. Angesichts dessen hätte die Kommission zum Beispiel nach Artikel 81 EAG-Vertrag Inspektoren mit Überwachungsaufträgen in die Mitgliedstaaten entsenden können, statt die Zwangsmaßnahme der Übertragung der Verwaltung an Dritte zu verhängen.

11 Abschließend führt die Klägerin jedoch aus, sie trete der Fortsetzung der Vollstreckung der gegen sie verhängten Zwangsmaßnahme bis zur Beendigung der Viermonatsfrist nicht entgegen. Deshalb bedürfe es keiner ausdrücklichen Anordnung der sofortigen Vollstreckung der Entscheidungen 90/413 und 90/465 durch den Gerichtshof.

12 Zunächst ist festzustellen, daß sich die Parteien im wesentlichen über den Sachverhalt, wie er in der Begründung der Entscheidung 90/413 dargestellt ist, einig sind.

13 Ferner ergibt sich aus den Akten, daß die Klägerin ihr Unternehmen seit 1979 mit ca. 200 Mitarbeitern betreibt und seitdem mehr als 350 Urantransporte von der Firma ANF Richland erhalten hat, an die sie jeweils die entleerten Transportbehälter zurückgesandt hat. Bei keinem dieser Transporte ist ein Irrtum von der Art begangen worden, wie er der Klägerin mit der Entscheidung 90/413 zur Last gelegt wird.

14 Es ist jedoch festzustellen, daß die Klägerin auf die nicht gemeldete Ausfuhr von Dritten aufmerksam gemacht worden ist, ohne daß sie in der Zwischenzeit Kenntnis davon erlangt hatte, daß Kernmaterial von ihrem Betriebsgelände abhanden gekommen war sowie daß diese radioaktiven Stoffe sich in irrtümlich als leer gekennzeichneten Behältern befanden und unter Verstoß gegen die Sicherheitsmaßnahmen für Transporte von radioaktivem Material von der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinigten Staaten befördert worden waren.

15 Angesichts dessen ist anzuerkennen, daß die Maßnahmen zur Überwachung der Sicherheit des Betriebs der Anlage in Lingen, was die Klägerin auch nicht bestreitet, angemessen ergänzt werden müssen, um eine Wiederholung nicht gemeldeter Ausfuhren von Kernmaterial, insbesondere an die Firma ANF Richland, zu verhindern.

16 Im Hinblick darauf, daß die Klägerin diese Notwendigkeit bejaht hat, indem sie selbst zusätzliche Überwachungsmaßnahmen angeordnet hat, und daß sie sich der Fortsetzung der Verwaltung des Unternehmens durch Dritte während eines Zeitraums von vier Monaten nicht widersetzt, ist die sofortige Vollstreckung der Entscheidungen 90/413 und 90/465 bis zum Ablauf der Viermonatsfrist anzuordnen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen:

1) Die Entscheidung 90/413/Euratom der Kommission vom 1. August 1990 über ein Verfahren nach Artikel 83 Euratom-Vertrag und die Entscheidung 90/465/Euratom der Kommission vom 20. August 1990 über die Bestellung der Personengruppe, die mit der Durchführung der Entscheidung 90/413 vom 1. August 1990 über ein Verfahren nach Artikel 83 Euratom-Vertrag beauftragt ist, werden für sofort vollstreckbar erklärt.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 7. Dezember 1990.

Ende der Entscheidung

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