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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 18.12.1997
Aktenzeichen: C-309/96
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 40 Abs. 3
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Gerichtshof kann im Vorabentscheidungsverfahren dem vorlegenden Gericht nicht die Auslegungshinweise geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof sichert und die sich insbesondere aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergeben, wenn diese Regelung einen Fall betrifft, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt.

Dies trifft auf ein Regionalgesetz zu, durch das im Rahmen der Einrichtung eines Natur- und Archäologieparks zum Schutz und zur Erschließung der Umwelt und der Kulturgüter des betreffenden Gebietes das Eigentum beschränkt wird.

Zunächst lässt nämlich nichts darauf schließen, daß mit dem fraglichen Gesetz eine Durchführung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Landwirtschaft, der Umwelt oder der Kultur bezweckt wird. Ferner werden dem Gesetz andere als die unter die gemeinsame Agrarpolitik fallenden Ziele verfolgt und es ist allgemeiner Art. Da schließlich eine spezifische Gemeinschaftsregelung für die Enteignung fehlt und die Maßnahmen über die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte die Eigentumsordnung für landwirtschaftliches Eigentum unberührt lassen, betrifft das fragliche Gesetz gemäß Artikel 222 des Vertrages einen Bereich, der in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.


Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 18. Dezember 1997. - Daniele Annibaldi gegen Sindaco del Comune di Guidonia und Presidente Regione Lazio. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura circondariale di Roma - Italien. - Landwirtschaft - Natur- und Archäologiepark - Wirtschaftliche Tätigkeit - Schutz von Grundrechten - Unzuständigkeit des Gerichtshofes. - Rechtssache C-309/96.

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura Circondariale Rom, Aussenstelle Tivoli, hat mit Beschluß vom 9. September 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 23. September 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 40 Absatz 3 EG-Vertrag und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen D. Annibaldi (im folgenden: Kläger) einerseits und der Gemeinde Guidonia und der Region Latium andererseits über die Weigerung, dem Kläger eine Genehmigung für die Anpflanzung einer Obstplantage auf einem 3 ha grossen, in einem Regionalpark gelegenen Grundstück zu erteilen.

3 Durch Artikel 1 des Regionalgesetzes der Region Latium Nr. 22 vom 20. Juni 1996 (Supplemento ordinario Nr. 2 des Bollettino ufficiale della Regione Lazio Nr. 18 vom 1. Juli 1996, S. 3; im folgenden: Regionalgesetz) wurde der regionale Natur- und Archäologiepark Inviolata (im folgenden: Park) eingerichtet. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 dieses Gesetzes geschah dies zu dem Zweck, die Umwelt und die Kulturgüter des Gebietes zu schützen und zu erschließen.

4 Zur Verwirklichung dieser Ziele sehen die Artikel 7, 8 und 9 des Regionalgesetzes Verbote für eine Reihe von Tätigkeiten im Gebiet des Parks vor. Von diesen sind bestimmte Ausnahmen vorgesehen, die mit der Förderung der Ziele des Parks zusammenhängen und die in der Regel die Erteilung einer besonderen Genehmigung durch die Einrichtung Park voraussetzen. Artikel 7 des Regionalgesetzes untersagt u. a. Änderungen der Bebauung und Erdbewegungen (Buchstabe e), den Verkehr und das Abstellen von Kraftfahrzeugen (Buchstabe g), die Anlage neuer Strassen oder Durchgangswege (Buchstabe h) und alle Bauarbeiten (Buchstabe l).

5 Gemäß Artikel 9 Absatz 2 des Regionalgesetzes wird ein Teil der für die Verwaltung des Parks zur Verfügung stehenden Mittel zur Entschädigung der Einkommensverluste verwendet, die sich u. a. aus der Anwendung der Regeln über die Nutzung der forst- und landwirtschaftlichen Flächen des Parks ergeben.

6 Der Kläger ist Inhaber eines 65 ha grossen landwirtschaftlichen Betriebes namens "Prato Rotondo" in der Gemeinde Guidonia. Davon liegen 35 ha im Gebiet des Parks.

7 Mit Mitteilung vom 8. August 1996 versagte ihm der Bürgermeister der Gemeinde Guidonia als Verwalter des Parks die Genehmigung für die Anpflanzung einer Obstplantage auf einem 3 ha grossen Grundstück im Gebiet des Parks.

8 Da das Regionalgesetz nach Auffassung des Klägers im wesentlichen eine Enteignung ohne Gewährung einer Entschädigung regelt, erhob er am 26. August 1996 bei der Pretura Circondariale Rom Klage gegen die genannte versagende Entscheidung. Er machte geltend, das Regionalgesetz verstosse gegen den EG-Vertrag, insbesondere gegen seine Artikel 40 und 52, gegen allgemeine Rechtsgrundsätze u. a. zum Eigentum, zum Betrieb und zur Gleichbehandlung durch die nationalen Behörden und gegen die italienische Verfassung.

9 Die Pretura Circondariale Rom ist der Auffassung, daß der Rechtsstreit Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwerfe. Sie hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1. Verletzt eine Vorschrift des nationalen Rechts, die den Betrieben, die in das Gebiet eines Natur- und Archäologieparks einbezogen sind, jede Art von Tätigkeit in diesem Gebiet untersagt und dadurch im Grunde eine Enteignung der in den Park einbezogenen Betriebe bewirkt, ohne irgendeine Entschädigung für die enteigneten Personen vorzusehen, die Grundrechte, die mit dem Eigentum, dem Betrieb und der Gleichbehandlung durch die nationalen Behörden zusammenhängen?

2. Unbeschadet der Antwort auf die erste Frage: Verstossen die in Artikel 7 des streitigen Regionalgesetzes (das hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Beurteilung mit jeder anderen nationalen Vorschrift gleichgesetzt werden kann) vorgesehenen Maßnahmen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und das entsprechende Diskriminierungsverbot gemäß Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 des Vertrages von Rom?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

10 Nach Auffassung der Region Latium und der Kommission ist der Gerichtshof für die Entscheidung über die Vorlagefragen nicht zuständig, da das Regionalgesetz nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle.

11 Der Kläger ist dagegen der Ansicht, der Gerichtshof könne in Beantwortung entsprechender Vorlagefragen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts entwickeln.

12 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. u. a. Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnr. 33) gehören die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Dabei lässt sich der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Hierbei hat die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (im folgenden: Konvention) eine besondere Bedeutung. Wie der Gerichtshof ebenfalls bereits entschieden hat, ergibt sich daraus, daß in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 41).

13 Wie sich weiter aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt (vgl. u. a. Urteil vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629, Randnr. 15), hat der Gerichtshof, wenn eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, dem vorlegenden Gericht im Vorabentscheidungsverfahren alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof sichert und die sich insbesondere aus der Konvention ergeben. Dagegen besitzt er diese Zuständigkeit nicht hinsichtlich einer Regelung, die nicht in den Bereich des Gemeinschaftsrechts fällt.

14 Es ist also zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie das Regionalgesetz, durch das ein Natur- und Archäologiepark zum Schutz und zur Erschließung der Umwelt und der Kulturgüter des betreffenden Gebietes eingerichtet wird, unter das Gemeinschaftsrecht, insbesondere unter Artikel 40 Absatz 3 des Vertrages, fällt.

15 Artikel 2 EG-Vertrag beschreibt die Aufgabe und die in Artikel 3 aufgeführten Ziele der Gemeinschaft (vgl. u. a. Urteil vom 1. Februar 1996 in der Rechtssache C-177/94, Perfili, Slg. 1996, I-161, Randnr. 10). Gemäß Artikel 3 Buchstaben e und k EG-Vertrag umfasst die Tätigkeit der Gemeinschaft eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft und der Umwelt.

16 Artikel 128 EG-Vertrag sieht ein Tätigwerden der Gemeinschaft im Bereich der Kultur vor, u. a. zur Erhaltung und zum Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung (Absatz 2 zweiter Gedankenstrich).

17 Gemäß Artikel 222 EG-Vertrag lässt dieser Vertrag "die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt".

18 Nach Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EG-Vertrag hat die im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik zu schaffende gemeinsame Organisation der Agrarmärkte "jede Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft auszuschließen". Dieses Diskriminierungsverbot ist nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, der zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört (vgl. u. a. Urteile vom 25. November 1986 in den verbundenen Rechtssachen 201/85 und 202/85, Klensch, Slg. 1986, 3477, Randnr. 9, und vom 24. März 1994 in der Rechtssache C-2/92, Bostock, Slg. 1994, I-955, Randnr. 23).

19 Insbesondere gilt Artikel 40 Absatz 3 EG-Vertrag für alle Maßnahmen, die die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte betreffen, unabhängig davon, welche Behörde sie erlässt. Sie ist deshalb auch für die Mitgliedstaaten verbindlich, wenn diese die Marktorganisation durchführen (vgl. u. a. Urteil Klensch, a. a. O., Randnr. 8, und Urteil vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-351/92, Graff, Slg. 1994, I-3361, Randnr. 18).

20 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteile vom 1. April 1982 in den Rechtssachen 141/81, 142/81 und 143/81, Holdijk u. a., Slg. 1982, 1299, Randnr. 12, und vom 6. Oktober 1987 in der Rechtssache 118/86, Nertsvöderfabriek Nederland, Slg. 1987, 3883, Randnr. 12) bewirkt die Schaffung einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte gemäß Artikel 40 des Vertrages nicht, daß die landwirtschaftlichen Erzeuger jeder nationalen Regelung entzogen sind, die andere Ziele als die gemeinsame Organisation verfolgt, die aber, weil sie sich auf die Produktionsbedingungen auswirkt, Umfang und Kosten der nationalen Produktion und damit das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes in diesem Sektor beeinflussen kann. Das Verbot jeder Diskriminierung zwischen den Erzeugern innerhalb der Gemeinschaft, das in Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 des Vertrages ausgesprochen wird, bezieht sich auf die mit der gemeinsamen Organisation verfolgten Ziele und nicht auf die unterschiedlichen Produktionsbedingungen, die sich aus einzelstaatlichen Regelungen allgemeiner Art ergeben, mit denen andere Ziele verfolgt werden (Urteil Holdijk u. a., a. a. O., Randnr. 12).

21 Unter diesen Umständen lässt im vorliegenden Fall nichts darauf schließen, daß mit dem Regionalgesetz eine Durchführung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Landwirtschaft, der Umwelt oder der Kultur bezweckt wurde.

22 Ferner kann das Regionalgesetz zwar das Funktionieren einer gemeinsamen Agrarmarktorganisation mittelbar beeinflussen, doch ist unstreitig, daß mit ihm andere als die unter die gemeinsame Agrarpolitik fallenden Ziele verfolgt werden, da der Park zum Schutz und zur Erschließung der Umwelt und der Kulturgüter des betreffenden Gebietes eingerichtet wurde, und daß dieses Regionalgesetz allgemeiner Art ist.

23 Da schließlich eine spezifische Gemeinschaftsregelung für die Enteignung fehlt und die Maßnahmen über die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte die Eigentumsordnung für landwirtschaftliches Eigentum unberührt lassen, betrifft das Regionalgesetz gemäß Artikel 222 des Vertrages einen Bereich, der in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.

24 Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts betrifft demnach eine nationale Regelung wie das Regionalgesetz, durch das ein Natur- und Archäologiepark zum Schutz und zur Erschließung der Umwelt und der Kulturgüter des betreffenden Gebietes eingerichtet wird, einen Sachverhalt, der nicht unter das Gemeinschaftsrecht fällt.

25 Der Gerichtshof ist daher für die Beantwortung der Fragen der Pretura Circondariale Rom nicht zuständig.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Erste Kammer)

auf die ihm von der Pretura Circondariale Rom, Aussenstelle Tivoli, mit Beschluß vom 9. September 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der Fragen der Pretura Circondariale Rom nicht zuständig.

Ende der Entscheidung

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